Sachbuch REZENSIONEN | |
Verdammt zum Verbluten und zum Verrecken... | |
Alexandra Cavelius | Über Tschetschenien |
Die Zeit der Wölfe | |
Eine tschetschenische Familie erzählt Ullstein Berlin Verlag, München 2002, 399 S. | |
Alexandra Cavelius, Journalistin und Sachbuchautorin, schrieb auch das
sehr beeindruckende Buch "Leila - der Lebensbericht eines bosnischen
Mädchens", das mit fünfzehn Jahren aus einer idyllischen Kleinstadt nahe bei
Sarajewo verschleppt und in ein Konzentrationslager gesperrt wurde.
Leila stellte sich dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag als
Hauptkronzeugin zur Verfügung. In Zeit der Wölfe treten als
Augenzeugen die Mitglieder einer tschetschenischen Familie auf: die
Mutter, ihre zwei Söhne und eine Tochter. Sie erzählen von ihrer Kindheit, der Zeit der
Sowjetmacht, der Unabhängigkeit,
dem ersten Krieg, dem
Leben danach, der Flucht, der Aufnahme in Deutschland; in Berlin leben
zur Zeit etwa zweihundertfünfzig Tschetschenen.
Ich weiß nicht, was an dem Buch Die Zeit der Wölfe mich mehr erschüttert hat: die grausamen Kampfhandlungen oder einige der tschetschenischen Sitten und Bräuche, vor allem die noch heute (!) übliche Blutrache und die zwangsweise Verheiratung blutjunger Mädchen. Bis ins Detail werden diese und viele andere Bräuche geschildert, deren Grundlage das Adat ist, das Sittengesetz der tschetschenischen Berge. Viele Sitten laufen darauf hinaus, die Tschetschenen hart, freiheitsliebend und kampfstark zu machen. Im Band 3 des "Archipel GULag" schreibt Alexander Solschenizyn: "Es gab indes [im Verbannungsgebiet] eine Nation, die der Psychologie der Unterwerfung standgehalten hatte - als Nation, als Ganzes, nicht nur die Einzelgänger, nicht nur die Rebellen. Das waren die Tschetschenen. (...) Nie und nirgendwo hat es einen Tschetschenen gegeben, der sich um die Gunst eines Natschalniks bemüht hätte; immer traten sie jeder Obrigkeit stolz, ja sogar offen feindselig entgegen. (...). Und seht das Wunder - alle fürchteten sich vor ihnen. Niemand vermochte sie daran zu hindern, auf diese Art zu leben." Auch die tschetschenische Nationalhymne fordert den Stolz der Tschetschenen und kennt nur Freiheit oder Tod, nichts Drittes: Wir sind geboren in der Nacht, als die Wölfin Junge warf./Früh, beim Löwengebrüll gab man uns unsere Namen./In Adlernestern fütterten uns unsere Mütter,/Stiere zu zähmen lehrten uns unsere Väter.// Unsere Mütter weihten uns unserem Volke und unserem Lande./Wenn sie uns brauchen, stehen wir ohne Furcht auf. / Wir wuchsen mit Bergadlern in der Freiheit auf. / Schwierigkeiten und Hindernisse überwanden wir mit Würde. // Eher schmelzen die Feuersteinfelsen zu Blei, / als dass wir in Leben und Kampf unsere Würde aufgeben, / Eher bricht die Erde durch die brennende Sonne, / als dass wir unsere Ehre verraten. // Nie sind wir irgendjemanden untertan. / Entweder Freiheit oder Tod. / Ein Drittes gibt es für uns nicht. / Unsere Schwestern heilen unsere Wunden mit Liedern, / die Augen unserer Geliebten geben uns Kraft für den Kampf. // Beugt uns der Hunger, werden wir an den Wurzeln nagen. / Krümmt uns Durst, werden wir Tau vom Gras trinken. / Wir sind geboren in der Nacht, als die Wölfin Junge warf. / Diener sind wir nur Gottes, des Volkes und des Vaterlandes. // Subar, die Mutter, ist mit fünfzehn Jahren verheiratet worden. Sie flüchtete vor ihrem alkoholabhängigen, prügelnden Mann mit ihren drei Kindern (die laut ungeschriebenem Gesetz bei einer Trennung grundsätzlich bei den Schwiegereltern bleiben müssen) in die Hauptstadt Grosny. Da ist Mowgli, der älteste Sohn acht Jahre; der jüngere Sohn Umar fünf; die Tochter Saira noch kein Jahr alt. Wie in dem Kapitel "Kindheit" erzählt auch in allen anderen Kapiteln einerseits jeder über die gleichen Ereignisse aus seiner individuellen Sicht oder jeweils aus seinem Erlebnisbereich (z. B. im Krieg, in dem sie ihr Leben ja nicht gemeinsam lebten). Durch diese verschiedenen Perspektiven entsteht eine große Spannung. Man ahnt auch, wie viel Recherche- und Redaktionsarbeit hinter Alexandra Cavelius liegt. Vor dem Krieg hatten Russen und Tschetschenen friedlich miteinander gelebt, in Grosny war die Hälfte der Bevölkerung russischer Nationalität. Umar: "Vor dem Krieg wusste ich nicht, welcher Nationalität ich angehörte." - Saira: "Durch den Krieg hatte sich unser Verhältnis zu den russischen Mitbewohnern nicht geändert. Wir unterschieden nicht zwischen Russen und Tschetschenen, sondern zwischen Besatzern und Besetzten." Nach dem Krieg dann machten sich in Tschetschenien tausende von Wahhabiten breit. Mowldi in seiner Aussage: "Die Wahhabiten legten unsere Religion nach ihren Regeln aus. Und was islamisch war, bestimmten alleine sie (...). Diese Ausländer verurteilten genau das, was uns heilig war. Nirgendwo in der muslimischen Welt mochte man diesen totalitären Islam - nur in Saudi-Arabien und im Afghanistan der Taliban. Was hatte das Ganze mit uns zu tun? Ein echter Tschetschene fühlte sich seinem Familienklan und seinen Bräuchen am nächsten, nicht seinen muslimischen Glaubensbrüdern." Umar: "Zu den Wahhabiten gehörten Araber und Schwarze. Die Anführer fuhren meist dicke Autos, besaßen große Waffenarsenale und trichterten den Leuten ihren religiösen Hass ein. Bevorzugte Opfer waren junge Männer, die wegen des Krieges die Schule abgebrochen hatten und arbeitslos herumlungerten. Eben Leute wie meine Freunde und ich. (...) Es war bekannt, dass Gelder aus muslimischen Staaten wie Pakistan oder Saudi-Arabien, aber auch aus Afghanistan von Terroristen wie Osama bin Laden flossen." Diese Wahhabiten mit ihrem schwarzen weiten Hosen, den großen Hemden und dem langen Bart, der nicht geschnitten werden durfte, führten in Tschetschenien das streng islamische Scharia-Gericht ein. Und dieses Scharia-Gericht verurteilte die Mutter Subar zum Tode, weil sie in Notwehr vier Söldner, darunter einen tschetschenischen Verräter, erschossen hatte. Die Familie des getöteten Tschetschenen forderte Blutrache. Das ganze nicht etwa ein historischer Roman, sondern bittere Gegenwarts-Wahrheit. Durch die Blutrache-Forderung der islamischen Fundamentalisten wird die vierköpfige Familie aus ihrer Heimat vertrieben. Auf lebensgefährliche Weise erreichen die Vier auf unterschiedlichen Wegen Deutschland, wo sie heute leben. Die engagierte Journalistin Sonia Mikich schreibt in ihrem Vorwort zu Die Zeit der Wölfe: "Heute schwelt ein zweiter Tschetschenienkrieg. Das Sterben, die Vertreibung, die Menschenrechtsverletzungen haben nicht aufgehört. Doch niemand spricht mehr von diesem Stück Erde, das zum Verbluten und Verrecken verdammt ist. Denn der Westen erhob die `Nichteinmischung in Russlands innere Angelegenheiten´ zum Mantra. Zwar beschwören unsere Politiker die universellen Werte der westlichen Zivilisation, aber bei ihrer `Realpolitik´ unterscheiden sie doch zwischen Krisen erster und zweiter Klasse. Die Toten, Verletzten, Vertriebenen und Traumatisierten im Kaukasus sind ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr wert." Am 16. August 2005 berichtete die Presse, dass die
beiden Kriege in Tschetschenien bisher 160 000 Menschen das
Leben gekostet hat. Etwa 30 000 bis 40 000 Opfer seien ethnische Tschetschenen.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Mit Vaters Tod kommt das Dach runter, mit Mutters Tod wird das ganze Haus zerstört. | |
Sprichwort der Tschetschenen |
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