Belletristik REZENSIONEN |
Fleischmaschinen mit Blutumlaufpumpen statt Herzen
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Vladimir Sorokin |
Russe |
BRO
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Berlin Verlag, Berlin 2006, 346 S.
(Rezensiert, entsprechend dem
Gästebuch-Eintrag von Lieselotte Schröder) |
Ich wüsste gern, ob die "Fleischmaschinen-Bücher" Vladimir Sorokins
von Anfang an als Trilogie gedacht waren; denn selten schreibt und
veröffentlicht doch ein Autor erst Band 2 ("LJOD. DAS EIS"), um dann -
fast zwei Jahre später - Band 1 BRO nachzutragen. Erst Band 3
(mit dem Arbeitstitel "23 000") wird uns wohl verdeutlichen, warum der
Leser in BRO unbedingt erfahren muss, mit wem die
Eis-Aufklopf-Aktion ursprünglich begann - mit dem jungen Alexander Snegirow
nämlich, der in "LJOD. DAS EIS" als bereits weiser alte Mann auftritt.
In BRO wird Snegirow am 30. Juni 1908 in Waskelowo nahe
St. Petersburg geboren,
in der Nacht, in der im fernen
Sibirien ein Meteorit
einschlägt, der der Welt bis heute Rätsel aufgibt. Wir lesen
in der Ich-Form von Snegirows behüteter Kindheit als Sohn eines
russischen Zuckerfabrikanten, bis diese - als er sechs Jahre alt ist -
Risse bekommt: Der erste Weltkrieg beginnt; zwei Revolutionen brechen
aus; St. Petersburg wird zu Petrograd...
Durch seine Kommilitonin Mascha Dormidontowa lernt Alexander
Snegirow 1928 den Leiter einer Forschungsabteilung am Bergbau-Institut
kennen, Leonid Kulik, der gerade seine dritte Expedition nach
Sibirien zum Einschlagsgebiet des kosmischen Meteoriten ausrüstet. Als
Kulik von Mascha erfährt, dass Alexander in der Nacht geboren wurde,
als der Meteorit vom Himmel auf die Erde stürzte, nimmt ihn Kulik in
sein Expeditionsteam auf.
Da bei Sorokin nichts ohne Zeit und Raum geschieht, erfahren wir
sowohl von der NÖP (der Neuen Ökonomischen Politik) als auch von
Stalins Verfolgungswahn und seinen
Lagern, begegnen uns
Trotzki, Lunatscharski,
Sinowjew und die Krupskaja... Die Expedition gestaltet sich von Tag zu
Tag strapaziöser, und der zwanzigjährige Snegirow wird von Tag zu Tag
eigenartiger: Er redet mit niemanden mehr, ekelt sich neuerdings vor
Fleisch, kann nur noch rohes Obst und Gemüse essen. Eines Nachts
zündet er das Expeditionslager an und begibt sich in die Taiga. Nach
langem Fußweg entdeckt er in einem See mit viel Entengrütze die Spitze
des weißblau funkelnden eisigen Tunguska-Meteoriten. Er rutscht darauf
aus, und beim Aufschlagen gibt sein bisher stummes, nun sprechendes Herz
seinen wahren Namen preis: BRO.
Wir sind auf Seite 118, das Buch hat noch 226 Seiten, auf denen wir so
gut wie nichts Neues erfahren, nichts, was wir nicht schon aus Band 2
wissen: Nur 23 000 Menschen auf der ganzen Welt sind Auserwählte, sind
keine "Fleischmaschinen mit Blutumlaufpumpen", die nur "dreierlei
Verrichtungen kennen: Menschen zu gebären und Menschen zu töten sowie
ihre Umwelt zu missbrauchen". Und so gilt es auch in Band 2, die Menschen mit
sprechenden Herzen ausfindig zu machen, sie "in Strahlen des
ursprünglichen Lichts zurückzuverwandeln". "Und dies Licht wird
leuchten im leeren, um Seiner Selbst willen existierenden Raum."
Snegirow, nicht faul, macht sich an die Arbeit und auf den Weg, ein
großes Stück Ljod (Eis) geschultert. Bald entdeckt er ein Mädchen mit blauen
Augen. Er spürt sofort, dieses Mädchen ist von "seiner Art". Mit dem
mitgeführten Eisbrocken schlägt Snegirow kräftig auf ihr Brustbein,
ihr Herz erwacht, und er erfährt, dass er Fer erweckt hat.
Gemeinsam erwecken "die Geschwister des Lichts" nun einen Pferdedieb,
dann einen Schiffsbanditen, einen Geheimdienstchef, einen Priester, einen
Flötisten und auch einige unbescholtene Schwestern...
Wie in Band 2 werden Menschen schmerzhaft aufgeklopft, die blaue Augen
und blonde Haare haben. Das Aufklopfen ist nicht zu umgehen, weil
niemand von den Brüdern und Schwestern voraussagen kann, wer von den
blauäugigen Blonden ein sprechendes Herz hat. Die vergeblich
aufgeklopften (ermordeten!) Fleischmaschinen sind dann eben tot.
Nur BRO und Fer zusammen hatten einen einzigartigen Herzensmagneten,
der Bruder oder Schwester "von eigener Art" unfehlbar auszumachen
verstand. Doch Fer stirbt bei einem Bombenangriff in Deutschland. Wir
wissen ja schon, dass bei Sorokin nichts ohne Zeit und Raum geschieht,
und so begegnet uns später in Deutschland (im "0rdnungsland") "der Führer", bricht der
zweite Weltkrieg aus, werden Konzentrationslager eingerichtet und Juden umgebracht.
Hat mich bei "LJOD. DAS EIS" eine gewisse Ernsthaftigkeit angeweht, weil von
Sorokin eine Art Paradies heraufbeschworen wird, so hat mich
BRO - das auch eine bearbeitete und ergänzte Neuauflage vom
ersten
Band sein könnte --- gelangweilt.
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
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Am 05.08.2008 ins Netz gestellt. Letzte
Bearbeitung am 26.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Nach Eis laufe viele Werst. |
Sprichwort der Russen |
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