Ein Buch, dachte ich, wie ich es schon x-mal gelesen habe - von jemanden, der glaubt, ein so bewegtes Leben gelebt zu haben, dass es alle Welt
interessieren müsse. Gott sei Dank las ich dieses Buch dennoch.
Es handelt von der Architektentochter Gabriele Bräuning, die, völlig unpolitisch, in den Gesprächskreis der Familie Duncker gerät. Hier wird sie
mit Politik konfrontiert und lernt Walter Haenisch kennen, das "rote Schaf" in der Familie des preußischen Kultusministers nach 1918. Ihn heiratet
sie und folgt ihm - mit zweiundzwanzig Jahren, schwanger - an das Marx-Engels-Institut nach Moskau: natürlich voller Ideale, natürlich voller Enthusiasmus,
natürlich voller Arbeitselan.
1932 wird ihr Sohn Alexander, genannt Pim, geboren. Die Familie ist glücklich in
Moskau. Drei Jahre später
erhält Walter Haenisch mit der
vorgeschobenen Begründung der Personalreduzierung seine Entlassung - in Wahrheit hat er sich durch unüberlegte Äußerungen politisch verdächtig
gemacht. Im März 1938 wird er verhaftet, da sehen sich Gabriele und Walter das letzte Mal. Als er längst schon erschossen ist, sucht sie
ihn noch immer in den Moskauer Gefängnissen, erhält sie noch immer die Auskunft, dass er zu "10 Jahren ohne Schreiberlaubnis" verurteilt sei.
Gabriele Haenich steht nun in fremdem Land mit ihrem sechsjährigen Sohn Pim allein da. Mit ungewohnter körperlicher Arbeit verdient sie sich in
einer Seidenspinnerei ihren Lebensunterhalt.
1939 lernt sie Gregor Gog kennen, der Ende der zwanziger Jahre die Vagabundenzeitschrift leitete. Sie verlieben sich ineinander, 1940 wird ihr
Sohn Stefan geboren. Welch anrührender Briefchen-Wechsel zwischen Gabi im Krankenhaus und Gregor Gog, dem glücklichen Vater.
Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, lassen sich Gabi und der schwer unter einer Wirbelsäulenverletzung leidende Gregor Gog im
Oktober 1941 mit den beiden Kindern nach Mittelasien evakuieren. Was für eine Odyssee! Nach wochenlanger Fahrt treffen sie endlich im usbekischen Fergana ein. Kein zumutbares Quartier, kaum zu essen, das Leben ist schrecklich. Zuerst stirbt Stefan an Lungenentzündung, dann Pim an
Gehirnhautentzündung. Gabi und Gregor kampieren in den verschiedensten Unterkünften mit den unterschiedlichsten Menschen, auch mit Soldaten
und Nonnen. Beide erkranken lebensgefährlich. Dann wird Gregor Gog von der Frau eines NKWD-Offiziers, die auf das Zimmer von Gregor und Gabi
neidisch ist, denunziert und daraufhin nach
Sibirien verbannt. Als er zurückkehrt, hat er zu seiner schlimmen Wirbelsäulenerkrankung, die ihn
oft tage- und wochenlang ans Bett fesselt, noch ein Blasen- und Nierenleiden. Wie tapfer ist Gabriele Haenisch! Sie steht stundenlang auf dem
orientalischen Basar, um irgend eine Kleinigkeit zu verkaufen (manchmal wird sie von anderen Hungernden bestohlen), überhaupt sorgt sie unter
den unglaublichsten Umständen um die tägliche Überlebensration. Doch überleben können die beiden nur dank der Hilfe von neu gewonnenen usbekischen,
russischen, deutschen und polnischen Freunden, die im wahrsten Sinne des Wortes ihr Blut für sie geben.
Im Oktober 1945 - als der heiß ersehnte Frieden schon da ist - stirbt Gregor. Hilferufe Gabis nach Moskau an das ZK der Partei und an Freunde
bleiben unbeantwortet. Gabriele schreibt: "Ich bitte sehr, mich nicht zu vergessen." Sie wird vergessen... Erst 1954 darf sie in ihre deutsche
Heimat zurückkehren.
Obwohl Gabriele Haenisch nun mutterseelenallein ist - ohne ihre geliebten Kinder, ohne ihre Männer, aber voller grausamer Erinnerungen, schreibt
sie am Tage ihrer Abreise nach Deutschland: "Man darf nicht mit zurückgewandtem Gesicht leben..."
Zusätzlich interessant ist das erschütternde Buch durch die vielen Menschen, mit denen Gabriele Haenisch im Laufe ihres Sowjetunionaufenthaltes
bekannt geworden war: mit Béla Balázs, Johannes R. Becher, Béla Birnbaum, Klara Blum, Bertolt Brecht, Golda Fröhlich, Hugo Huppert, Irene und
Belá Kun, Lotte Loebinger, Hannes Meyer, Walter Macke, Zensl Mühsam,
Theodor Plievier, Wilhelm Pieck, Karl Polak, Hans Tombrok, Heinrich Vogeler,
Inge und Gustav von Wangenheim, Erich Weinert...
Im Personenregister, geradezu pingelig-präzise (das ist positiv gemeint), fehlt kein einziger im Text erwähnter Name - und sei es der
Hausmeister in Gabriele Haenischs Moskauer Wohnhaus.
Aber: Was hat Gabriele Stammberger so viele Jahre später veranlasst, ihr Leben aufzuschreiben? Wer ist ihr Mitautor? Wie verlief ihr Leben mit
ihrem dritten Mann, mit Friedrich Stammberger, der fünf Jahre Haft in einem
Besserungs-Arbeitslager in Norilsk verbrachte, später Häftling, dann
Zwangsangesiedelter im dortigen Erzkombinat war. Wie gestaltete sich Gabriele Stammbergers Leben in der DDR? Schade, dass man darüber - z. B. in
einem Nachwort - nichts erfährt.
Den emotional außerordentlich ergreifenden Bericht bereichern neunzig Dokumente, private und offizielle Briefe, Tagebuchnotizen, viele erschütternde
Bittgesuche Gregor Gogs aus Usbekistan an die deutschen Genossen in Moskau...
Soeben lesen wir in der Presse, dass Gabriele Stammberger am
13.03.2005 verstorben ist. |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
Ingrid Fritz schreibt am 03.08.2008
ins Gästebuch von www.reller-rezensionen.de:
Sehr geehrte Frau Reller, Ihre Rezension zum Buch von Gabriele
Stammberger und Michael Peschke habe ich erst in den letzten Tagen
entdeckt. Ich war mit Gabriele eng befreundet. Sie werfen so
manche Frage auf, die ich ihr auch gestellt habe. Leider wurde sie
während der Arbeit an ihrem Buch krank, hatte den ersten
Schlaganfall und die Zusammenarbeit mit Michael Peschke gestaltete
sich außerordentlich schwer. Sie hatte zeitweilig schon Ausfälle
und kämpfte trotzdem um jedes Wort, um jede Formulierung. Und es
ist nur seiner außerordentlichen Geduld und seinem großen
Einfühlungsvermögen zu danken, dass das Buch am Ende doch noch
fertig wurde. Sie hat in der DDR im Dietz-Verlag als Lektorin
gearbeitet und vorwiegend Biografien bearbeitet. Es würde diesen
Rahmen sprengen, meine Erinnerungen an sie hier aufzuschreiben.
Ich würde diese ihnen aber gern persönlich mailen. Mit
freundlichen Grüßen Ingrid Fritz
Ingrid Fritz schreibt am 07.08.2008 per
E-Mail an www.reller-rezensionen.de:
|
Erinnerungen an meine Freundin Gabriele Stammberger: Nach dem Tod von
Fritz hatte Gabriele praktisch keine ihr nahe stehenden Verwandten im
Jahr 1978 mehr in der DDR, mit denen sie sich verbunden fühlte. In
diese Zeit fällt der Beginn einer langen Freundschaft mit mir und
meiner Familie, aus der sie bald nicht mehr wegzudenken war. Endlich
hatte sie Familienanschluss gefunden, der auch zu den
Weihnachtsfeiertagen nicht beendet war und wo nicht nur geredet,
sondern sehr praktisch geholfen wurde. Bei so viel gemeinsam
verbrachter Zeit begann sie plötzlich immer mehr über sich, ihre
Familie, ihre Vergangenheit zu erzählen, sie schilderte Episoden ihres
schweren Lebens, die sie bis dahin tief in sich vergraben hatte, weil
sie Angst vor diesen Erinnerungen hatte, die sie immer wieder aufs
Neue zutiefst erschütterten. Sie sagte später, dass ihr das gut getan
hat, weil man diesen Schmerz auf Dauer allein nicht ertragen kann. Und
wenn sie dann in den Arm genommen wurde, wusste sie, dass sie nicht
allein war und das machte ihr Leben erträglicher.
Bei einer ihrer Buchpräsentationen wurde sie gefragt, ob sie nach
ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion zum Schweigen verpflichtet wurde,
damit das schöne Bild vom ersten sozialistischen Staat in der Welt
nicht befleckt wurde. Sie hat diese Frage nicht beantwortet, weil es
eine solche Frage für sie nicht gab. Sie hat den realen Sozialismus
immer verteidigt, weil er trotz seiner Mängel immer noch viel besser
war als alles, was davor war und danach kam. Wie hätte sie sonst so
konsequent dafür eintreten können, was für so manchen ihrer späteren
Freunde nicht immer leicht zu verstehen war! Wo ihr doch in der
Sowjetunion so viel Leid zugefügt wurde und sie auch in der DDR vieles
durchaus kritisch betrachtete. Sie hätte ja nach ihrer Rückkehr aus
der Sowjetunion auch nach Westberlin gehen können, wo ihre Mutter noch
lebte oder nach Westdeutschland, wo ihr Bruder und eine Schwester
waren. Sie trennte sehr bewusst Inhalte von Personen und machte keinen
Hehl daraus, dass sie von der Partei- und Staatsführung der DDR wenig
hielt. Das hatte sich schon in den Gesprächen mit gleichgesinnten
Kommunisten gezeigt, die zu ihrem engsten Freundeskreis gehörten und
die eigene Erfahrungen mit ignoranten Parteifunktionären gemacht
hatten.
Sie fühlte eine echte Befreiung, als die Sowjetunion nach Breshnews Tod
endlich begann, aus ihrer Erstarrung aufzubrechen, auch als die
Berliner Mauer fiel und die Stasi zerschlagen wurde. Dass das
gleichzeitig der Beginn des Untergangs des real existierenden
Sozialismus war -- das hat sie ganz sicher so nicht gewollt. Und sie
bangte um ihre Freunde in der ehemaligen Sowjetunion, die nun
praktisch den Krieg doch noch verloren hatten und denen es nach dem
Zerfall des Sozialismus noch viel schlechter ging als vorher. Sie
empfand Wut auf die Partei- und Staatsführung der DDR, die viele
wertvolle Hinweise von Wissenschaftlern, Kombinats- und
Betriebsleitern, auch Kunst- und Kulturschaffenden in der DDR wider
besseren Wissens ignoriert und allzu oft sogar als Kritik am System
missverstanden und dadurch mit dazu beigetragen hatte, dass der
sozialistische Staat im Wettbewerb mit den kapitalistischen Ländern
immer mehr ins Hintertreffen geriet und auch dadurch zugrunde ging. In
der Zeit, als sie sich wie viele Gleichgesinnte immer mehr offen damit
auseinandersetzte, dass die so laut gepriesene Idee von Demokratie und
Freiheit in der DDR immer mehr verletzt wurde, habe ich sie einmal
gefragt: "Warum bist Du eigentlich noch Mitglied in der Partei?" Ihre
Antwort: "Weil ich überzeugte Kommunistin bin, und weil es hier keine
andere Partei gibt, die diese Lehren vertritt." Und mit dem Hinweis
auf Ulbricht, Honecker, Hager usw. fügte sie -- mit dem Fuß
aufstampfend - hinzu: "D e n Gefallen werde ich denen nicht tun, dass
ich diese Partei verlasse." Sie wollte diesen Leuten das Feld nicht
völlig allein überlassen.
Wenn sich ihre Freunde über Gabriele unterhalten, dann kommt immer
wieder zur Sprache, wie eigenwillig sie oft reagierte. Man fragte sich
dann, wie sie es trotzdem geschafft hat, einen solch großen und
interessanten Freundeskreis um sich zu scharen und auch immer wieder
jüngere Leute für sich zu gewinnen.
Sie war eine sehr kluge, belesene, lebenserfahrene Frau, die sich gut
ausdrücken konnte und der wir gern zuhörten. Ihren vielen Fragen
konnte man nur schwer entgehen. Dabei bestach sie mit einem
außerordentlich fundiertem Wissen in Geschichte, Religion,
griechischer Mythologie, Kunst und Kultur, beherrschte die deutsche
Sprache im wahrsten Sinne des Wortes perfekt und konnte sich auch in
Russisch und Englisch sowie etwas Französisch gut ausdrücken. Ihr
Wissen, das sie sich in der Schulzeit, beim Studium und in den
Zirkeln mit Hermann und Käthe Duncker angeeignet hatte, konnte sie
jederzeit rekapitulieren.
Es fiel ihr schwer, zu akzeptieren, dass nachfolgenden Generationen in
der DDR in Schule und Studium teilweise andere Inhalte gelehrt wurden,
dass auch durch die breitere Vermittlung von
naturwissenschaftlich-technischen Kenntnissen vieles aus dem Lehrplan
verschwand, was ihrer Meinung nach unbedingt dazu gehörte. Und so hat
so mancher ihrer jungen Freunde viel von ihr gelernt, was aber nicht
immer nur angenehm war, denn sie verband die Belehrung nur allzu gern
mit dem Vorwurf, dass man das eigentlich hätte selbst wissen müssen.
So gern sie sonst lachte, die Gespräche führte sie meist ernsthaft und
folgte ihren Gesprächspartnern, so lange es ihre Gesundheit zuließ,
stets hellwach und kritisch. Aber mit ihr befreundet zu sein,
bedeutete auch, sich anhören zu müssen, woran es ihrer Meinung nach
dem anderen noch fehlte: z.B. mangelnde Kenntnisse in Fremdsprachen,
Geschichte oder Kunst bis hin zum persönlichen Outfit, an dem sie
wegen Fettleibigkeit, der Frisur oder der modischen Erscheinung etwas
auszusetzen hatte. Dabei akzeptierte sie nur ungern, dass andere
vielleicht auf anderen Gebieten wesentlich mehr wussten oder ihre
besonderen Stärken hatten. Sie war wissbegierig, wollte Neues hören,
aber wenn sie nicht mehr mitreden konnte, lenkte sie lieber das
Gespräch auf solche Inhalte, die sie selbst besser verstand. Gabriele
war schon etwas ganz Besonderes. Eine Stunde bei Gabriele, so sagten
wir manchmal, reicht aus, um sich eine Woche lang darüber zu
unterhalten. Und da wir viele Jahre miteinander verbracht haben,
werden wir nie aufhören, an sie zu denken.Sie besuchte
leidenschaftlich gern Ausstellungen, Museen und Konzerte, war sehr
belesen, kleidete sich geschmackvoll, pflegte sich, so lange sie das
konnte. Freunde und die Kinder ihrer Neffen und Nichten waren für sie
wichtig -- sie pflegte regelmäßig den Kontakt. Bücher haben zweifellos
eine sehr wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt, aber das eigene
Telefonbuch mit den vielen Nummern ihrer Freunde war sicher das, was
sie am häufigsten in der Hand hatte und es war die reinste
Katastrophe, wenn sie es verlegt hatte. Große Achtung und Bewunderung
löste ihre Agilität und Aktivität, ihr Durchhaltevermögen bis ins hohe
Alter aus. Sie selbst betrachtete das als etwas Selbstverständliches
und verstand nicht immer, wenn andere in ihrem Alter schon lange nicht
mehr so waren. Sie hat gern gelacht und konnte sich wie ein kleines
Kind freuen. Dann wurde sie richtig weich, wischte sich Freudentränen
vom Gesicht. Aber diese Momente wurden leider mit zunehmendem Alter
und der damit verbundenen Demenz immer seltener.
Früher wurde sie von
ihren Freunden nur "Gabi" genannt. Eines Tages, ganz plötzlich und
unerwartet, wollte sie "Gabriele" genannt werden. Sie fand "Gabi" für
sich nicht mehr passend, so nenne man ein Kind, aber keine Frau.Aber
"alt" sein oder gar als "Oma" bezeichnet werden -- das wollte sie auch
nicht. So sehr sie kleine Kinder mochte, aber die mussten verstehen,
dass sie keine "Oma" und auch nicht deren "Tante", sondern eben
"Gabriele" war. Aber sicher hat dabei auch eine wesentliche Rolle
gespielt, dass sie den schmerzlichen Verlust ihrer eigenen Kinder nie
überwinden konnte und im Herzen unendliche Trauer darüber empfand,
dass es ihr verwehrt blieb, eine wirkliche Oma eigener Enkel zu sein.Im
Kreise Gleichaltriger oder wenig Jüngerer fühlte sie sich nie so
richtig wohl. Und wer da glaubte, sie sei am Tisch neben der Oma der
Familie am besten aufgehoben, irrte sich ebenso. Das war nicht ihre
Welt. Sie fühlte sich immer mehr zu den Jüngeren hingezogen, nachdem
ihre langjährigen gleichaltrigen Weggefährten nach und nach aus dem
Leben gegangen waren. Ihre Freunde mussten interessant sein, etwas zu
sagen haben. Nicht über Kochrezepte oder Einkaufstipps oder gar
Krankheiten, sondern woran sie gerade arbeiteten, was sie gelesen
hatten, welcher Ausstellungsbesuch sie besonders fasziniert hatte.
Geburtstagsrunden waren bei ihr immer ein besonderes Vergnügen. Hier
trafen sich Freunde, Bekannte und Verwandte aus unterschiedlichsten
Bereichen mit ihren individuellen Erfahrungen und Anschauungen, was
immer zu interessanten Gesprächen führte.Gabrieles Lebensmotto, das
sie íhrem Autor bei der Arbeit an ihrem Buch mitteilte: "In den Stunden
der Verzweiflung hat mich immer ein Gedanke aufrecht gehalten, wenn
ich von allen, die mir am nächsten standen, übrig geblieben bin, dann
darf ich mich nicht fallen lassen."Sie wollte ihr Leben allein
meistern, selbst entscheiden, auch über andere, die ihr nahe standen.
Sie wollte nicht krank sein - Krankheit war etwas Schlechtes. Und
selbst wenn die Krankheit noch in ihr steckte, sie stand schnell
wieder auf, als ob sie spürte, je länger Du liegst, umso schwerer wird
es wieder aufzustehen. Das war das Ergebnis ihres Überlebenskampfes in
Fergana. Sie hatte früh lernen müssen, allein zurecht zu kommen, auch
unter widrigsten Lebensumständen. Sie wollte Liebe - aber wann immer
sie sie fand, verlor sie sie schneller und grausamer, als man es sich
vorstellen kann: ihre erste Jugendliebe, die Geborgenheit im
Elternhaus, den ersten Mann, die Kinder, den zweiten Lebensgefährten,
den zweiten Mann. All das hinterließ Bitternis in ihrem Herzen und
machte sie gelegentlich hart, kritisch, ungerecht denen gegenüber, die
ihr in den letzten Jahren ganz besonders zur Seite standen und helfen
wollten. Aber in den Momenten, wo ihr bewusst wurde, wie gut ihr diese
Freundschaft tat, erlebten wir sie auch weich, zu Tränen gerührt. Sie
begriff plötzlich, dass sie die ihr entgegengebrachte Wärme nicht
immer erwidert und die Freundschaft manchmal auf eine harte Probe
gestellt hatte und entschuldigte sich dafür.
Alles Schlechte, was sie
selbst erfahren hatte, lag wie ein schwerer Mantel um ihr Herz und man
spürte die Angst vor neuen bitteren Enttäuschungen. Sie erschien
dadurch manchmal hart und selbstgefällig. Und trotzdem schaffte sie
es, immer wieder neue Freunde zu finden, die zu ihr standen und ihr in
den besonders schweren Jahren seit ihren ersten
Krankenhausaufenthalten bis zu ihrer Einweisung in ein Heim halfen, so
lange wie möglich ihr selbständiges Leben in der eigenen Wohnung zu
führen. Gerade in dieser Zeit war sie dankbar für jede Umarmung, jedes
Streicheln, für menschliche Wärme, die ihr entgegengebracht wurde.
Es ist ein großes Glück, dass es solche Freunde bis zuletzt gegeben hat,
so dass sie nie wirklich allein sein musste.Sie hat ihr schweres Leben
gelebt, sich nur allzu gern an die glücklichen Momente in diesem Leben
erinnert und wollte nach all diesen Erlebnissen endlich dorthin, wo
alle, die sie am liebsten gehabt hatte - ihre Kinder, die Eltern, ihre
Ehegatten, ihre Geliebten, die Geschwister, auch viele gute Freunde -
schon lange waren. Von dem Moment an, wo sie sich beim allerbesten
Willen nicht mehr allein halten konnte, wollte sie sich auch von
nichts und niemandem mehr halten lassen und endlich dieses Leben
beenden. Deshalb wird sie diesen Tod als eine Erlösung empfinden,
endlich Frieden zu haben mit sich und der Welt.
Ingrid Fritz
geschrieben im Jahre 2005, nachdem Gabriele Stammberger gestorben war.
Sehr geehrte Frau Reller, gegen die Veröffentlichung habe ich nichts
einzuwenden. Mit freundlichen Grüßen Ingrid Fritz
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