Belletristik REZENSIONEN | ||||||||||||||||
Ein normaler sowjetischer Lebenslauf? | ||||||||||||||||
Vladimir Sorokin | Russe | |||||||||||||||
NORMA Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 1999, 375 S. | ||||||||||||||||
(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Hertha Burmeister.) | ||||||||||||||||
Außergewöhnlich beginnt es gleich mit dem Schutzumschlag des Buches: Er
kopiert das Normblatt 01661, das für die "Beschlagnahme
Anti-Sowjetischen Materials" vorgesehen war: 004 für Literatur
(Flugblatt, Pamphlet, Plakat, Manuskript, Zeitungsartikel, Sonstige) -
Thema, Aktenzeichen, Verfasser, Titel, Gattung, Verleger (dem
bescheinigt wird, dass seine weiteren Aktivitäten observiert werden),
bis hin zu Stempel und unentzifferbarer Unterschrift. Eine wunderbare
Idee der Ausstatter Groothuis + Malsy.
Sorokins NORMA erscheint in Deutschland nach "Die Schlange", die allerdings später, 1985, geschrieben wurde. Sorokin schuf sein Buch NORMA weit vor Perestroika und Glasnost, nämlich von 1979-1984, und rechnete immer damit, dass er "verhaftet" werden würde. In der Rahmenhandlung beschreibt Sorokin dann auch die imaginäre Verhaftung des Manuskriptes am 15. März 1983 durch den KGB. Nach dieser Inhaftierung wird das Manuskript auf der hierarchischen Leiter hoch gereicht. Doch da niemand die Verantwortung tragen will, übernimmt sie ein Dreizehnjähriger als Zensor. (Warum das ein Kind sein muss, bleibt mir unverständlich.) Der "Roman" besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil von NORMA führen in etwa dreißig Episoden Sowjetmenschen ihr Leben vor: ihr genorm(a)tes Leben. Egal, ob sie Hauptstädter oder Provinzler sind, Ingenieure oder Künstler, Kybernetiker oder Verkäufer, Mann oder Frau, Erwachsener oder Kind, Hetero oder Lesbe, sie alle verzehren widerspruchslos die NORMA, die sie von werweißwoher zugeteilt bekommen - für die Moskauer saftig und in Zellophan, für die aus der Provinz krümelig-trocken und grob verpackt. Nur die Kinder, die sich ja auch im Märchen nicht von des Kaisers neuen Kleidern blenden lassen, durchschauen, was sie da essen, was NORMA wirklich ist: Kaka. Der Leser braucht ein Weilchen, bis er begreift, dass der Normative Rohstoff NORMA Kinderscheiße ist. Bei mir dämmerte es, als ein solcherart Nahrung Aufnehmender einen "verschluckten Knopf" in seiner NORMA entdeckt... Im zweiten Teil des Buches, das natürlich kein Roman ist, auch wenn es der Verlag so nennt, sondern eher eine Art Werkstattbuch, listet Sorokin auf 42 Seiten etwa 1500 Substantive auf, die er mit dem Adjektiv "Normal" versieht - von "Normale Geburt" bis "normaler Tod". Das soll wohl einen normalen sowjetischen Lebenslauf darstellen (mit einem normalen Lenin, einem normalen Halbrubelstück, einem normalen Subbotnik...). Nach der Lektüre dieser beklemmenden, nur manchmal auch humorvollen Seiten fürchtet man nichts mehr, als - Gott behüte - normal zu sein. Der dritte, wieder ganz anders geartete Teil des Buches besteht aus zwei Texten: Im ersten Text kommt ein Intellektueller in das verfallene Haus seiner Kindheit zurück und erinnert sich wehmütig an die Vergangenheit, an den Vater, die Mutter, den einst so gepflegten Garten. Wir lesen von Jagdausflügen, russischer Erde und russischer Seele und von einer rührenden Liebesgeschichte zwischen dem zum Städter mutierten Anton und einer drallen Bauerntochter. Turgenjew, Tschechow und die sowjetische Dorfprosa lassen grüßen. Sorokin gehörte seit Anfang der Achtziger zu den Moskauer Konzeptualisten, die die Traditionen der russischen Avantgarde noch radikalisierten. Sie richteten sich nicht nur gegen die offizielle Sowjetliteratur, sondern parodierten auch die russischen Klassiker, die neonationalistische Dorfprosa und sogar die moralisierende Dissidenten-Literatur. Wie auch immer, der Leser kann sich bei diesem schön nachempfundenen Text literarisch erholen, um den zweiten Text durchzustehen. Unverhofft nämlich tritt in dem idyllisch-ländlichen Mütterchen-Russland-Text ein Erzähler auf, der vorschlägt, doch lieber etwas zu formulieren, "das packt". Was packt, ist dann der Text mit der Überschrift "Die Viehseuche". Auch diese Geschichte spielt auf dem Lande, aber in einer heruntergekommenen Kolchose, in der Regimegegner zu Tode gehungert und dann als Dünger verwendet werden. Bei manchen spart man auch noch am Essen und verwertet die Andersdenkenden lebend: "Irina Lvovna Rostovceva wurde als lebender Dünger bei der Bepflanzung des Ruhmesparks in Gorkij verwendet." Ein Ende wird dem inhumanen Treiben gemacht, als ein unmenschlicher Staatssicherheitsbeamter dem Kolchosvorsitzenden im wahrsten Sinne des Wortes Feuer unter dem Hintern macht. Teil vier endlich besteht aus vierunddreißig Briefen eines Kriegsveteranen, der die Datscha des Moskauer Professors Martin Alekseevič verwaltet. Kommen seine ersten Briefe an den Professor in normalem Ton daher, immer mit der Aufforderung doch zu antworten, so gerät der normale Briefschreiber nach und nach so richtig in sorokinsche Wut, da er einerseits nie einer Antwort für würdig befunden wird und andererseits des Professors Nichte und deren Mann auf der Datscha bei keiner Arbeit mithelfen und nur immer "mit dem Hintern wackeln". In den letzten Briefen, in denen nur noch die Anrede ("Guten Tag Martin Alekseevič") normal dasteht, wird der Professor, der diese unbeschreibliche Faulheit seiner Verwandtschaft durchgehen lässt, zu einem "Haufen Scheiße" und zu einen "ganz beschissenen Arschloch". Auf den letzten 15 Seiten wimmelt es von Mutterflüchen und Ausdrücken der russischen Fäkaliensprache, die in zusammenhanglosem Gestammel bis zum siebenseitigen (!) Buchstaben aaaaaa verzweifelt. NORMA ist ein wütender Generalangriff auf das Sowjetsystem. Noch nie habe ich mich beim Lesen eines Buches so geekelt, noch nie hat sich mir bei einer belletristischen Lektüre wahr und wahrhaftig der Magen umgedreht - wenn der eine Sowjetmensch den Geschmack seiner Kinderscheiße mit Pilzen veredelt, der andere NORMA kräftig würzt und dann dazu sein Bierchen schlürft... Während man im Westen Sorokin (und Pelewin) für seine stilistischen und vor allem sprachlichen Provokationen feiert, zeigt sich die russische Öffentlichkeit schockiert und angeekelt. Man beginnt, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte Russlands, Schriftsteller zu verachten. Ingegen meinte Ljudmila Ulitzkaja in einem Interview: "Figuren wie Sorokin und Limonow rütteln die Gesellschaft wach und bringen sie zum Diskutieren, zum Vibrieren. Das haben wir dringend nötig." Sorokin (geboren 1955 in Moskau) hat eine Ingenieurausbildung für Petrochemie und Gasindustrie abgeschlossen, arbeitete in diesem Beruf jedoch nicht, sondern wurde erst einmal Buchillustrator. Aus Sorokins Mund hört sich das in der Literaturzeitschrift "Wespennest" vom September 2003 so an: "Ich wurde am 7. August 1955 um 14 Uhr 45 Minuten auf der Geburtsstation des Krankenhauses von Schukowskoje, Gebiet Moskau, geboren. Die Geburt verlief normal, mein Gewicht betrug 3 200 Gramm, bei einer Körpergröße von 52 cm. Unsere Familie bestand aus fünf Personen: der Vater, Georgij Matvejevitsch Sorokin, Ingenieur-Mechaniker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Moskauer Instituts für Erdölchemie und Gasindustrie; die Mutter, Ninel Vladimirovna Sorokin, Ingenieur-Ökonomin, Mitarbeiterin des Instituts für Geophysik; die Großmutter, Anna Kusminitschna Smekalina, Ökonomin, Mitarbeiterin des Instituts für Geophysik; die Urgroßmutter, Xenia Timofejevna Smekalina, Pensionistin, und ich. Wir lebten in der Siedlung Bykovo, Gebiet Moskau, in der Straße des 1. Mai, im Haus Nr. 29, das dem Institut für Geophysik gehörte, in einer Zweizimmerwohnung.- In der Kindheit erkrankte ich an Masern, Angina (3-4 Mal), an der Botkinschen Krankheit (infektiöse Hepatitis)." Vladimir Sorokin, der viele Jahre in Moskau lebte, baut gegenwärtig in der Moskauer Umgebung ein kleines Häuschen, wo er "mit Tannen und Hunden" leben und "nicht sehr dicke Bücher verfassen" will. Inzwischen sind von Vladimir Sorokin in Deutschland zehn Romane erschienen, ein Band mit Erzählungen und diverse Theaterstücke. Inzwischen habe ich auch seine Romane "Der himmelblaue Speck" und "LJOD. DAS EIS" gelesen. Politische Umbrüche stürzen immer auch die Literatur ins Chaos. Wenn man Sorokin Gerechtigkeit widerfahren lassen will, steht immerhin fest, dass er mit der russischen Vergangenheit radikal aufräumt, als Radikalster alle Tabus brechend; er ist vulgär und obszön über die Schmerzgrenze hinaus. Aber: Mit schlichten Worten ist es bei der Vergangenheitsbewältigung nicht getan, da muss man sich schon literarisch etwas sehr Unübliches einfallen lassen. Und Sorokin lässt sich sehr Unübliches einfallen... Einer meiner Lieblingsautoren ist er trotzdem nicht. | ||||||||||||||||
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | ||||||||||||||||
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