Reiseliteratur-Bildbände REZENSIONEN |
Vom Phänomen des Nichtreisens
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Wladimir Kaminer |
Russischer Jude, Russe mit
deutscher Staatsangehörigkeit |
Die Reise nach Trulala |
Manhattan Verlag, München 2002, 188 S.
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Als Die Reise nach Trulala erschien, dachte ich, Wladimir Kaminer
schreibt schneller, als andere Semmeln backen. Doch bei seiner
Veranstaltung im Pankower Jüdischen Waisenhaus korrigierte er alle, die
so oder ähnlich denken: "Nicht, dass Sie glauben, ich schreibe alle
sechs Monate ein Buch. Die Reise nach Trulala habe ich zum
Beispiel eineinhalb Jahre nachdem das Manuskript fertig war, noch einmal
völlig umgearbeitet." Womit Kaminer seine vor einigen Jahren leichtfertig
dahin geplauderte Bemerkung "Ich habe keine großen literarischen
Ansprüche." Gott sei Dank berichtigt hat.
In Die Reise nach Trulala lässt der Autor fast immer andere
reisen, er selbst bleibt lieber daheim - das Phänomen des Nichtreisens
lobend, dass (angeblich) auch bildet. Seine Geschichten über "Paris",
Amerika, die Krim, Dänemark und Sibirien sind köstlich, kurios, komisch,
auch tiefgründig, auch doppelsinnig. Man weiß nie ganz genau, was wahr
ist, was ausgedacht. Unternommen werden die Reisen von Freunden und
Verwandten, nur nach Dänemark reist der Autor selbst. Nach Paris, das
Paris gar nicht ist, reist Onkel Boris, der nach vielen Jahren der
kasachischen Verbannung von der sowjetischen Regierung mit einer
Flugreise nach Paris ausgezeichnet wird, und dessen größter Wunsch es
ist, sich auf dem Eifelturm zu besaufen. Unbedingt auf die Krim will Kaminers Freund Martin. Kaminer stattet ihn mit vielen guten Ratschlägen
aus und Joseph Beuys´ angeblicher unehelicher Sohn nasführt im Krim-Dorf
Torlala/Trulala ("Ort der Geborgenheit" ) Martin und die anderen Touristen.
Wahrhaftig, es gibt einen unverwechselbaren kamineresken Humor,
von dem man als Leser nicht genug kriegen kann. Doch es irrt Kaminer,
wenn er über die Krim schreibt: "Mit der Auflösung der Sowjetunion wurde
das Land wie eine Torte aufgeteilt, der damalige russische Präsident
Jelzin hatte wahrscheinlich nicht richtig aufgepasst: Plötzlich war die
Krim weg." Die Krim gehörte nur bis 1954 zu Russland, ab dann bereits
zur Ukraine; böse Zungen behaupten seitdem, sie sei Chruschtschow geschenkt worden.
Erstaunlich oder nicht, Kaminer wurde in relativ kurzer Zeit zu einem
der erfolgreichsten Schriftsteller Deutschlands (Gerade wurde in
Göttingen ein Theaterstück von ihm aufgeführt: "Maria - Wiedersehen in
der Russendisko".), der "mehr als genug"
verdient: "Ich und einige ´Kollegen werden geradezu mit Aufträgen zugemüllt, während andere, manchmal sogar kompetentere, leer ausgehen."
2002 erhielt Kaminer den Ben Witter Preis, dotiert mit 15 500 Euro, "für
seinen genauen Blick auf Befindlichkeiten in diesem Lande, auf Deutsches und allzu Deutsches".
1990 war Wladimir Kaminer mehr oder weniger ungeplant als russischer
Jude in die DDR gekommen, dreiundzwanzig Jahre alt, als einer von fast einer Million aus der
Sowjetunion und der GUS emigrierter Juden, von denen die meisten
nach Israel und die Vereinigten Staaten gingen, nur etwa 35 000 kamen
nach Deutschland. Damals kaum ein Wort deutsch sprechend, schreibt Kaminer heute seine Bücher auf Deutsch - das er bei Vietnamesen gelernt
hat, wie er gerne erzählt - und liest sie vor ausverkauften
Häusern und auf CD´s deutsch selber vor. Unverkennbar seine "russische"
Stimme, mit ein bisschen Akzent, wie angenehm... Sogar im
Inhaltsverzeichnis von Die Reise nach Trulala fällt auf, wie
geschickt Kaminer am deutschen Wort bastelt: Verfehltes Paris,
Verdeckung Amerikas, Verschollen auf der Krim, Verlaufen
in Dänemark, Verdorben in
Sibirien... Alle Texte dieses Buches
sind stilistisch ausgefeilt, nicht mehr so ansatzweise flüchtig wie bei
"Russendisko" und "
Militärmusik".
Wie immer las Kaminer zum Abschluss seiner Buchlesung aus einem noch
unveröffentlichten Manuskript, diesmal die Geschichte "München in
Berlin", in der von Stoibers Zauberbrille die Rede ist, mit der er auf
dem Wahlplakat zur Bundestagswahl 2002 "durch seine Freundin und
Mitstreiterin Merkel hindurch zu schauen vermag"...
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Gisela Reller
/ www.reller-rezensionen.de |
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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
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Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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