Belletristik REZENSIONEN |
Von Samenklau und teuren Ausflügen ins verstrahlte Tschernobyl
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Andrej Kurkow |
Russe |
Herbstfeuer
Erzählungen
Aus dem Russischen von Angelika Schneider
Diogenes Verlag, Zürich 2007, 234 S.
(Rezensiert, entsprechend dem
Gästebuch-Eintrag von Horst F. Pfeiffer.)
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Der 1961 in Leningrad (heute:
(St.Petersburg) geborene
russisch schreibende Romancier und Drehbuchautor Andrej Kurkow ist der im Westen meistverkaufte
russische Autor. Ich finde jedoch, dass sein erstes auf Deutsch erschienenes zauberhaftes Buch
Picknick auf dem Eis"
- mit Pinguin Mischa im Mittelpunkt - von seinen nachfolgenden Romanen "Petrowitsch",
"Ein Freund des Verblichenen",
"Pinguine frieren nicht" und
"Die letzte Liebe des Präsidenten"
qualitativ nicht erreicht wird.
Nach diesen fünf Romanen erscheinen nun erstmals in Deutsch (acht)
Erzählungen von Kurkow. Alle Geschichten sind in der
Ukraine
angesiedelt, dem Land, das durch die Orangene Revolution auch ins
deutsche Blickfeld gerückt ist. Wie die berühmten Ukrainer Nikolai
Gogol und Michail
Bulgakow ist Kurkow ein
Meister des Absurden und Skurrilen. In der Titelerzählung von Herbstfeuer verbrennt
Oma Olja zusammen mit dem Herbstlaub die Leiche ihres Mannes, mit dem
sie dreißig öde Jahre verbracht und den sie versehentlich mit einer
Heugabel erstochen hat. "Nichts änderte sich" nach dem grausigen Mord,
schreibt Kurkow, "das Leben ging genau so weiter wie bisher." Nicht
ganz ist anzumerken, denn der jahrelange vertrocknete Aprikosenbaum,
unter dem Oma Olja ihren getöteten Mann verscharrte, fängt wieder
zu blühen an... - In "Ein merkwürdiger Diebstahl" wird unter Zuhilfenahme eines Präservativs einem
Mann sein Sperma gestohlen, um diesem Mann später eine
Vaterschaftsklage anhängen zu können. Ein Detektiv, der den Samenklau
aufdecken soll, wird zum Schluss selbst mit einer Vaterschaftsklage
bedroht. "Langsam ging im Land eine Umschichtung der Gesellschaft vor
sich, und wir fühlten uns schon fast als (...) die
Schicht, die mit wachem Geist dem unterentwickelten postsowjetischen
Staat in eine gesunde kapitalistische Gesellschaft verwandeln
würde..." - In "Forelle à la tendresse" erhält ein junger Mann
eine geheimnisvolle Einladung zum
mehrtägigen Dinner und verspeist mit dem wohlschmeckenden Essen die
Asche seines Vaters.- "In Weihnachtsüberraschung" kann man - organisiert von einer Instanz für
Extrem-Tourismus - für 120 Dollar Ausflüge ins verstrahlte
Tschernobyl
unternehmen. Die Aufenthalte sollen den
Neuen Russen etwas bieten, das sie noch nicht
kennen.- In einer anderen Erzählung schildert ein toter Schriftsteller als Ich-Erzähler seine
Lebensgeschichte und erklärt, wie es zu seinem Grabstein mit zwei
Namen kam, einen für sich und eine für seine (Spender-)Leber, die von
einem ermordeten Parlamentskandidaten stammt. - In "Bloß keine
Höhenangst" schafft es per absonderlicher Telefonzelle ein junger verliebter Mann im Diesseits
mit seiner Freundin im Jenseits zu telefonieren...
Andrej Kurkow hat (wie Alexander
Ikonnikow) ein Faible für
Eigeninitiativen, und seien sie noch so abwegig. Auch die neue
Machenschaft der Verbrecherwelt führt Kurkow vor, den Organhandel.
Kurkows Helden sind meist keine großen Tiere, sondern einfache
Menschen, die sich in der modernen Welt der postsozialistischen
Gesellschaft mit Korruption, Erpressung,
Betrug, Mord und Totschlag irgendwie einrichten müssen.
Den meisten russischen und ukrainischen Autoren fehlen Witz und Humor
(leider auch den meisten Krimischriftstellern); Andrej Kurkow hat
beides im Übermaß. Meist jedoch sind Witz und Humor bei ihm schwarz,
er weiß den Leser immer wieder mit seinen bös-komischen Pointen
zu überraschen. "Normalerweise bin ich Optimist", sagte Andrej Kurkow
anlässlich einer Buchlesung, "aber ein schwarzer Optimist. Und doch
glaube ich, dass am Ende alles gut wird, aber man muss warten können."
So schwarz Kurkows Humor oft ist, die Realität ist oft noch schwärzer.
Inzwischen kann man tatsächlich gewagte Ausflüge nach
Tschernobyl unternehmen - ganz offiziell.
Und: Wird in Kurkows Roman "Die letzte Liebe des Präsidenten" ein
Giftanschlag auf den ukrainischen Präsidenten verübt, so wird kein
Jahr später tatsächlich versucht, den Politiker Viktor Juschtschenko
mit Dioxin zu vergiften. Sogar der russische Geheimdienst ist schon auf Kurkows
"Anleitungen zum Handeln" aufmerksam geworden. Doch Kurkow bleibt
gelassen: "Giftmörder lesen Fachliteratur und keine Romane."
"Andrej Kurkow", schreibt "Die Welt", "hat diese gewissen Nebensätze,
die so lakonisch sind, dass man von ihm sogar die Gebrauchsanweisung
eines Rasenmähers lesen würde." Tatsächlich?
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
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Am 31.03.2008 ins Netz gestellt. Die Letzte Bearbeitung
erfolgte am 22.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Aus einem klugen Kopf kommen keine leeren Worte. |
Sprichwort der Ukrainer |
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