Belletristik REZENSIONEN |
Echte russische Küche: Singen und Hopsen statt Klopsen
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Wladimir und Olga Kaminer |
Gebürtige Russen; mit deutscher Staatsangehörigkeit |
Küche totalitär
Das Kochbuch des Sozialismus Mit
Illustrationen von Vitali Konstantinov
Wilhelm Goldmann Verlag, München 2006, 223 S. |
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Sollten Sie zu denjenigen gehören, die sich aus Überzeugung "becel"
aufs Brot kratzen, so sollten Sie nur die Texte von
Wladimir Kaminer
(geboren 1967 in
Moskau) lesen und die Rezepte, getreulich zusammengetragen von
Olga Kaminer
(geboren 1966 auf der fernöstlichen
Insel Sachalin), keines Blickes würdigen; denn fast alle Gerichte
werden hier mit Butter zubereitet und an Eiern wird nicht gespart. Das
aserbaidschanische
"Grünkükü" - eine Vorspeise - zum Beispiel verlangt acht Eier, der
lettische
"Hasenkäse" - ein Hauptgericht - sogar neun.
Die Kaminers haben für ihr Kochbuch des Sozialismus zehn
ehemals sowjetische Regionen ausgewählt: sieben von den heute fünfzehn unabhängigen Republiken
(Armenien,
Weißrussland
(Belarus),
Georgien,
Ukraine,
Aserbaidschan,
Usbekistan,
Lettland), eine autonome Republik innerhalb der
Russischen
Föderation (Tatarstan) und zwei Landstriche (
Sibirien und
Südrussland).
In seiner Einleitung beklagt
Kaminer, dass es in Deutschland
wenige Lokale gibt, die russische
Küche anbieten und amüsiert sich über Deutsche, die einen
"Russenknall" haben. Dieser Russenknall, so weiß
Kaminer, "erklärt
sich ganz einfach: Entweder hat die betreffende Person in
Russland
studiert oder dort an einer Eisenbahnlinie mitgebaut oder hier oder
dort eine Russin geheiratet." Es gibt auch noch einen weiteren Grund
für einen, zum Beispiel meinen Russenknall: Ich war als Reporterin der
Illustrierten FREIE WELT über einhundert Mal im weiten Russenland, habe dort
liebenswerte Freunde gefunden und leide darob an dieser
unheilbaren Krankheit.
Den einzelnen regionalen Kochrezepten hat Kaminer (1990 nach
Deutschland übergesiedelt) jeweils zwei Einführungskapitel
vorangestellt. Das eine hat immer einen historisch-geopolitischen
Charakter, das andere ist aus persönlichem Erleben gespeist. Natürlich
sind alle Texte humorvoll, ironisch, witzig á la Kaminer. So schreibt er
- der meistgelesene deutsch schreibende Autor, den die "taz" den
"Quotenpoet vom Dienst" nennt - dass bei den
Armeniern jeder Fremde herzlich
willkommen sei - "abgesehen von den Bürgern der unmittelbaren
Nachbarländer"; Weißrussland (Belarus) nennt er "eine Art Naturpark
mit Partisanen darin", in dem unter dem "ehemaligen
Kolchosvorsitzenden Lukaschenko alles erlaubt und zugleich verboten ist"; bei einer
ukrainischen Hochzeit, so Kaminer spöttisch, gäbe es eigentlich nur einen
Gang, "aber der kann bis zu drei Tage dauern. Das gemeinsame Essen
darf nur von Trinksprüchen und kurzen Prügeleien unterbrochen werden." Wladimir Kaminer macht uns auch mit einem belorussischen Soldaten bekannt, der
mit Hilfe von Vaseline und einem Bügeleisen Bratkartoffeln zubereitet
und erzählt von einem ostdeutschen Gaststudenten, der wegen der
überschwänglichen aserbaidschanischen Gastfreundschaft zum Vegetarier
wird.
Kaminer schreckt bei seinen witzigen Kapitelchen auch vor großen
Ereignissen und politisch-brisanten Vorkommnissen nicht zurück. So heißt es bei der
Ukraine lapidar: "Im April 1986 ereignete sich auf
ukrainischem Territorium eine der schrecklichsten Katastrophen des
zwanzigsten Jahrhunderts - die Havarie des
Tschernobyl-AKWs.
Das war das Ende der Früchtemanie." - Über Südrussland lesen wir: "Der Berg von Vorurteilen und alten Rechnungen, die
Verbreitung der Feuerwaffen, die hier in der Gegend zu jedem
nationalen Kostüm quasi dazugehören, sind einfach zu groß.
Infolgedessen kann jede kleinste Auseinandersetzung sofort die ganze
Region in ein Blutbad stürzen. Dazu kommt noch das berühmte
kaukasische Temperament - ein gequetschter Fuß in der Straßenbahn, ein
unvorsichtiges Wort und schon brennt die Luft. (...) Die beiden ersten
tschetschenischen Kriege haben noch mehr Waffen in den russischen
Süden gebracht. (...) Selbst wenn einer mit einer
Kalaschnikow
durch die Gegen läuft, wird er früh genug auf jemanden mit einer Stinger-Rakete treffen."
Welche beiden ersten Tschetschenienkriege sind gemeint? Der
erste Tschetschenienkrieg fand 1994/1996 statt, der zweite 1999/2000.
Und überhaupt: Die beiden
Tschetschenienkriege kosteten zweihunderttausend Menschen das Leben.
Man lese Arkadi Babtschenkos atemberaubendes Buch
"Die Farbe des
Krieges", in dem man solche Sätze lesen kann:
"Leichen treffen ein wie am Fließband.
(...) Die Körper werden geliefert, wie sie gerade anfallen,
haufenweise; zerrissen, verbrannt, aufgedunsen." Dieses Buch hat auch
ein fundiertes Nachwort zu den Ursachen der kriegerischen Auseinandersetzungen im
Kaukasus.
Von einem "gequetschten Fuß in der Straßenbahn" ist da nicht die Rede... Womit ich sagen will, dass
Kaminers Nähkästchengeplauder nicht für jeden Gegenstand gleichermaßen geeignet ist.
Im Anhang beweist Wladimir Kaminer, dass echte Russen keinen Kaviar
mögen, erzählt von der Küche seiner Mutter und dem schmackhaften "Cholodez"
und gibt zu, dass es sich bei der Behauptung, dass Russen gerne und
viel Wodka trinken um kein Vorurteil handelt.
Gestutzt habe ich bei
Moorbeeren, die in Wirklichkeit Moosbeeren heißen; bei der Rote-Beete-Suppe "Borschtsch", von deren Umbenennung in "Bortsch" mir
nichts zu Ohren gekommen ist; bei (der aus dem Englischen
transkribierten) Solyanka, die ehemalige DDR-Bürger (nicht nur
die mit einem Russenknall) noch heute als russisch-ukrainische Soljanka
zu schätzen wissen; bei "Kaliningrader Klopse", die ich mir auch
weiterhin als "Königsberger Klopse" munden lassen werde. Apropos
Klopse: Laut Kaminer ist bei einem echten russischen Essen wichtiger
zu singen und zu hopsen statt "zu klopsen"...
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
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Am 29.08.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
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Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Sprichwort der Russen |
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