Belletristik REZENSIONEN

Moskau ist ein hausbackenes Weib, Petersburg
ein behänder Bursche

Russe (Ukrainer)
Petersburger Geschichten
Aus der Sammlung "Rußland lesen", Hrsg. von Swetlana Geier, 6 Bände in Kassette
Aus dem Russischen von Georg Schwarz und Werner Creutziger
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2003, 255 S.

In Sorotschinzy am 20. März 1809 geboren, verlässt Nikolaj Gogol 1828 die ukrainische Idylle und begibt sich nach St. Petersburg, um  hier sein Glück zu machen - als Beamter, Geschichtsprofessor oder als Literat. "Neunzehn war ich, als ich zum ersten Mal die Winterluft St. Petersburgs einatmete. Das Resultat war ein prächtiger Schnupfen." In St. Petersburg versucht Gogol vergeblich, Alexander Puschkin ("... den Mann der Wahrheit, den Liebhaber der Schönheit") und Wassili Shukowskij* kennen zu lernen. Kjell Johansson schreibt in seiner Biographie "Gogols Welt", dass Gogol von Puschkins "widerwärtig lachendem Diener" abgewiesen worden sei. Shukowski  lernte Gogol im Dezember 1830 dann endlich auf einer Feier kennen, und mit Puschkin machte ihn Pletnjow** am 20. Mai 1831 auf einer Soiree in Moskau bekannt. Die Drei trafen sich oft. "Ich war zweiundzwanzig, Puschkin zweiunddreißig und Schukowskij achtundvierzig Jahre alt", lässt Johansson seine Ich-Figur Gogol sagen. "Schukowski war wie ein Vater für mich, Puschkin wie Vater und Bruder. Wir kamen einander sehr nahe. Ich hatte beide sehr gern, aber Puschkin liebte ich."

Gogols Erstling  "Hans Küchelgarten" erscheint in St. Petersburg 1829. Diese Idylle in Versen wird von allen Kritikern einhellig verrissen. Daraufhin verbrennt Gogol die gesamte Auflage. Für zwei Monate begibt er sich von St. Petersburg aus nach Deutschland, reist nach Lübeck, Travemünde, Hamburg und kehrt wieder nach St. Petersburg zurück. Er unternimmt den Versuch, Schauspieler zu werden, aber der Direktor des Petersburger Kaiserlichen Theaters nimmt ihn nicht auf. Stattdessen erhält er eine Anstellung als Beamter auf Probe im Departement für Staatsdomänen. Der Staatsdienst jedoch bot ihm nichts Interessantes, und er wandte sich bald wieder der schriftstellerischen Laufbahn zu. Sein erster literarischer Erfolg wurde 1831 sein Novellenband "Abende auf dem Vorwerk bei Dikanjka, 1. Teil; ein Jahr später erschien der 2. Teil. Gogol unterrichtet Geschichte am Patriotischen Institut.

1833 sammelte Gogol ukrainische Volkslieder, machte zahlreiche literarische und historiographische Pläne. Vieles scheiterte, Gogol hat eine schöpferische Krise. 1834 versucht er vergeblich, eine Professur in Kiew zu bekommen. Nach der Fürsprache einflussreicher Freunde erhält er eine Adjunktprofessur am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der Universität in St. Petersburg. Seine erste Vorlesung hält er auf Anregung des Ministers für Volksbildung, Uwarow,  über das Mittelalter. Die Zusage, nach drei Monaten zum ordentlichen Professor ernannt zu werden, wird nicht eingehalten. Wie ernst Gogol diese Vorlesungen nahm, darüber schreibt beeindruckend der schwedische Autor Kjell Johansson in seiner Gogol-Biographie "Gogols Welt".

1835, wenige Wochen vor "Mirgorod" veröffentlicht Gogol in dem Sammelband "Arabesken" verschiedene Skizzen, Aufsätze und Erzählungen, mit denen er sich ganz seinem jetzigen Wohnort St. Petersburg - der russischen Metropole - zuwendet. Das Phantastische, Magische Volkstümliche wird von der ukrainischen Provinz in die Hauptstadt verlagert, mischt sich mit realen Handlungsebenen: Die Erzählungen "Newskij Prospekt", "Das Porträt" und "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", die 1836 bis bzw. 1842 durch "Die Nase" und "Der Mantel" ergänzt wurden, firmierten seither als "Petersburger Erzählungen". In dieser Ausgabe sind sie zu Petersburger Geschichten mutiert. Zu Recht, denn die "Petersburger Skizzen", die in dieser Ausgabe hinzugekommen sind, sind keine Erzählung, sondern eher ein Aufsatz, ein beachtlicher und amüsanter. Gogol vergleicht hier Moskau und St. Petersburg, zum Beispiel so: "Moskau bietet sich bis heute mit russischem Vollbart, Petersburg dagegen ist schon ein akkurater Deutscher. Wie liegt das alte Moskau da - groß und breit hingestreckt! Wie struppig ist es! Und wie steht Petersburg vor uns - straff und gertenschlank und elegant! Ihn, den Stutzer Petersburg, umgeben von allen Seiten Spiegel - da ist die Newa, da ist der Finnische Meerbusen. Überall Gelegenheit, sich zu beschauen. Kaum daß er ein Federchen, ein Fläumchen auf seinen Kleidern bemerkt - schnell her mit der Bürste. Moskau ist ein hausbackenes Weib; sie bäckt Plinsen, bleibt hocken, läßt sich, ohne vom Sessel aufzustehen, von den Dingen erzählen, die draußen in der Welt geschehen; Petersburg ist ein behender Bursche, der nie zu Hause hockt, der stets zum Ausgehen fertig ist und, zum Abgucken bereit, vor Europa paradiert." (...)

In Petersburger Geschichten sind die Figuren Beamte, Offiziere, Handwerker, die in einer Großstadt leben, in der Laster und Geldgier herrschen und das Alltägliche sich jederzeit ins Grotesk-Dämonische verlagern kann. Reale Wahrnehmung mündet in krankhafter Phantasterei, natürliche Begebenheiten werden ins Maßlose verzerrt, Menschliches wird verdinglicht, Dinge werden belebt. Wer mehr Geschichten von Nikolaj Gogol lesen möchte, der greife zu seinen "Meistererzählungen".


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

   * Wassilij Andrejewitsch Shukowskij (Schukowski), 1783 - 1852, Lyriker, Übersetzer, Begründer der romantischen Dichtung in Russland, Mentor vieler Autoren der Puschkinzeit; als Erzieher des Thronfolgers bei Hof eine einflussreiche Person.

  **  Pjotr Alexandrowitsch Pletnjow, 1792 - 1862, Kritiker, enger Freund Puškins, ab 1932 Professor für Literatur an der Universität St. Petersburg, Rektor 1840 - 1861. Ihm gewidmet sind die Eingangsverse zu Puschkins "Eugen Onegin", von Pletnjow stammt eine der besten Kritiken zu den "Toten Seelen".

 

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Am 24.05.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Gleiche Bräuche, feste Liebe.
Sprichwort der Russen


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