Belletristik REZENSIONEN

Ein Heiliger oder ein Volltrottel, Muttersöhnchen
oder Hahn im Korb?

Russin
Ergebenst, euer Schurik
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Carl Hanser Verlag, München 2005, 494 S.

Dieses Buch - so meinen die meisten Rezensenten - sei traurig und zugleich überaus komisch. Für mich ist Ergebenst, euer Schurik weder traurig noch komisch, sondern überaus tragisch, verquickt mit humorvollen Szenen und Begebenheiten - eine typische Tragikomödie. Denn: Was ist daran komisch, wenn ein gut aussehender, höflicher, sanftmütiger junger Mann mit Frauen Liebe macht, ohne sie zu lieben, nur, weil sie ihn verführen, bedrängen, für sich haben wollen? Und weil er Mitleid mit ihnen hat. Mitleid und Begehren sitzen bei Alexander Korn, von allen Schurik genannt, sozusagen an derselben Stelle. Und so wird die um Jahrzehnte ältere Bildhauerin Matthilda Pawlowna, die ihn als Knaben verführt, seine jahrzehntelange Montagsbeziehung; so schläft er mit der Kasachin Alja Togussowa, ein Chemie-Ass und seine Kommilitonin, weil die anderen Studenten sie hässlich finden; so geht er mit Lena Stowba eine Scheinehe ein, damit die Funktionärstochter aus Sibirien für ihr kubanisches Baby einen Vater vorweisen kann; so lässt er sich von der Chefin seiner Mutter, der Hauptbuchhalterin Faina Iwanowna, verführen und von der schwer gehbehinderten Bibliothekarin Valerija Konezkaja, seiner eigenen Chefin, der er ein Kind macht, weil sie sich so sehr eines wünscht. Dann ist da noch die Psychopathin Swetlana, die Liliputanerin Shanna, die litauische Prostituierte Egle, die französische Touristin Joel, die Alkoholikerin Sonja, genannt Tschingis Chan, und Alla, die Ex-Frau von Schuriks Studienfreund Shenja Rosenzweig. Hätte Ljudmila Ulitzkaja die eine oder andere Frau durchaus wegfallen lassen können? Um Schuriks verteufelte Anpassungsfähigkeit zu verdeutlichen, dürfte keine fehlen.

Wer weiß, was aus Schurik geworden wäre, wäre seine Jugendliebe Lilja Laskina nicht mit ihren Eltern nach Israel ausgereist... Nach zwölf Jahren - Schurik ist inzwischen dreißig Jahre alt - kommt sie für einen Tag nach Moskau, von wo aus sie nach Tokio weiterfliegt. Beide sehen sich wieder, suchen die Plätze ihrer Jugend auf, lachen miteinander und küssen sich. Auf ihrem Weiterflug nach Japan resümiert Lilja: "Schurik ist unglaublich rührend und liebt mich noch immer. (...) Wahrscheinlich hat mich niemand je so geliebt und wird mich niemand je so lieben. Er ist unheimlich zärtlich, aber vollkommen unsexy. Irgendwie altmodisch. Und er sieht furchtbar aus - gealtert, dick, kaum zu glauben, daß er erst dreißig ist. (...) Ob Schurik wohl ein Liebesleben hat? Sieht nicht so aus. Kann ich mir schwer vorstellen. Aber er hat etwas Besonderes an sich - er ist irgendwie fast ein Heiliger. Aber ein Volltrottel. (...) Was für ein Glück, daß ich damals weggegangen bin. Ich hätte ihn beinahe geheiratet! Armer Schurik."

Armer Schurik? Ja, armer Schurik, denn bis zum Schluss des Buches hat er sein Leben und die Liebe verfehlt. Schurik ist mit seiner kränkelnden Mutter aufgewachsen und der bestimmenden Großmutter, einer Dozentin für französische Literatur. Die Mutter hatte ein jahrzehntelanges Liebesverhältnis mit dem jüdischen Pianisten Korn, der Alexanders Erzeuger ist. Schurik wird von den beiden Frauen vergöttert, er ist ihr ein und alles. Muttersöhnchen oder Hahn im Korb? Beides!

Als die Großmutter, die sich im Haushalt um alles gekümmert hatte, stirbt, übernimmt Schurik fast alle ihre Aufgaben, wird mit siebzehn Jahren die männliche Stütze seiner Mutter. Bald schon vergöttert er seine Mutter, und ist nur noch damit beschäftigt für sie und alle seine anderen Frauen Medikamente und Lebensmittel zu organisieren, Katzen zu füttern, Übersetzungen hin und her zu tragen. Alle Frauen, die Schuriks Weg kreuzen, sind nicht nur auf sexuelle Befriedigung aus, sondern sind auch sonst auf ihren Vorteil bedacht. Traurig? Komisch? Tragikomisch - nicht nur für Schurik, sondern auch für die ungeliebten Frauen.

Die große Erzählerin Ljudmila Ulitzkaja (1996 "Sonetschka", 1997 "Medea und ihre Kinder", 1998 "Ein fröhliches Begräbnis", 1999 "Olgas Haus", 2001 "Reise in den siebenten Himmel", 2003 "Die Lügen der Frauen", 2005 "Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten") sagt mit diesem Buch wie sehr sich jeder Mensch darum bemühen muss, ein selbst bestimmtes Leben zu führen, um wenigstens die Chance zu haben, im Leben glücklich zu werden.

Ljudmila Ulitzkajas Bestseller (Startauflage 100 000 Exemplare) spielt in der Sowjetära. Hier und da blitzen Schlaglichter des sowjetischen Alltags auf, liest man vom Schlangestehen, von der Willkür der Miliz, vom KGB-Gebaren, von Ärztebestechung, Trinkgelagen - immer ohne Häme, einfach sachlich, der Wahrheit verpflichtet. Außerdem enthält der Roman zahlreiche Anspielungen auf die Stellung der Juden und den Antisemitismus in der sowjetischen Gesellschaft.

In den Büchern der Ulitzkaja  - die erst mit vierzig Jahren zu schreiben begann - spielen meist Frauen die Hauptpersonen. Ihnen, mögen sie zupackend, liebend oder schwach sein - gehört die ganze Anteilnahme der Autorin. Die Männer in ihren Büchern sind meist despotisch oder saft- und kraftlos oder - schlicht nicht vorhanden. Obwohl in Ergebenst, euer Schurik, eigentlich der junge Schurik der Held ist, wird er doch von der vielen Weiblichkeit fast erdrückt. In Russland schreiben viele Frauen: die Tolstaja, die Tokarjewa, die Petruschewskaja, die Marinina, die Daschkowa, die Donzowa, die Stepanowa, die Narbikova..., aber die Ulitzkaja scheint von allen die weiblichste Autorin zu sein, weshalb ihr von Kritikern oft übertriebener Feminismus vorgeworfen wird.

Natürlich weiß man vom ersten Kapitel an, dass man es bei Ljudmila Ulitzkaja mit einer brillanten Schrifstellerin zu tun hat, mit einer die nicht schlechthin schreibt, sondern Literatur macht. Aber viele wunderbar gelungene Sätze und weise Formulierungen, die einem beim Lesern des Buches eventuell entgehen, weil man zu sehr mit Schurik und seinen so unterschiedlichen Frauen beschäftigt ist, werden beim Anhören des Hörbuchs erst richtig augen- besser hörfällig. Selten ist ein Werk so geeignet, als Buch gelesen und danach auch noch als Hörbuch gehört zu werden - wie Ljudmila Ulitzkajas Ergebenst, euer Schurik.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de 

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Am  22.12.2008 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Was für einen Russen gesund ist, ist für einen Juden der Tod.
Sprichwort der Russischen Juden

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