Sachbuch REZENSIONEN

Mit Großvaters Biberpelz

Deutscher; über die Sowjetunion und Russland
Mit Gott und langen Ungerhosen
Erlebnisse eines Diplomaten in der Zeit des Kalten Krieges
Mit 110 Abbildungen
edition q, Berlin 2003, 295 S.

Andreas Meyer-Landrut* wurde in Reval, dem heutigen Tallinn (Estland), geboren. 1939 wurde er wie alle Deutschen mit der Familie aus dem Baltikum ins besetzte Polen, dem so genannten Warthegau "umgesiedelt". Im Januar 1945 schickte der Vater seine Frau und die beiden Kinder in Richtung Westen, schließlich landete Meyer-Landrut in Westdeutschland...

Vier Jahrzehnte, von 1955 bis 1994, war Dr. Meyer-Landrut im Auswärtigen Dienst tätig - davon mehr als zwölf Jahre in Moskau, zunächst als Botschaftssekretär und später als Presseattaché der (West)Deutschen Botschaft, danach von 1980 bis 1983 sowie von 1987-1989 als Botschafter. Und so stehen denn auch seine Sowjetunion-Erlebnisse, von der Ära Chruschtschow bis zur Ära Putin im Mittelpunkt des Buches.

Als  Achtundzwanzigjähriger war Meyer-Landrut im März 1957 im Rahmen seiner Attaché-Ausbildung an die gerade eröffnete (West)Deutsche Botschaft versetzt worden. Als er gen Osten aufbrach, gab ihm ein Freund den wohlgemeinten Rat mit auf den Weg: "Reisen Sie mit Gott und langen Unterhosen." Tatsächlich reiste er im Biberpelz seines Großvaters. Richtig humorvoll ist - trotz gelegentlicher Witzchen und Anekdoten - tatsächlich nur der Buchtitel. Ansonsten kommt Mit Gott und langen Unterhosen an vielen Stellen in sehr trockenem Diplomatendeutsch daher. Dennoch ist das Buch inhaltlich interessant, denn Meyer-Landrut kannte sie alle - ist neben Breshnew im Schwarzen Meer geschwommen, hat Helmut Schmidt über die Rezeption der Reaganschen Politik in Moskau unterrichtet und Franz Josef Strauß vorm Ausrutschen auf dem Glatteis an der Kreml-Mauer bewahrt. Meyer-Landrut war ein enger Weggefährte des langjährigen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, er war dabei, als Michail Gorbatschow im Sommer 1989 in der DDR für seine Perestroika-Politik gefeiert wurde und als der trunkene Jelzin in Berlin den Taktstock schwang, um eine russische Melodie der Polizeikapelle zu Ende zu dirigieren; laut Namensregister tauchen im Buch mehr als vierhundertdreißig Personen auf...

Breiten Raum nehmen in seinem "Erinnerungsbuch", wie er es selbst nennt, auch die Pferde und der Reitsport ein. Besonders gern erinnert sich der "Pferdenarr", der nach Stationen in Tokio und dem Auswärtigen Amt 1966 erneut als Presseattaché an die Botschaft in Moskau geschickt wurde, an die Moskauer Rennbahn, sowie an die Gestüte am Don, wo er ausgedehnte Ausflüge zu Pferd unternehmen konnte - immer natürlich unter dem wachsamen Auge des KGB. Am lebendigsten erzählt Meyer-Landrut von Pferden, den Achaltekinern und Orlow-Trabern, und vom Moskauer Theater- und Konzertleben. In der Deutschen Welle (vom 31. Oktober 2003) hörte ich sagen, dass Meyer-Landrut nicht zu jenen grauen Eminenzen zählt, die bescheiden im Hintergrund die Fäden ziehen. "Er fühlt sich auch auf der großen politischen oder gesellschaftlichen Bühne wohl, liebt das Licht der Scheinwerfer, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit." Diese Freude an der Selbstdarstellung, so die Deutsche Welle - tue dem Buch gut. "Es macht es ehrlich." Zugegeben, im Text stört die Selbstdarstellung (fast) nicht, wohl aber bei den Bildern, auf denen - und sei es im Spiegel oder an den Rand gequetscht - Meyer-Landrut nur selten fehlen darf.

Auf Seite 70 schildert Meyer-Landrut eine Episode, wie seiner Frau der Blinddarm herausgenommen werden sollte, obwohl sie längst operiert war. Genau dieselbe Geschichte hatte ich 1964 in Kiew erlebt. Ich lag schon auf der Trage zum Abtransport ins Krankenhaus, als es mir endlich gelungen war, den ukrainischen Arzt davon zu überzeugen, dass "meine so kleine Narbe" von einer bereits durchgeführter Blinddarmoperation stammte. Eine besonders schöne und typisch russische Geschichte ist im Buch die mit dem Schneeglöckchen: Im Sommergarten von Petersburg hatte, wie 1859 festgestellt wurde, Tag und Nacht ein Posten an unerklärlicher Stelle Wache gehalten. "Als der damalige Zar Alexander II. einmal fragte, was es dort denn zu bewachen gäbe, musste nachgeforscht werden, weil keiner der Höflinge eine Antwort parat hatte. Schließlich löste sich das Rätsel: Katharina der Großen war hundert Jahre (!) zuvor im Park ein früh erblühtes Schneeglöckchen aufgefallen. Damit es nicht abgerissen würde, beorderte sie einen Wachtposten dorthin..."

Gut, dass Meyer-Landrut seine Tagebücher aufgehoben hat; denn sonst hätten wir kein so detailgetreues Buch zu lesen bekommen: über seine Kindheit in Estland, über Flucht und Vertreibung, über seine Diplomaten-Laufbahn. Und so kann man lesen, wie er (am 16. April) 1957 über die Russen als unhöfliche, unflätige Menschen schreibt, die der Atheismus zu entsetzlichen Rüpeln gemacht habe. Sie alle sähen aus, als seien sie direkt aus Dostojewskis Büchern ins Leben getreten: betrunken, uniformiert, grau und griesgrämig. "Warum bloß sind sie so häßlich?" Ist man am Anfang des Buches befremdet von den hochnäsigen Äußerungen, so erfreut die Wandlung des Autors zu einem umsichtigen Diplomaten, der nach langjährigem Aufenthalt für Russland und seine Menschen echte Herzlichkeit empfindet. Schade, ich hätte gern mehr gewusst über Meyer-Landruts Privatleben. Was zum Beispiel hat es mit seiner zweiten Frau auf sich, die Natascha heißt?

Der promovierte Slawist, Soziologe und Osteuropa-Historiker war nicht einfach nur Zeitzeuge, er hat die Geschichte mitgeschrieben - von den kältesten Tagen des Kalten Krieges bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Er war Mittler und Diplomat, sehr auf gute Beziehungen bedacht - zu Politikern genauso wie zu Musikern, Schriftstellern, Malern und Schauspielern. Er hielt Kontakte zu Regimetreuen ebenso wie zu Andersdenkenden. Er handelte überlegt und beherzt. Gleich nach Beendigung des Staatsdienstes zog es den Russlandkenner wieder nach Moskau - diesmal im Dienste der Wirtschaft. Sein Ausblick ist nicht gerade rosig: "Natürlich ist das soziale Gefälle zwischen Moskau, St. Petersburg und einigen wenigen anderen Zentren sowie dem flachen Land enorm. Doch ist es dem neuen Präsidenten Wladimir Putin gelungen, in seiner ersten Amtszeit eine Reihe von stabilisierenden Maßnahmen durchzuführen, die auch zu einem Aufschwung der Wirtschaft geführt haben und damit zu einer, wenn auch bescheidenen, Anhebung des Lebensstandards. Im ersten postkommunistischen Jahrzehnt war die Wirtschaftskraft des Landes auf die Hälfte abgesunken. Bis Russland allerdings ein Pro-Kopf-Einkommen wie Portugal erreichen wird, braucht es nach heutigen Hochrechnungen aber noch eine Zeitspanne bis zum Jahr 2030."

2002 wurde Dr. Andreas Meyer-Landrut das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband verliehen - für sein Lebenswerk zur Annäherung von Deutschen und Russen.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

* Die Eurovision-Preisträgerin Lena ist die Enkelin von Andreas Meyer-Landrut, der zwölf Jahre in Moskau im diplomatischen Dienst  tätig war.

 

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Am 10.06.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Jedem das Seine, der Zwiebel die Tränen.
Sprichwort der Russen

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