Belletristik REZENSIONEN

"Man kann immer etwas machen!"

Russin
Durch die brennende Steppe
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 206 S.

Jelena Koschina ist acht Jahre alt, als die Mutter, die Großmutter, der zehnjährige Vadik und die dreijährige Tanjetschka 1941 vor den deutschen Truppen aus dem hungernden Leningrad fliehen. Nach monatelanger Fahrt in einem vergitterten Güterwagen kommen sie in Kuschtewka, einem ukrainischen Dorf, das von Kosaken bewohnt ist, nur zu zweit an. Die Großmutter, der Bruder und das kleine Schwesterchen sind unterwegs qualvoll gestorben. Nicht nur, dass Mutter und Tochter hier mit anderen evakuierten Leningradern in einer äußerst beengten kalten Hütte Unterkunft finden, sind ihnen auch die Kubankosakinnen eher feindlich gesinnt. Für sie sind die Leningrader wie die Bolschewiken, die ihnen das Kolchossystem eingebracht haben; die Deutschen hingegen werden sie am 31. Juli 1942, als ihr Dorf besetzt wird, mit Brot und Salz empfangen, weil diese versprechen, ihnen das Land als Eigentum wieder zurückzugeben.

Bücher mit einer ähnlichen Thematik gibt es viele. Was dieses Buch außergewöhnlich macht, ist die Darstellung der allmählichen menschlichen Annäherung zwischen den geflüchteten Leningradern und den meist schweigsamen, schwer zugänglichen Kosakinnen. Vor allem aber ist es die Gestalt der Mutter von Jelena Koschina, die den Leser bewegt. "Mama war sanfter und schüchterner als die meisten Menschen, denen man so begegnet", schreibt Jelena Koschina. "Und nur, wenn das Schicksal jäh und erbarmungslos zuschlug, erwachte in ihr eine hartnäckige, vor nichts zurückweichende Stärke." Der tapferen Mutter gelingt es, ein harmonisches Zusammenleben mit den anderen Evakuierten zu gestalten, ihr ist es zu verdanken, dass sich die Kosakinnen den evakuierten Russinnen gegenüber aufschließen, sie heilt Jelena von ihren Depressionen, lehrt sie, die Schönheit der Steppe zu empfinden, durch ihre Mutter erkennt Jelena, dass die Literatur ein Überlebensmittel sein kann. Sagen alle anderen "Was können wir machen!", so ist die Lebensmaxime dieser menschlich so imponierenden Mutter "Man kann immer etwas machen!" Ihrer unerschütterlichen Tatkraft, ihrer Phantasie, ihrer Zivilcourage, ihrer Weisheit, ja Weisheit, ist es zu danken, dass trotz der unsäglichen Lebensbedingungen keine Verzweiflung um sich greift; denn nicht Hunger und Kälte, das weiß sie, sind die größte Gefahr für Leib und Leben, sondern Hoffnungslosigkeit und Lethargie.

Jelena Koschina ist 1933 in Moskau geboren, in Leningrad aufgewachsen, und war von 1962 bis 1980 als Kuratorin in der Leningrader Eremitage tätig. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie in die USA, lebt heute in New York. Mit diesem autobiographischen Buch hat sie weniger sich selbst als viel mehr ihrer bewundernswerten Mutter ein Denkmal gesetzt.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 22.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Ein Leben ohne Liebe ist wie ein Jahr ohne Frühling.
Sprichwort der Russen

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