Belletristik REZENSIONEN

Ein usbekisches Sittengemälde?

Usbeke
Das Jahr des Skorpions
Aus dem Usbekischen von Ingeborg Baldauf
J&D Dağyeli Verlag, Berlin 2002, 290 S.

Zu DDR-Zeiten erschienen (vorrangig im Berliner Verlag Volk und Welt) zahlreiche mittelasiatische Autoren: Kasachen, Kirgisen, Tadshiken, Turkmenen, Usbeken, meist übersetzt aus dem Russischen. Von allen "überlebt" hat die Wende - soviel ich weiß - nur einer: der Kyrgyse Tschingis Aitmatow. Neu verlegt wurden inzwischen der Kasache Muchtar Schachanow  und der Uigure Lekim Ibragim. Nun erschien endlich auch wieder ein Buch von einem Usbeken, ins Deutsche übersetzt aus seiner Muttersprache, dem Usbekischen. Ist die Übersetzerin Österreicherin? Einige Wendungen sind mir ganz und gar ungeläufig, wenn es z. B. heißt: "Wie zufleiß hatte Herr Murad Kosha an diesem Tag besonders viel zu laufen."

Uchqun Nazarov, geboren 1934 in Taschkent, ist Filmregisseur und Schriftsteller.  Der Roman Das Jahr des Skorpions entstand 1987/88 und spielt während des zweiten Weltkrieges. Warum er sich einem Geschichtsstoff zugewandt habe, wurde Nazarov nach seiner Buchlesung im Berliner "Haus der Kulturen der Welt" gefragt, wo doch die Gegenwart so spannend sei. Zum einen, antwortet er, habe er das Buch bereits in den achtziger Jahren, also noch zu Sowjetzeiten, geschrieben, zum anderen könne er nur über Geschehnisse schreiben, die er selbst erlitten und durchlebt habe und drittens könne er seine Themen nicht einfach wechseln, wenn der Wind sich drehe. Außerdem bestätigt Nazarov auf eine weitere Frage, sollte es eine Trilogie werden - was er beim Schreiben dieses ersten Bandes noch nicht vorgehabt hatte.

In Das Jahr des Skorpions steht der Emporkömmling Murad Kosha im Mittelpunkt, der aus der bitteren Kriegsnot der Menschen Profit schlägt und sie mitleidslos ins Unglück stürzt: So eignet er sich Grund und Boden an, indem er die junge Oynisa, deren Vater als "Volksfeind" gilt, mit ihrer kleinen Tochter Jamila des Dorfes verweist. Oynisa, deren Mann im Krieg fällt, heiratet in ihrem neuen Dorf einen Witwer, der als Kolchosvorsitzender, weil er seinen Plan nicht erfüllt, nach Sibirien verbannt wird. Die schüchterne und zugleich tapfere Oynisa wird dem Leser ans Herz wachsen... Murad Kosha schont selbst die eigene Familie nicht, auch sie fällt seinen Intrigen zum Opfer: Damit seine Tochter Muqaddas nicht den armen Schlucker heiratet, den sie liebt, lässt er ihn zum Militär einziehen; damit sein Sohn nicht das arme Waisenmädchen heiratet, lässt er sie als "Prostituierte" verhaften. Murad Kosha, hat durch Betrug viel Geld angehäuft, gute Beziehungen, überall "Freunde", die ihm für ein Trinkgeld willfährig zu Diensten sind.

Über was für grausame Foltermethoden hat man nicht schon gelesen (auch über Vergewaltigungslager in Bosnien), aber eine Folter in diesem Buch will mir einfach nicht aus dem Kopf: Murad Kosha hat dafür gesorgt, dass Zahro, die Liebe seines Sohnes, (unschuldig) ins Gefängnis kommt. Am zehnten Tag ohne Verhör wird ein Mann zu ihr in die Zelle gesperrt. "Der Mann tat alle Schweinereien, die ihm einfielen (...)  Schon kurze Zeit darauf brachten sie einen anderen. Der neue war noch ärger als der vorige. Zahros zerquetschte Brüste und Schenkel waren blau und grün, sie schwollen an, an ihrem Hals blieben Bisswunden (...) Danach brachten sie keine Männer mehr zu Zahro, die mit ihrem zerzausten Haar, den blutunterlaufenen Beulen am ganzen Körper und dem verschwollenen Gesicht nicht mehr `zu gebrauchen´ war." Zahro erhängt sich am Fenstergitter mit einem Seil, das sie aus den Lumpen ihres Kleides gedreht hatte. Den Sohn, der von all dem nichts weiß, lässt Murad Kosha in den Krieg ziehen.

Der Verlag nennt Das Jahr des Skorpions "ein Sittengemälde" der usbekischen Gesellschaft zur Zeit des zweiten Weltkrieges. Das hört sich so an, als seien solche menschlichen Gemeinheiten typisch usbekisch. Ein Sittengemälde bietet sich jedoch durch die Schilderung vieler Sitten und Bräuche, zum Beispiel der Hochzeitsbräuche und Totenzeremonien. Uchqun Nazarov erzählte während seiner Buchlesung in Berlin, dass alle seine Bekannten prophezeit hätten, dass er einmal Pferdezureiter werden würde. Gut, dass er es nicht geworden ist, denn dann gäbe es dieses interessant-exotische Buch nicht.

Leider finden sich - von sehr vielen Druckfehlern abgesehen - zwei unterschiedliche Schreibweisen für ein und dieselben Personen. So wird der Nationaldichter der Turkmenen und Usbeken auf S. 273 Navoij und auf S. 289 Navoi geschrieben und der Gelehrte und Lieblingsenkel des Timur Lenk (Tamerlan) mal Ulughbek (S.273), mal Ulugh Beg (S. 290). Sollte man über solche Kleinigkeiten großzügig hinweggehen? Für mich gehört zu einem guten Buch auch die gute redaktionelle Arbeit eines Verlages.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

Der J&D Dağyeli Verlag, Berlin, schreibt am 21. Januar 2004 an www.reller-rezensionen.de (gekürzt)

Ihr Rezensionsprojekt finde ich ein gutes und wichtiges Unterfangen; zumal es nicht allzu viele sachkundige Rezensenten zur Literatur der ehemaligen Sowjetvölker zu geben scheint; das legt zumindest die überwiegende Anzahl der Besprechungen zur Frankfurter Buchmesse nahe.

Ja, die Übersetzerin ist tatsächlich Österreicherin, z. Zt. Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelasienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, und nebenbei, die profundeste Kennerin usbekischer Literatur und Kulturgeschichte. Wir haben im Lektorat etliche Regionalismen ins "Hochdeutsche" übersetzt, nicht jedoch an sämtlichen Stellen, das das Hochdeutsche doch eher ausdrucksarm und an vielen Stellen Schwierigkeiten macht, die usbekische Wendung korrekt wiederzugeben.

Die Druckfehler sind auch uns ein Ärgernis und dem enormen Zeitdruck geschuldet, das Buch rechtzeitig zur Lesung Uchquns aus der Druckerei zu erhalten. Die ersten Exemplare kamen denn auch erst an jenem Dienstag mit der Expresspost. Das gilt auch für die unterschiedliche Schreibung Navois, die auch im Usbekischen nicht einheitlich ist. Das Usbekische wurde noch in den 20ern mit Lateinschrift wiedergegeben; nach der oktroyierten Kyrillisierung wurde mit der Unabhängigkeit beschlossen, die Lateinschrift wiedereinzuführen. Die Mitglieder der damit beauftragten Kommission kannten jedoch nicht mehr das alte lateinische System, sondern orientierten sich an der englischen Umschrift. Während des sehr langwierigen und diskussionsintensiven Lektorats wurde die Umschrift mehrmals geändert, so dass die Vereinheitlichung auch dem Zeitdruck zum Opfer fiel. Als kleiner Verlag konnten wir nur zwischen Pest und Cholera wählen.

Mit freundlichen Grüßen

Mario Pschera

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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 23.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Bete niemanden an, den du nicht genau kennst.
Sprichwort der Usbeken

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