Anna Larina Bucharina ist die dritte Ehefrau Nikolaj Iwanowitsch
Bucharins, der jahrzehntelang als Vaterlandsverräter und
Terrorist galt, ja sogar als der Mann, der Kirow ermordete und auf
Stalin ein Attentat geplant hatte.
Vor der Revolution war Bucharin in
erster Ehe mit seiner Kusine Nadeshda Michajlowna verheiratet; ihre Ehe
wurde Anfang der zwanziger Jahre geschieden; Nadeshda Michajlowna war
schwer krank. "Nach unserer Hochzeit", schreibt Anna Larina Bucharina, "lebte sie bei uns. In der schweren Zeit schenkte sie unserer Familie
ihre ganze Herzlichkeit und war rührend und liebevoll zu dem Kind." Von
seiner zweiten Frau - Esfira Issajewna Gurwitsch - trennte sich Bucharin
Ende der zwanziger Jahre, "wie N[ikoaj] I[wanowitsch]
sagte, auf ihre Initiative hin".
"Ich wurde 1914 geboren. Krieg und Emigration trennten mich zunächst
von meinen Eltern. Bis zum März 1918 lebte ich bei meinem Großvater
mütterlicherseits in Weißrußland. Er war Rechtsanwalt. (...)
Meine leibliche Mutter", schreibt Anna Larina Bucharina, "starb an
galloppierender Schwindsucht, als ich etwa ein Jahr zählte. Mein Vater
hatte sie verlassen, als ich noch keine drei Monate alt war.(...) Larin
war mit der Schwester meiner Mutter verheiratet. Die Larins haben mir
meine Eltern ersetzt, und so habe ich sie immer genannt." Nikolaj
Bucharin war ein enger Freund der Larins, ging bei ihnen zu
Hause ein und aus. Schon als Kind schwärmte Anna für Bucharin für ihn,
den sie Nikolaschka nannte.In einem
kindlichen Gedicht von ihr (da ist sie ist elf Jahr alt) schreibt sie:
(...) Immer möchte ich Dich seh´n.
Ohne Dich ist´s gar nicht schön.
"Während ich selbst die nächsten von Vaters Freunden mit Vor- und
Vatersnamen anredete und sie siezte", schreibt Anna Larina
Bucharina, "wurde N. I. diese Ehre nicht
zuteil. Ihn nannte ich Nikolaschka und sprach ihn nur mit du an, was
sowohl ihn selbst als auch meine Eltern amüsierte, die sich vergeblich
bemühten, mich zu verbessern, bis sie sich daran gewöhnt hatten.
Bucharin mochte auch
Stalins Tochter Swetlana, der er das Radfahren und
das Schwimmen beibrachte.
"Ich glaube", sagt sie in ihren Erinnerungen, "daß ich nicht
Bucharins Frau geworden wäre, wenn ich nicht Larins Tochter gewesen wäre."
Larin und Bucharin kannten sich schon seit ihrer Emigration.
Bucharin (1888-1938) studierte Nationalökonomie an den Universitäten in
Moskau und Wien, war seit 1906 Mitglied der bolschewistischen Partei.
1911 wurde er nach
Sibirien verbannt, konnte nach Deutschland fliehen
und lebte ab 1916 in New York. Er nahm an der
Oktoberrevolution teil und
gehörte nach 1917 zur Parteispitze, war Chefredakteur der "Prawda",
später der "Iswestija".
Lenin schätzte Bucharin sehr und hielt ihn für
den bedeutendsten Theoretiker und Liebling der Partei. 1937 wurde Bucharin zusammen mit Alexander Rykow und anderen angeklagt, einen
"antisowjetischen, rechtstrotzkistischen Block" gebildet zu haben. Es
war vor allem Bucharins Kritik an der "Theorie" von der Verschärfung des
Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus sowie an der rücksichtslos
durchgepeitschten Kollektivierung der Landwirtschaft und der
Fünfjahrpläne zur Industrialisierung, die ihn bei
Stalin in Ungnade
fallen ließ. Am 13. März 1938 wurde Bucharin zum Tode verurteilt und
erschossen. Laut
Leo Trotzki soll Bucharin,
den er "ganz fraglos einen theoretischen Kopf" nennt,
Stalin einst einen Dschingis
Khan genannt haben.
Von ihrem 16. bis zu ihrem 24. Lebensjahr waren Nikolaj Bucharain und
Anna Larina einander eng
verbunden, drei Jahre davon lebten sie zusammen, ein Sohn wurde geboren,
ihr Altersunterschied betrug sechsundzwanzig Jahre. "Mit Nikolaj
Iwanowitsch Bucharin habe ich die glücklichste und die dramatischste
Zeit meines Lebens verbracht. Die letzten sechs Monate waren so schwer,
daß jeder Tag wie ein Jahrhundert erschien." In ihren Erinnerungen nennt
sie Bucharin leichtgläubig, jungenhaft aufbrausend und eifersüchtig, schreibt
von seiner emotionalen Sensibilität und Empfindlichkeit. "Dieser
kräftige, erstaunlich starke Mann, der Sportler mit den Muskeln eines
Ringkämpfers, welkte bei Nervenanspannung dahin. (...) Er weinte leicht.
(...) Bucharin hatte wenig Ähnlichkeit mit einem typischen, elitären
Intellektuellen, obwohl es kaum jemand an Intelligenz mit ihm aufnehmen
konnte. Er trug seine russischen Stiefel nicht deswegen, weil das
während des Bürgerkriegs und danach unter den Bolschewiki eine
verbreitete Mode war; er hatte sie schon lange vor der Revolution
angezogen, seit seiner Jugend, weil er diese Schuhe bequem fand; er trug
eine Mütze und keinen Hut, weil er fand, daß er mit Hut aussah wie ein
Schwein mit Melone. (...) Auch in seinem Benehmen bewies N. I. eigenen
Charakter: Er konnte wie ein Bauer durch die Zähne spucken oder wie ein
Gassenjunge auf zwei Fingern pfeifen; er leistete sich freche Ausfälle.
Aber gleichzeitig war er ein Mensch von erstaunlicher Sensibilität, fast
mädchenhafter Schüchternheit und, wie ich schon sagte, von einer
manchmal fast krankhaften Emotionalität."
Gleich nach seiner Verhaftung wurde auch Anna Larina Bucharina
verhaftet, da war ihr gemeinsamer Sohn ein Jahr alt. Über zwanzig Jahre währt ihr Leidensweg durch den
Gulag, ihren Sohn wird sie erst wieder sehen, als er
ein junger Mann von zwanzig Jahren ist*. Anna schildert ihren Leidensweg
im Lager für "Angehörige von Konterrevolutionären", im
Moskauer
Untersuchungsgefängnis, in den verschiedenen Verbannungsorten Astrachan, Saratow, Swerdlowsk,
Tomsk, Nowosibirsk. "Als ich schon in Astrachan
war, hatte das NKWD dorthin seinen Beschluß von einer Sondersitzung
geschickt, in dem ich zu fünf Jahren Verbannung verurteilt wurde. Dann,
als ich gerade drei Monate dort war, wurde der Beschluß geändert, und
ich wurde verhaftet. Als ich in Astrachan im Gefängnis saß, kam aus
Moskau
die Anordnung über acht Jahre Lagerhaft für mich. Ich saß diese Frist
ab, dann kam die nächste Anordnung: Ich sollte entsprechend der
Direktive Nr. 185 (oder einer anderen Nummer) beim Lager außerhalb der
Zone bleiben und durfte ein bestimmtes Territorium nicht verlassen. Die
nächste Anordnung: weitere zehn Jahre Verbannung im gleichen Gebiet.
Diese letzten zehn Jahre saß ich nicht ganz ab, weil der Tyrann vorher
starb." Sie beschreibt auch ihren Weg zu ihrer Hinrichtung, die dann aus
unbekannten Gründen in letzter Minute nicht stattfindet. Wir erfahren
auch, dass sie ein zweites Mal geheiratet hat, einen Verbannten und mit
ihm zwei Kinder hat. Als er schon frei ist, bleibt er ihretwegen in der
Verbannung, er stirbt bald. Den größten Teil ihrer Erinnerungen widmet Anna Larina Bucharina ihrem geliebten
ersten Mann Nikolaj Bucharin. Wir erfahren
viele, viele Einzelheiten, auch die erschütternde Tatsache, dass sich
Bucharin um Hilfe an seinen Henker wendet, weil er nicht wahrhaben will, dass all
sein Unheil gerade von
Stalin ausging. "Weil er ausgesprochen edelmütig,
politisch aufrichtig und in nicht geringem Maße naiv war, konnte er
Stalins wahre Absichten (...) nicht durchschauen." Erschüttert schreibt Larina
Bucharina - von Simon Sebag Monefiore in seiner Stalin-Biographie
"zauberhafte Witwe Bucharins" genannt - auch davon, wie der starke Bucharin unter der Folter gebrochen
wird und gegen seinen engen Freund und Kampfgefährten Rykow aussagt (wie
umgekehrt auch dieser gegen Bucharin). Wenn seine Frau über Bucharin und
sein Schicksal schreibt, berichtet sie auch über viele andere
Persönlichkeiten jener Zeit: über Sinowjew, Kamenew, Sokolnikow, Radek,
Pjatakow, Tuchatschewskij, Jakir, Ordshonikidse, Kalinin, Molotow... Man
bedenke die Infamie Stalins, als er in die Kommission, die über Bucharins Schicksal entscheiden soll, Lenins Frau und
dessen älteste Schwester beruft, um bei einer Verurteilung (die von vornherein
feststeht) den Namen Lenin mit ins Spiel bringen zu können.
Erstaunlich ist Anna Larina Bucharinas Gedächtnis, denn was sie als ganz
junge Frau erlebte, schrieb sie - innerhalb einiger Jahre - mit schon
weit über siebzig Jahren nieder. "Erst heute, nachdem so viele Jahre vergangen
sind, sehe ich mich imstande, zur Feder zu greifen." Kein Detail ihrer Erinnerungen ist
überflüssig, kein Abstecher zu anderen Personen oder Ereignissen
uninteressant. Auch nicht die umfänglich geschilderte Dienstreise Bucharins nach Paris im Frühjahr 1936, als seine Delegation das
französische Karl-Marx-Archiv günstig erwerben soll. Die Erinnerungen
von Anna Larina Bucharina (1914-1996) sind natürlich subjektiv, aber
unverkennbar ist ihr Bemühen um Objektivität und Wahrheitstreue.
David King schreibt in seinem beeindruckenden Buch
"Stalins
Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion" über Anna
Larina Bucharina: "Nachdem ich eine Biographie von Nikolai Bucharin
geschrieben hatte, eines Mitbegründers der Sowjetunion, suchte ich
jahrelang in Archiven der Terrorzeit, gedrängt von seiner Witwe Anna
Larina, nach wenigsten einem der vielen Fotos, die in den zwanziger und
dreißiger Jahren von den beiden gemacht worden waren, aber ohne Erfolg.
Larina hatte alles verloren, als sie 1937 kurz nach Bucharin verhaftet
wurde. Sie starb 1996, ohne sich je wieder mit ihrem Mann auf einer
Aufnahme gesehen zu haben. Ihr Sohn Juri Larin, der in Pflegeheimen und
Waisenhäusern aufwuchs, hat nie eine Fotografie zu Gesicht bekommen, die
seine Eltern zusammen zeigte."
Zu den erschütterndsten Dokumenten, die ihr Anfang der neunziger Jahre
ausgehändigt wurden, gehört der Abschiedsbrief ihres Mannes. Sie konnte
ihn erst 1992 mit einem "Brief ins Jenseits" beantworten. Er endet mit
den Worten: "Machs gut, Kolka, Du sollst wissen, daß ich es nie bereut
habe, daß ich mein Leben mit Deinem verbunden habe."
In Bucharins Text "An eine künftige Generation von Parteiführern" - sein
Vermächtnis, das seine Frau Anna, die er liebevoll Anjutka nannte,
auswendig lernen musste - schreibt Bucharin: "In diesen möglicherweise
letzten Tagen meines Lebens bin ich überzeugt, daß die Geschichte früher
oder später den Schmutz von meinem Haupte spülen wird." Ihrem Buch
stellt Anna Larina Bucharina eine Bescheinigung über seine posthume Rehabilitierung vom 4.
Februar 1988 voran. Nach jahrzehntelangem hartnäckigem Kampf ist es ihr
gelungen, den Schmutz von Nikolaj Bucharins Haupt wegzuspülen...
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- Sabine Adler, Russenkind. Eine Tochter auf der Suche nach ihrer Mutter.
- Tschingis Aitmatow, Kindheit in Kirgisien.
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- Anton Bayr, Vergessene Schicksale. Überlebenskampf in sowjetischen
Lagern - ein Kriegsgefangener erinnert sich.
- Nina Berberova, Ich komme aus St. Petersburg.
- Alexandra Cavelius, Die Zeit der Wölfe.
- Ivan Bunin,
Čechov, Erinnerungen eines Zeitgenossen.
- Juliet Butler, Masha & Dasha. Autobiographie eines siamesischen Zwillingspaares.
- E. H. Carr, Romantiker der Revolution. Ein russischer
Familienroman aus dem 19. Jahrhundert.
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- Jerome Charyn, Die dunkle Schöne aus Weißrußland.
- Kurt Drawert / Blaise Cendrars, Reisen im Rückwärtsgang.
- Werner Eberlein, Geboren am 9. November.
- Irina Ehrenburg, So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert.
- Ota
Filip, Das Russenhaus.
- Natalija Geworkjan / Andrei Kolesnikow / Natalja Timakowa, Aus erster Hand. Gespräche mit Wladimir Putin.
- Natalia Ginzburg, Anton Čechov, Ein Leben.
- Michail Gorbatschow, Über mein Land.
- Friedrich Gorenstein, Malen, wie die Vögel singen. Ein Chagall-Roman.
- Friedrich Gorenstein, SKRJABIN.
- Daniil Granin, Das Jahrhundert der Angst. Erinnerungen.
- Madeleine Grawitz, Bakunin. Ein Leben für die Freiheit.
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- Michail Kalaschnikow (Mit Elena Joly), Mein Leben.
- Wladimir Kaminer, Russendisko.
- Wladimir Kaminer, Militärmusik.
- Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
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- Gidon Kremer, Zwischen Welten.
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Bedeutung für Russlands Zukunft.
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- Andreas Meyer-Landrut, Mit Gott und langen Unterhosen. Erlebnisse
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- Bulat Okudshawa, Reise in die Erinnerung. Glanz und Elend eines Liedermachers.
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- Juri Rytchëu, Die Reise der Anna Odinzowa.
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- Erika Voigt / Heinrich Heidebrecht, Carl Schmidt - ein Architekt in
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- Julius Wolfenhaut, Nach Sibirien
verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941-1994.
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