Belletristik REZENSIONEN

Eine Planwirtschaft des Todes?

Russe
Picknick auf dem Eis
Aus dem Russischen von Christa Vogel
Diogenes Verlag, Zürich 1999, 288 S.

Mit Picknick auf dem Eis erschien von Andrej Kurkow erstmals ein Buch in deutscher Sprache. Es wurde (wie vorher schon in der Ukraine und in Russland) ein außergewöhnlicher Erfolg. Medien und Leser sind hingerissen.

Ich auch.

Andrej Kurkow, 1961 in Leningrad geboren, wuchs in Kiew auf, wo er am Fremdspracheninstitut neun Sprachen lernte; er wollte Diplomat werden, was ihm aber mangels Beziehungen nicht gelang. Nach dem Studium arbeitete er kurz als Herausgeber einer Ingenieurszeitschrift, bis er den Chefredakteur bei einem Plagiat erwischte. Es folgte der Militärdienst, den er als Gefängniswärter im Gefängnis von Odessa ableistete. Danach wurde er Kameramann, bis er selbst Drehbücher zu schreiben begann, nach denen bisher siebzehn Filme gedreht wurden. Doch besonders als Schriftsteller ist Kurkow bekannt geworden. Neben vielen Erzählungen schrieb er bisher vier Kinderbücher und acht Romane. (Schon als Siebzehnjähriger war er mit seinen Kurzgeschichten zum Vorlesen bei Hochzeiten und anderen Festen eingeladen worden.) Die Medien feiern Picknick auf dem Eis als unwiderstehlich komisch und spannend, als zauberhaftes, poetisches Buch zwischen "Don Quijote" und "Schwejk", Tucholsky und Kafka. Die "Kiewer Nachrichten" nennen es "das professionellste Werk, das seit einigen Jahren bei uns erschienen ist", der Londoner "The Guardian" nennt Kurkow "einen der interessantesten russischsprachigen Schriftsteller, die heute leben". Das ist er ohne Frage - trotz Pjotr Aleschkowski, Viktor Pelewin, Ljudmila Ulitzkaja, Viktor Jerofejew...

Kurkows Held heißt Viktor. Von seiner Freundin verlassen, lebt er zusammen mit dem depressiven Königspinguin Mischa - der Kiewer Zoo hatte alle Tiere verschenkt, die er nicht mehr ernähren konnte. Die "beiden Einsamkeiten" leben in trauter Zweisamkeit zusammen. Viktor ist ein Schriftsteller, der zwischen journalistischen Versuchen und kleinen Prosaarbeiten stecken geblieben ist. Von seinen Kurzgeschichten kann er nicht leben, Mischa auch nicht. Was tun im Kiew der Neureichen und der Mafia? Eines Tages bietet ihm der Chefredakteur der "Hauptstadtnachrichten" eine gut bezahlte, streng vertrauliche Arbeit an. Viktor soll Nekrologe schreiben über Leute in verantwortungsvollen Positionen - die noch nicht gestorben sind. Viktor macht sich an die Arbeit, sie macht ihm sogar Spaß. Endlich der erste Tote, und Viktors brillanter Nachruf erscheint. Dann geht es Schlag auf Schlag - Beerdigung folgt auf Beerdigung.

Eine Planwirtschaft des Todes?

Viktor wird angst und bange, aber er steckt schon zu tief drin. Wie er - der inzwischen sozusagen über Nacht zu einem vierjährigen Kind gekommen ist und zu einer Geliebten, die keineswegs die Mutter dieses Kindes ist - sich obergeschickt aus dem Staub macht, dass ist schon eine Lobeshymne auf den Autor wert.

Zu einer Lesung, organisiert von der Pankower Buchhandlung SAAVEDRA, waren viele begeisterte Leser Kurkows gekommen, die schon lachten, wenn er den Gedanken noch gar nicht zu Ende gelesen hatte - übrigens in Deutsch, dass er nach eigener Aussage in knapp vier Wochen beim Goethe-Institut als zehnte Fremdsprache erlernte. Auf Mischa, den Pinguin, angesprochen, sagt der sympathisch-verschmitzte Kurkow: "In fast jedem meiner Bücher spielt ein Tier mit, in meinem ersten Roman ist es eine Ratte." Angesprochen auf seine humorvoll-realistische Art, über die fürchterlichen Machenschaften der gefürchteten Mafia zu schreiben, antwortet er: "Ich bin realistisch-surrealistisch und liebe den schwarzen Humor. Ja, so bin ich."

Beeindruckend, wie Kurkow, oft in Nebensätzen, vom Wirtschaftselend erzählt, von der Korruption, vom listigen Kampf ums Überleben, vom Antisemitismus. Da ist zum Beispiel der Revierpolizist, der zwar Stepanenko heißt, sich aber Fischbein nennt. Er hatte sich auf dem Papier zum Juden gemacht, weil er emigrieren wollte. "Dann habe ich erfahren, wie die Emigranten im Ausland leben", vertraut er Viktor bei einem Abendessen an. Nämlich miserabel. "So habe ich beschlossen, hier zu bleiben, und um als Jude nicht unbewaffnet rumzulaufen, bin ich zur Polizei gegangen."

Zwei weitere Romane von Andrej Kurkow werden gegenwärtig ins Deutsche übertragen. Die Ansprüche der Medien und Leser sind nach seinem Erstling in deutscher Sprache außerordentlich hoch. Man darf gespannt sein.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
 
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Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 22.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Das Glück ist keine Kuh, es lässt sich nicht melken.
Sprichwort der Russen

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