Belletristik REZENSIONEN |
Von einem Kanadier, der zu einem Tschuktschen wurde...
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Juri Rytchëu |
Tschuktsche |
Polarfeuer
Aus dem Russischen von Antje Leetz
Unionsverlag, Zürich 2007, 349 S.
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Polarfeuer ist die Fortsetzung von
"Traum im Polarnebel".
Spielt der erste Band in den Jahren 1912 bis 1920, vor Gründung der
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), so ist die
Handlung von Band 2 in den zwanziger bis dreißiger Jahren angesiedelt,
spielt also bereits in der Sowjetära - die da auch im fernen Tschukotka angekommen ist.
In "Traum im Polarnebel" strandet das amerikanische Walfangschiff
"Belinda" in Enmyn, einem Küstendorf auf der Halbinsel
Tschukotka
im äußersten Nordosten der UdSSR. An Bord ist auch der Kanadier John
MacLennan. Durch ein tragisches Missgeschick wird er schwer an den
Händen verwundet. Drei Ureinwohner sollen John (den die Tschuktschen
Son nennen)in die russische Stadt Anadyr (heute Tschukotkas
Hauptstadt) bringen, weil dort ein russischer Arzt ansässig ist. Für
den einen Monat, den sie unterwegs sein werden, erhalten sie vom
Kapitän des Walfangschiffes zwei Winchesterbüchsen. Unterwegs setzt
bei John Wundbrand ein. Die drei Ureinwohner Toko, Orwo und Armol
rufen die Schamanin Kelena zu Hilfe. John MacLennan glaubt, sein
letztes Stündlein habe geschlagen... Doch die Schamanin rettet ihm das
Leben, in dem sie einige Finger an beiden Händen amputiert. Geschickt
und gekonnt, wie John später feststellt. Als sie wieder in Enmyn
ankommen, hat das Schiff bereits abgelegt. Aus Sorge, wieder vom Eis
eingeschlossen zu werden, überlässt der Kapitän McLennan seinem
Schicksal. Es bleibt John nichts weiter übrig, als den Winter über in
Enmyn zu bleiben - um dann, wenn das Eis aufgetaut ist, mit einem
vorüber kommenden Schiff in die Heimat zurück zu fahren. Fand John anfangs
"diese Wilden" ein "unsympathisches Völkchen", so lernt er sie bald
schon als Freunde schätzen, die in der Not einander helfen und immer
füreinander da sind. Fand der Kanadier es anfangs hier am Ende der
Welt ganz und gar unwirtlich, so kommt er bald schon mit der so ganz
anders gearteten tschuktschischen Lebensweise gut zurecht, besonders
als er mit seinen Lederprothesen auch zu schießen lernt. Nun ist er
kein Schmarotzer mehr, sondern ein Jäger, der sich selbst ernähren
kann. John beschließt, auf Tschukotka zu bleiben und heiratet die
Tschuktschin Pylmau. Als ihnen ein Mädchen, Tynewirineu-Mary, geboren
wird, weiß John: "Ich habe meinen Platz in der Welt gefunden."
"Polarfeuer", erzählt der Autor anlässlich einer
Buchlesung im November 2007 in Berlin, "ist bereits 1971 in der
Sowjetunion erschienen. Unter der sowjetischen Zensur musste ich
einige Stellen umschreiben und, was das Schlimmste war, das Ende des
Romans streichen." Der vorliegende Text ist die erste vollständige,
unverfälschte Fassung.
In Band eins ist John McLennan - Vater von einem Sohn und einer Tochter; das
Mädchen Tynewirineu-Mary verstarb in einem furchtbaren winterlichen
Hungerjahr - glücklich auf Tschukotka, und nicht einmal seine Mutter Mary,
die extra aus Kanada nach Tschukotka reist, kann ihn bewegen,
nach Hause zurückzukehren. Doch die "Zivilisation", die John hinter
sich gelassen hat, holt ihn ein: Auch der äußerste Nordosten
Sibiriens
wird von den Umwälzungen der (Großen Sozialistischen)
Oktoberrevolution erfasst.
Der Untergang der uralten Gemeinschaften von Fischern, Jägern und Rentierzüchtern beginnt mit der
Industrialisierung, dem unfairen Handel und dem "üblen lustig
machenden Wasser". Als die Bolschewiki auch hier im fernen Tschukotka
an die Macht gelangen, wird den Tschuktschen und asiatischen Eskimos
erklärt: "Petrograd ist das Hauptnomadenlager des neuen Arbeiter- und Bauernstaates (...). Dort lebt
Lenin, der so was wie der Leithund des
arbeitenden Menschen ist." Die neue Macht bringt auch Gutes:
eine Schule, einen Sowjet, einen Arzt und Medikamente... Doch bald
schon überziehen blutige Kämpfe des russischen Bürgerkrieges die
Tundra. Als "seine" Tschuktschen John, der inzwischen ihre Sprache
spricht, ihre Gewohnheiten und Bräuche angenommen hat, zum neuen
Sowjet-Vorsitzenden wählen, ist er bereit, mit ihnen eine
neue Zukunft aufzubauen. "Sie [die
Tschuktschen und asiatischen Eskimos] kennen nicht einmal die Uhr und
können weder lesen noch schreiben", überlegt er. "Das ist eine Schande, und ich
verstehe, dass die alte Ordnung gestürzt werden musste." Zehn Jahre
lang bittet John die Behörden um die sowjetische Staatsbürgerschaft.
Zehn Jahre lang bleibt er ohne Antwort. Zu Beginn der dreißiger Jahre
wird er verhaftet und verschwindet für immer.
Mit diesem - verspätet zu uns nach
Deutschland gelangten Roman - hat Juri Rytchëu* ein wunderbares Werk
geschaffen - voller grandioser Bilder mit nordischer Natur und
arktischem Getier. Trotzdem ist Polarfeuer keine
Folkloreliteratur, sondern Weltliteratur**. Der Autor verfällt niemals
in Schwarz-Weiß-Malerei (obwohl schon in den sechziger Jahren
geschrieben). Vielleicht hat er die eine oder andere Szene
heutigentags hinzugefügt?
Eine Szene hatte ich im Buch nicht
verstanden: Warum darf man, dem Brauche nach, einen ins Wasser
gefallenen Menschen nicht retten? Juri Rytchëu antwortete mir anlässlich seiner
Berliner Buchlesung: "Die Tschuktschen können nicht schwimmen
[weil sich das Wasser auf Tschukotka nie auf mehr als auf 4 Grad plus
erwärmt]. Ertrinkende gelten als Opfer böser Geister, mit denen man
nicht kämpfen darf."
Erfreulich, dass der Verlag auch die Übersetzerin Antje Leetz vorstellt: "Geboren
1947 in Frankfurt / Main, studierte sie Germanistik und Slawistik und
war fünfzehn Jahre Lektorin für neue russische Literatur im [Ostberliner]
Verlag Volk und Welt in Berlin, danach drei Jahre
Redakteurin in einem Verlag in
Moskau. Sie ist Herausgeberin bzw.
Übersetzerin von
Bulat Okudshawa,
Irina Ehrenburg, Ljudmila
Petruschewskaja, Jelena Bulgakowa, Sergej Samjatin,
Daniil Granin u.
a. sowie Publizistin und Autorin von Radiofeatures zum Thema
Russland."
Wieder einmal sei (für Verlag und
Übersetzerin) angemerkt, dass es
nicht "seit alters her" heißt (S. 259), sondern "seit alters oder "von
alters her".
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
* Juri Rytchëu
wurde 1930 in Uëlen auf Tschukotka geboren und starb im Mai 2008 in
St. Petersburg.
** "Was eigentlich ist Weltliteratur?" fragt Horst Lauinger in "Zum
Geleit" des MANESSE-Almanchs auf das 60. Verlagsjahr 2004. Und er
antwortet: "Das, was leidlich übers dichterische Mittelmaß hinausragt?
Was sich zeitbedingter Mode widersetzt? Was "in unvermindertem
Jugendglanz durch die Jahrtausende geht", wie Schopenhauer so
schön sagt? (...) Doch ist nicht auch wahr, daß Schätze - trotz der
Inspiration, die sie befördern - über die Jahrhunderte hinweg
unentdeckt bleiben? Daß es eben auch im Klassischen Gezeiten gibt,
durch die bereits glücklich Geborgenes wieder der Vergessenheit
anheimfällt? Mit Blick auf die Bedingtheit des kanonisch Aufgehobenen
mag manch einer sogar Valéri [
] recht geben, der behauptet hat, der Ruhm von heute gehe bei
der Vergoldung älterer Werke nicht planvoller vor als ein Brand oder
ein Holzwurm beim Zerstörungswerk in einer Bibliothek." (Aus: Vom
Glück des Lesens und Gelesenwerdens, MANESSE Almanach auf das 60.
Verlagsjahr, MANESSE Verlag, Zürich 2004)
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Am 31.03.2008 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
24.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Wahres Mitgefühl findet keine Worte. |
Sprichwort der Tschuktschen |
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