Belletristik REZENSIONEN |
Beichte im Angesicht des Todes
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Jewsej Zeitlin
Lange Gespräche in Erwartung eines glücklichen Todes
Aus dem Russischen von Vera Stutz-Bischitzky Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2000, 319 S.
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Russischer Jude; über die Litauischen Juden (Litwaken) |
Neunzig Prozent der Litauischen Juden wurden von den Nazis umgebracht.
Darüber schreibt die "litauische Anne Frank"
Mascha Rolnikaite in
ihrem Tagebuch. Einer der wenigen Überlebenden des Holocaust ist der
Dramatiker Jokubas Josade (1911-1995). In dem Buch mit dem
anspruchsvollen Titel Lange Gespräche in Erwartung eines glücklichen
Todes erzählt er dem Autor, dem Literaturwissenschaftler Jewsej Zeitlin, sein Leben. Besser: Er beichtet es ihm.
Der orthodoxe Jude Zeitlin aus dem
sibirischen Omsk übersiedelte
Anfang der neunziger Jahre in die litauische Hauptstadt Vilnius, um die Geschichte der letzten Litauischen
Juden zu dokumentieren, die den
zweiten Weltkrieg, den Holocaust und den
Terror Stalins überlebten; die Gespräche dauerten fünf Jahre - von 1990
bis 1995 -, bis Jokubas Josade im Alter von vierundachtzig Jahren starb.Josade war es
1941 durch die Bekanntschaft mit einem zuständigen Beamten für die
Deportation der Litauischen Juden nach Sibirien gelungen, sich und seine Familie von der Deportationsliste zu streichen. Im
zweiten Weltkrieg
überlebte er in seinem Bataillon von 128 Mann als einer von Vieren. Als
die Nazis Litauen
besetzten, wurden Josades Eltern und Geschwister von
den Nazis ermordet, Jokubas Josade überlebt. Warum, fragt er sich
während seiner Gespräche mit Jewsej Zeitlin. Und er gibt sich selbst die
Antwort: um seine zwölf Theaterstücke über jüdisches Leben zu schreiben.
Um nicht Opfer von Stalins aggressivem
Antisemitismus zu werden,
litauisierte er seinen jüdischen Vornamen von Jakob in Jokubas, begann mühevoll
Litauisch zu schreiben, verbrannte seine jiddischen
Manuskripte und fast seine ganze Bibliothek. Doch die Angst wich nicht,
das Schweigen, selbst vor Angehörigen und Freunden wurde zur Existenzform.
Dennoch entschied sich Jakubas Josade gegen eine Auswanderung nach
Israel (auch als seine Tochter nach Israel ging) und nahm ein Leben in
Anpassung und Selbstverleugnung in Kauf.
Das Buch, das Zeitlin aus den fünf Jahre währenden Gesprächen
erarbeitet hat - nach Tonbandaufzeichnungen und Tagebuchnotizen - ist an
vielen Stellen erschütternd, vor allem dann, wenn es um die Ängste Josades vor den Organen der Staatssicherheit geht. Zum Beispiel wird
sein bester Freund verhaftet und Josade, der im gleichen Haus wie die Frau seines Freundes
arbeitet, wagt es nicht, ein einziges Wort mit ihr zu wechseln, obwohl er
ihr täglich begegnet. Unfassbar, dass sich die beiden
Familien nach der Freilassung des Freundes wieder regelmäßig treffen, als
sei nichts geschehen... Für mich dokumentiert dieses Ereignis, wie sehr
jeder selbst in Angst war und wie selbstverständlich man die Ängste des
anderen akzeptierte. Alles aus seinem langen Leben, auch dieses
beschämende Geschehen, vertraut Jokubas Josade seinem Gesprächspartner
an, der für den sich einsam fühlenden alten Mann ein Freund wird.
Das Buch, das sich keinem Genre zuordnen lässt, handelt auch vom Untergang
der jüdischen Kultur während der
Sowjetära und vom tabuisierten
Verhältnis der Juden und Litauer heute. Jewsej Zeitlin: "Die Gedankenwelt
und das Bewusstsein eines Menschen, der dem Tod entgegengeht - das ist
der Gegenstand meines Berichts. Sie bestimmen den Tonfall, diktieren das Sujet."
Warum, so mag sich der eine oder andere Leser fragen, hat der prominente jüdisch-litauische
Schriftsteller seine Memoiren nicht selbst verfasst? Weil er, so sagt er
an einer Stelle des Buches, sich zu alt und zu müde fühlte. Zeitlin sortiert
die Ereignisse für sein Buch nicht nach den Jahren, sondern nach
Inhalten. Und so gliedert es sich in Kapitel wie "Versuch der
Selbsterkenntnis", "Das Antlitz des Todes", "Das Leben im Lichte des
Todes", "Der Mensch an der Schwelle"... Lange Gespräche in Erwartung
eines glücklichen Todes erschließt sich also nicht als
chronologische Abfolge. Was der alte Mann an der Schwelle des Todes
seinem Gesprächspartner anvertraut, ist weit mehr als ein
erschütternder Lebensbericht, ist eine Lebensbeichte. Und Zeitlin
gelingt es, zum unverzichtbaren Begleiter eines Menschen zu werden, der
sich kurz vor dem Tod rückhaltlos der tragischen Wahrheit seiner
Biographie stellt.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 19.09.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
26.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Das Alter pflügt das Gesicht auch ohne Pflugschar.
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Sprichwort der Litauischen Juden |