Belletristik REZENSIONEN | |
Von Hexen, Teufeln, Heiligen und einem äußerst armen Abschreiber | |
Nikolaj Gogol | Russe (Ukrainer) |
Meistererzählungen | |
Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Bruno Goetz Zeichnungen von Walter Roshardt MANESSE Bibliothek der Weltliteratur Manesse Verlag, Zürich 2002, 528 S. | |
Als Meistererzählungen wurden von Bruno Goetz - der auch als
Übersetzer und Nachwortschreiber zeichnet - diese Geschichten
Nikolaj Gogols ausgewählt:
"Der Jahrmarkt von Ssorotschinzy*", "Die
Johannisnacht", "Der verlorene Brief", "Die Mainacht", "Furchtbare
Rache", "Die Nacht vor Weihnachten", "Der Wij",
"Die Nase" und
"Der Mantel". Die meisten dieser Erzählungen sind von einem ganzen
Schwarm Hexen, Teufeln, Erdgeistern, Engeln und Heiligen bevölkert. Mir
sagen sie inhaltlich heute nicht mehr viel, doch die Sprachkraft Gogols weiß ich durchaus zu schätzen.
Nikolaj Wassiljewitsch Gogol wurde 1809 im ukrainischen Marktflecken Sorotschinzy geboren. Sein Vater war Gutsbesitzer mit wissenschaftlichen und literarischen Interessen. Er hat Gedichte und Komödien geschrieben, die von den ukrainischen Literaturhistorikern heute noch geschätzt werden. Seine Mutter war eine stille versonnene Frau, die Tapferkeit und Lebensklugheit mit religiösen und mystischen Neigungen verband. "Vom Vater stammt das Dämonische und Phantastische in Gogols Natur, die spielerische Freude am Erzählen, die Lust am Unheimlichen und an grotesker Komik; von der Mutter, die besonders in seiner Spätzeit immer deutlicher hervortretende und alles andere verdrängende Religiosität, mit der er die wilde Dämonie seines Wesens zu bannen versuchte." - "Der Name meiner Mutter war Maria, der meines Vaters Wassili", lässt der schwedische Autor Kjell Johansson den Schriftsteller in "Gogols Welt" sagen. "Ich selbst heiße Nikolai, und mein Bruder, der ein Jahr jünger war, Iwan. Im Laufe der Zeit kamen meine Schwestern zur Welt, Anna, Elizaveta, Maria und Olga. Es wurden noch mehr geboren, aber sie überlebten nicht. Unser Gut Wassiljewka war seiner Größe nach unbedeutend, aber wir, die wir dort wohnten, waren es nicht. (...) Zweihundert Seelen gehörten zu uns: die Leibeigenen im Dorf Sorotschinzy. Es lag im Gouvenement Poltawa, das zur riesigen Ukraine gehörte, die wiederum Teil eines noch riesigeren Reiches war, das regiert wurde von unserem hochgeehrten Zaren Alexander I." Gogol, der sich als Russe fühlte und Russisch schrieb, war seiner Abstammung nach kein Russe, sondern Ukrainer (Kleinrusse, wie die Ukrainer damals genannt wurden); in vielen seiner Erzählungen gestaltet er das bunte, vielfältige Volksleben seiner ukrainischen Heimat. Mit seinen Erzählungen, schreibt der Literaturwissenschaftler Reinhard Lauer, "traf er eine `kleinrussische´ (ukrainische) Strömung, die das russische Publikum erfaßt hatte. (...) Für die Großrussen [Russen] verband sich die Vorstellung vom `Kleinrussischen´** mit dem Humor und der Sangesfreude, den alten Volksbräuchen, Legenden und magischen Überlieferungen der Ukrainer. Ihre Sprache galt als ein rustikaler, komisch gefärbter Dialekt des Russischen." Aber nicht nur Gogol war kein reiner Russe. Viele der großen russischen Dichter des neunzehnten
Jahrhunderts sind ihrer Abstammung nach, nicht reine Russen gewesen. In den Adern
Alexander Puschkins floss afrikanisches Blut. Dennoch:
Puschkin ist der Schöpfer der russischen Dichtersprache. Sein etwas
jüngerer Zeitgenosse Michail Lermontow war halb spanischen Ursprungs:
die Lermontows stammten von den Grafen Lerma ab. Graf Lew (Leo)
Tolstoj
(zu deutsch: Dick) ist der Nachkomme einer deutschen Familie Dicke, die in
Russland eingewandert war
und dort wegen hervorragender Dienste in den Grafenstand erhoben wurde.
Fjodor Dostojewskij, dessen russischer
Familienname nicht der ursprüngliche Name seiner Vorfahren war, sondern
sich von ihrem Landgut Dostojewo herleitet, war der Spross eines adligen
normannisch-litauischen3 Geschlechts; auch Dostojewskijs Mutter war nicht
Russin, sondern Ukrainerin. Eine ähnliche Mischung des Blutes ließe sich
noch bei einigen anderen russischen Dichtern nachweisen.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Am Wortanfang mit zwei "ss" geschrieben, um anzuzeigen, dass Ssorotschinzy stimmlos gesprochen wird. ** Fürst Pëtr Kropotkin, ein hervorragender Kenner der russischen Literatur schreibt in "Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur", erstmals deutsch erschienen 1906: "Kleinrußland unterscheidet sich bedeutend von den zentralen Gebieten des Reiches, d. h. von dem Lande um Moskau, das als Großrußland bekannt ist. Es ist sehr südlich gelegen, und alles Südliche hat immer eine gewissen Anziehungskraft für Leute aus dem Norden. Die Dörfer in Kleinrußland sind nicht in Straßen angelegt wie die in Großrussland, sondern die weißgestrichenen Häuser sind wie in Westeuropa in einzelne kleine Farmen zerstreut, deren jede von reizenden kleinen Gärten umgeben sind. Das angenehme Klima, die warmen Nächte, die melodische Sprache, die Schönheit der Rasse, wahrscheinlich eine Mischung von südslavischem mit türkischem und polnischen Blut, die malerische Kleidung und die lyrischen Gesänge - alles das macht Kleinrußland besonders anziehend für die Großrussen. Überdies ist das Leben in den kleinrussischen Dörfern poetischer als in denen Großrußlands. Es besteht mehr Freiheit in den Beziehungen zwischen jungen Männern und jungen Mädchen, die zwanglos vor ihrer Heirat zusammenkommen. Die strenge Abschließung der Frauen, die von byzantinischen Gewohnheiten her Moskau aufgenötigt wurde, existiert nicht in Kleinrußland, wo der Einfluß Polens überwog. Die Kleinrussen haben sich außerdem zahlreiche Traditionen und epische Gedichte und Lieder erhalten aus den Zeiten, da sie noch freie Kosaken waren und gegen die Polen im Norden und gegen die Türken im Süden fochten. Gewohnt, die griechisch-orthodoxe Religion gegen diese beiden Völker zu verteidigen, hängen sie strikt der russischen Kirche an, und man findet in ihren Dörfern nicht die Leidenschaft für scholastische Diskussionen um den Buchstaben der Heiligen Schrift, wie man ihr so oft in Großrußland unter den Nichtkonformisten begegnet. Ihre Religion hat durchweg einen mehr poetischen Charakter. - Die kleinrussische Sprache ist sicher melodischer als die großrussische, und es besteht jetzt eine Bewegung zugunsten ihrer literarischen Entwicklung; aber diese Entwicklung steht erst noch bevor, und Gogol tat sehr weise, indem er großrussisch schrieb - d. h. in der Sprache Žukovskijs (Shukowskis), Puškins (Puschkins) und Lermontovs. Wir haben so in Gogol eine Art Verbindung beider Nationalitäten. - Es würde unmöglich sein, hier einen Begriff von dem Humor und Witz in Gogols Novellen aus dem kleinrussischen Leben zu geben, ohne ganze Seiten zu zitieren. Es ist das gutmütige Lachen eines jungen Mannes, der sich der Lebensfülle freut und der selbst über die komischen Situationen lacht, in die er seine Helden gebracht hat: den Dorfsänger, den reichen Bauern, die Dorfmatrone oder den Dorfschmied. Er ist ganz glücklich; keine dunkle Ahnung stört ihn in seiner Lebensfreude. Aber trotzdem werden diejenigen, die er schildert, nicht aus der Absicht des Dichters heraus komisch gestaltet, sondern Gogol bleibt immer der Wirklichkeit peinlich treu. Jeder Bauer, jeder Sänger ist dem wirklichen Leben entnommen, und Gogols lebenstreue Schilderung ist fast ethnographisch, ohne je aufzuhören, poetisch zu sein. Alle abergläubischen Gebräuche im Dorfleben an einem Weihnachtsabend oder in einer Mittsommernacht, wo die Geister des Unheils und die Kobolde bis zum ersten Hahnenschrei ihr Wesen treiben, werden dem Leser vorgeführt, und zwar mit dem ganzen Witz, der dem Kleinrussen eigen ist. Erst später schlug Gogols komische Ader in das um, was als Humor bezeichnet werden kann, d. h. eine Art Kontrast zwischen der komischen Umgebung und der traurigen Lebensunterlage, ein Humor, der Puškin von Gogols Schöpfungen sagen ließ, daß man hinter seinem Lachen die ungesehenen Tränen wahrnehmen kann." | |
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Am 24.05.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Das Gewissen nagt an einem ohne Zähne. | |
Sprichwort der Russen |
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