Belletristik REZENSIONEN | |||||
Lebendig ist, wer 23 Herzenswörter kennt | |||||
Vladimir Sorokin | Russe | ||||
LJOD. DAS EIS | |||||
Aus dem Russischen von Andreas Tretner Berlin Verlag, Berlin 2003, 349 S. | |||||
(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Hertha Burmeister.) | |||||
Sorokins Roman "Der himmelblaue Speck", in dem es eine Beischlafszene zwischen
Stalin
und Chruschtschow
gibt, wurde 2002 zum Anlass für eine spektakuläre Aktion, in der Sorokins Bücher auf dem Platz vor dem
Moskauer Bolschoi-Theater
in ein riesiges Klosett aus Pappmaché entsorgt wurden. Das gute
Russland
sollte - zumindest symbolisch - von dem Pornographen
Sorokin
gesäubert werden. (Der Platz vor dem Bolschoi war gewählt
worden, weil der Romane- und Stückeschreiber
Sorokin vom Bolschoi den
Auftrag erhalten hatte, eine Oper zu schreiben.) Initiator dieser Aktion war Wassili Jakimenko, ein
ehemaliger Mitarbeiter von
Putins Präsidialadministration und Experte
für "schwarze PR", mit deren Hilfe
Putins Konkurrenten in der Öffentlichkeit
diskreditiert werden sollten. Jakimenko war mit der Gründung der "Iduschije
wmestje" - "der Zusammengehenden" - beauftragt worden, einer Art
Jugendorganisation in Komsomol-Tradition. Die Mitglieder werden durch
Bargeld und andere Vergünstigungen angeworben, die Hierarchie des
Einzelnen in der Organisation richtet sich nach der Zahl neuer
Mitglieder, die einer anwirbt. Inzwischen ist Sorokin vom Vorwurf der
Pornographie gerichtlich freigesprochen worden.
Hat Sorokin jene "Zusammengehenden" im Blick gehabt, als er LJOD. DAS EIS schrieb? In seinem letzt erschienenen Buch ist im heutigen Moskau eine geheimnisvolle Sekte auf der Jagd nach Menschen, die ein "lebendiges Herz" haben. Diese "Zusammengehenden" werden in einer geheimen Bruderschaft vereint, die ihre spirituelle Kraft aus dem urzeitlichen Eis des sibirischen Tunguska-Meteoriten schöpft. Was hat es mit diesem Meteoriten auf sich? In den frühen Morgenstunden des 30. Juni 1908 war in der sibirischen Taiga das Gebiet um den Fluss "Steinige Tunguska" von einer gigantischen Explosion erschüttert worden. Etwa zweitausend Quadratkilometer Fläche wurde verwüstet, eine enorme Druckwelle umlief den Planeten, schwere seismische Erschütterungen wurden gemessen. Nur das andersartige, kosmische Eis des Tunguska-Meteoriten, und nur das, kann in Sorokins Roman LJOD. DAS EIS lebendige Herzen erwecken. Warum überhaupt muss es ausgerechnet Eis sein? Vom Autor gibt es als Zitat zum Buch diesen Hinweis auf Hiob 38, 29: "Aus wes Leib ist das Eis gegangen, und wer hat den Reif unter dem Himmel gezeugt?" Wie Sorokins Buch NORMA besteht auch LJOD. DAS EIS aus vier Teilen. Der erste Teil beginnt mit der Schilderung, wie zwei Männer und eine Frau zwei Gefesselte aus einem Auto laden und an Stahlpfeiler binden. Dann holen die Drei einen Hammer hervor, dessen Stil aus Holz, dessen Kopf aus Eis (aus Tunguska-Eis) besteht. Sie reißen einem Gefesselten das Hemd auf und rufen: "Gib Antwort!" und der Eishammer fährt mit voller Wucht auf das freigelegte Brustbein nieder. Blut fließt, Eissplitter spritzen, eine Antwort erfolgt nicht. Die ganze Prozedur wiederholt sich einige Male - bis der so Gepeinigte - "halbtransparentes Klebeband quer über den Mund" - tot ist. Nun denke nur keiner, dass die Drei gemeine Mörder sind, nein, sie sind nur auf diese einzig mögliche Weise auf der Suche nach ihren Brüdern und Schwestern. Wird bei so "Behämmerten" das Herz hörbar, wird das schmerzhafte Hämmern sofort eingestellt, der Verwundete wird im Krankenhaus, das mit der Sekte zusammen arbeitet, versorgt und erfährt, dass er/sie als neuer Bruder oder als neue Schwester in die höchst elitäre Sekte aufgenommen ist. Außer zu neuem Leben erwacht, müssen alle Sektenmitglieder blond und blauäugig sein, außerdem ist ihre Zahl weltweit auf 23 000 limitiert. Im Teil eins gibt es nur drei Neuzugänge: einen Studenten, eine Prostituierte, einen Geschäftsmann, alle anderen "Behämmerten" hatten sich als "Hohlkörper" erwiesen. Teilweise ist dieser Teil geschrieben, als würden einem Regisseur Anweisungen gegeben: "No.1 - Mann Ende vierzig, dick, gepflegt, gerötetes Gesicht, teurer Anzug. No.2 - junger Mann, schwächlich, Hakennase, Pickel, schwarze Jeans und Lederjacke". No. 2 (Juri Lapin) ist weder "Hohlkörper" noch "Fleischmaschine", sondern Ural, wie das sprechende Herz ausplaudert. Sorokin lässt in diesem Buchteil viele esoterische Fachausdrücke auf uns Leser herabprasseln: Erwachen zu wirklichem Leben, Sprache von Herz zu Herz, Verwandlung in Licht... Im Laufe der Seiten fällt auch dem begriffsstutzigsten Leser auf, dass nur wer blond und blauäugig ist, aufgeklopft wird... Im zweiten Teil erzählt Warja Samsikowa aus ihrem Leben. Als der Krieg begann, war sie gerade zwölf Jahre alt geworden. Im September 1941 besetzten die Deutschen auch ihr Dorf Koljubakina - "sechsundvierzig Häuser im Ganzen". Aus Koljubakina werden dreiundzwanzig Personen zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Auch Warja. Eines Tages kommen Deutsche, blond und blauäugig, die aus den Zwangsarbeitern vier auswählen: blond und blauäugig. Das Hämmerchen ermittelt Warja Samsikowa als eine Auserwählte, eine mit lebendigem Herzen - sie wird jetzt Chram heißen. Von dem alten Bro erfährt sie, dass es solche wie sie nur wenige gibt: Bis jetzt nur einhundertdreiundfünfzig auf der ganzen Erde. "Weil wir anders sind als alle. Wir vermögen nicht nur mit den Lippen zu sprechen, sondern ebenso mit dem Herzen. (...) Der allergrößte Teil der Menschen auf Erden sind wandelnde Tote. Sie kommen tot zur Welt, heiraten einen Toten, zeugen und gebären Tote." Schließlich kam der 6. Juli 1950, Chram kannte alle 23 Wörter der Sprache des Herzens. Nun würde sie die Bruderschaft verlassen und zurück nach Russland gehen, um dort mit anderen nach den Lebenden und den Toten suchen - eine schwere Arbeit. Zum Beispiel besucht Chram mit ihren Brüdern und Schwestern achtzehn Lager in Mordwinien, Kasachstan und Westsibirien. "Knapp zweihundert Eishämmer verschlissen an mageren Häftlingsbrüsten, und am Ende waren es ganze zwei Herzen, die zu sprechen begonnen und ihre Namen genannt hatten." Nichts bei Sorokin geschieht ohne Raum und Zeit. Immer wieder ist von Stalin die Rede, von Berija, von Chruschtschow, von Breshnew, von Andropow, von Tschernenko, von Gorbatschow, von Jelzin (die Epoche, "die ebenso lustig wie gräulich war"), von heute schon geschichtlichen Ereignissen, wie zum Beispiel der geplanten Umsiedlung der Russischen Juden nach Sibirien. Bereits in Hitlers SS und in Stalins Staatssicherheitsdienst, erfahren wir, gab es Sektenmitglieder, die die von Sex und Gewalt verdorbene Erde auslöschen wollten, um zur ewigen Existenz zurückzukehren. Im dritten Teil sind wir in der Konsumgesellschaft und im High-Tech-Zeitalter angekommen. Jetzt werden alte und junge Frauen und Männer "maschinell" aufgeklopft. Inzwischen kann nämlich das Tunguska-Eis künstlich hergestellt werden. Und so entnimmt man der Kühlbox eines der dreiundzwanzig Eisstücke, am Stil zu befestigen. Daraufhin wird das strombetriebene Hämmerchen an das mit einem Schild gewappnete Brustbein der Konsumenten geklopft. Nach einiger Zeit verursacht es Mitleidsausbrüche, Weinkrämpfe (für die Tränenflut wird von der Firma ein eigener automatischer Tränenabsauger mitgeliefert) und endet mit der Vision von 22 999 nackten Geschwistern, die im Kreis stehen und sich an den Händen halten und in Licht getaucht werden. Der Tag also, an dem 23 000 Sektenmitglieder 23 Mal die 23 Herzenswörter sprechen... Von einigen Testpersonen - ein Filmregisseur (56), ein Abgeordneter der Staatsduma (38), zwei Rentner (82/94), ein Arbeitsloser (36), ein Student 18), ein Anarchist (20), ein Geschäftsmann (38), eine Managerin (27), ein Journalist (31), eine Professorin für organische Chemie (53), ein Priester, ein Fleischer (44), eine Verkäuferin (22), ein Webdesigner (27) und eine Lyrikerin (33) - veröffentlicht Sorokin Rückmeldungen an die Firma zum "Herzerweckungsprojekt". Das sind wahrlich köstliche Stilparodien! Besteht der erste Teil aus 171 Seiten, so hat der zweite nur noch 141, der dritte nur noch 27 und der letzte noch knapp fünf Seiten. Boris Groys hat Sorokin einmal einen Textdesigner genannt, dessen Sezierarbeit Sprache und Gesellschaft gleichermaßen freilegt. Im vierten Teil wechselt Sorokin noch einmal die Tonart. Ein kleiner Junge - allein zu Haus - entnimmt einem blauen Kühlschrank-Karton den letzten der 23 Eiswürfel, spielt mit ihm, legt das Eis auf ein Kissen und deckt es zu, um es zu wärmen. Was passiert mit Eis, das erwärmt wird? Es schmilzt und ist - weg. "Mein erster Roman", sagte Sorokin nach einer Buchlesung, "bei dem der Inhalt an erster Stelle steht." Selten hat mich aus einem Buch ein so tödlicher Ernst angeweht... LJOD. DAS EIS - ein kühnes Buch über die Suche nach dem verlorenen Paradies? Der lettische Regisseur Alvis Hermanis, mit einer Estin verheiratet, hat LJOD. DAS EIS von dem Russen Vladimir Sorokin im November 2005 auf die deutsche, die Frankfurter Bühne gebracht. | |||||
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |||||
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