Sachbuch REZENSIONEN | ||||||
Vom Landei zum ersten Präsidenten der Sowjetunion | ||||||
Klaus-Rüdiger Mai | Über den Russen Michail Gorbatschow | |||||
Michail Gorbatschow | ||||||
Sein Leben und seine Bedeutung für Russlands Zukunft Campus Verlag, Frankfurt / New York, 2005, 397 S. (Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Dirk Schick.) | ||||||
Als Sohn eines Bauern wird Michail Sergejewitsch Gorbatschow 1931 in Priwolnoje in der Region Stawropol (Nordkaukasus) geboren. Er schafft es bis zum ersten Präsidenten der Sowjetunion. Am 2. März 2006 wurde er fünfundsiebzig Jahre alt. Michail Gorbatschows Vater ist Mähdrescherfahrer, die Mutter - praktizierende orthodoxe Christin - ist Bauersfrau. Nach eigenen Angaben wird Michail getauft. Seine beiden Großväter werden unter Stalin verhaftet, Gorbatschow schreibt über diese ihn prägenden Ereignisse in seinem Buch "Über mein Land". Er arbeitet von 1946 bis 1950 zusammen mit dem Vater in einer Maschinen-Traktoren-Station, die Arbeit macht ihm Spaß, er ist beliebt. Für Großmutter Wassilissa und Großvater Pantelej ist er als Sohn der einzigen Tochter "der kleine Prinz" - bis sein Bruder Alexander geboren wird. Da ist er siebzehn Jahre alt und sehr eifersüchtig auf das kleine Brüderchen. Von 1950 bis 1955 studiert Gorbatschow Rechtswissenschaft in Moskau, wird vom Landei zum Großstädter, lernt die kluge und schöne Raissa Maximowa Titorenko (1932 bis 1999) kennen, die er 1953 heiratet; aus der Ehe geht die Tochter Irina hervor. Gorbatschow erringt gute Freunde, Studienfreunde, zum Beispiel den Tschechen Zdeněk Mlynár (der 1968 im "Prager Frühling" eine Rolle spielen soll) und den Juden Wladimir Liberman, den er mutig verteidigt: Den Verleumder nennt er vor versammelten Kommilitonen ein "rückgratloses Vieh". 1952 tritt Gorbatschow in die KPdSU ein. Von 1955 bis 1962 Ist er Erster Sekretär des Stadtkomitees Stawropol des Komsomol. Ab 1958 wird er zunächst Zweiter Sekretär, später Erster Sekretär des Regionalkomitees des Komsomol. Von 1962-1971 ist er Mitglied des Regionalkomitees Stawropol der KPdSU, außerdem von 1963-1966 Leiter der Abteilung Parteiorgane des Regionalkomitees Stawropol der KPdSU. Ist Gorbatschow ein Speichellecker? Der Autor verneint dies. Doch Gorbatschow hat seine Karriere fest im Griff, und wenn es seiner Meinung nach sein muss, spricht er auch schon mal anders, als er innerlich denkt. So verurteilt er entgegen seiner wahren Meinung öffentlich den "Prager Frühling" und kritisiert wider besseres Wissen das Buch Professor Sadykows "Die Einheit des Volkes und die Widersprüche des Sozialismus" in Grund und Boden - wie man es von ihm erwartet. 1966 wird er Erster Sekretär der KPdSU im Stadtkomitee Stawropol, 1967 schließt er sein Zweitstudium am Agrar-Institut in Stawropol als Diplom-Agraringenieur ab. Von 1968 bis 1970 wird er Zweiter Sekretär der KPdSU des Regionalkomitees Stawropol, von 1970 bis 1978 ist er Erster Sekretär. Seit 1970 ist er Mitglied des Obersten Sowjets. In dieser Funktion ist er ab 1974 Leiter der Jugendkommission und ab 1979 der Gesetzgebungskommission. Von 1971 bis 1991 ist er Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU, gehört also schon zu den "Halbgöttern". gefördert wird Gorbatschow besonders von Jurij Andropow (1914-1984), dem KGB-Chef (der 1983 kurz an die Macht kommt). 1975, da ist Gorbatschow vierundvierzig Jahre alt, reist er das erste Mal ins westliche Ausland: in die Bundesrepublik Deutschland. Von 1978 bis 1985 ist er Sekretär des ZK der KPdSU, zuständig für die Landwirtschaft. 1979 bis 1980 ist er Kandidat des Politbüros der KPdSU. Von 1980 bis 1991 ist er Vollmitglied des Politbüros und somit einer der "Vollgötter". Gorbatschow ist damit der erste Politiker der Nachkriegsgeneration in diesem Gremium. Er unternimmt einige Auslandsreisen, u. a. nach Großbritannien und Kanada, wo er mit Margaret Thatcher (die "entzückt" von ihm war) und Pierre Trudeau zusammentrifft; in Kanada lernt er auch seinen späteren Berater Alexander Jakowlew kennen, der (zehn Jahre lang) Sowjetbotschafter in Kanada ist. 1983 übernimmt Gorbatschow während der Erkrankung Andropows in vielen Bereichen dessen Vertretung. 1984, nach dem Tod Andropows, wird Gorbatschow zuständig für die Sekretariatsarbeit im ZK der KPdSU. Er bezeichnet als Grundpfeiler sowjetischer Außenpolitik "die Sicherung des Weltfriedens und die Stärkung der sowjetischen Verteidigungsmacht". Im März 1984 erfolgt die Ernennung zum Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses des Obersten Sowjets. Das Parteiorgan "Prawda" ("Wahrheit") bezeichnet Gorbatschow als "Zweiten Generalsekretär". Im Dezember spricht sich Gorbatschow für "tiefgreifende Veränderungen" der sowjetischen Wirtschaft aus. 1985, am 11. März, wird nach dem Tod Tschernenkos (1911 bis 1985) mit dem vierundfünfzigjährigen Gorbatschow erstmals ein relativ junges Mitglied des Politbüros Generalsekretär der KPdSU. Seine ersten Erklärungen und Maßnahmen zielen auf eine bessere Arbeitsqualität in Landwirtschaft, Industrie und Verwaltung ab. Die ihm zugeschriebene Alkoholkampagne geht in Wahrheit noch auf Jurij Andropow zurück. Im Oktober stellt Gorbatschow sein Programm einer wirtschaftlichen Beschleunigung durch einen grundlegenden Umbau der sowjetischen Verhältnisse vor. Im November treffen sich Gorbatschow und der amerikanische Präsident Ronald Reagen in Genf zu Gipfelgesprächen. Immer dabei ist die elegante Raissa Gorbatschowa - ein für den Osten ungewohnter Anblick! 1985 bis 1988 wird Gorbatschow wiederum in den Obersten Sowjet gewählt. Von 1985 bis 1991 wird er Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der UdSSR. 1986 macht Gorbatschow entscheidende Abrüstungsvorschläge, die vom Westen positiv aufgenommen werden. Im April geschieht die Katastrophe von Tschernobyl, Gorbatschow informiert das In- und Ausland zu spät. Im Juli kündigt er einen Teilabzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan an; die Sowjetunion hatte 1979 in Afghanistan militärisch interveniert. 1987 verhandelt Gorbatschow weiter erfolgreich über Abrüstungsmaßnahmen. Das US-amerikanische Magazin "Time" wählt ihn zum "Mann des Jahres". 1988 wird Gorbatschow - nach dem Rücktritt von Staatspräsident Andrej Gromyko (1909 bis 1989) - zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets und damit zum Staatsoberhaupt der Sowjetunion gewählt. Er versucht sein wirtschaftliches Reformprogramm (Perestroika) ebenso durchzusetzen wie die Öffnung der Gesellschaft (Glasnost). Bundeskanzler Helmut Kohl reist in die Sowjetunion, es geht bei den Verhandlungen vorrangig um die deutsch-sowjetischen Beziehungen, aber auch um die Aussiedlung von Russlanddeutschen. 1989 scheiden 110 Spitzenfunktionäre aus dem ZK aus. Im Mai findet nach dreißig Jahren zum ersten Mal wieder ein Gipfeltreffen zwischen der Sowjetunion und China statt. Im Juni empfängt die Bevölkerung in Bonn Gorbatschow mit großem Jubel. Zum Abschluss seines Besuchs erklärt er: "Die Mauer kann wieder verschwinden, wenn die Voraussetzungen entfallen, die sie hervorgebracht haben." Im Juli gesteht auf der ersten Ostblock-Gipfelkonferenz in Bukarest Gorbatschow jedem sozialistischen Staat seine eigene Entwicklung zu - eingedenk der Ereignisse in der DDR von 1953, in Ungarn von 1956, in der Tschechoslowakei von 1968. Am 7. Oktober nimmt Gorbatschow an den Festlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR teil, er äußert die berühmt gewordenen Worte: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." 1990 wird Gorbatschow der erste gewählte Staatspräsident der Sowjetunion. 1991 verkündet er das Ende des Warschauer Paktes, verspricht in einem unionsweiten Referendum, dass allen Republiken freistehe, die Union zu verlassen, sofern sich dies verfassungsgemäß vollziehe. Bush und Gorbatschow unterzeichnen in Moskau den START-Vertrag zum Abbau der strategischen Atomwaffen.- Am 19. August versuchen reformfeindliche Kräfte unter maßgeblicher Beteiligung des KGB Gorbatschow zu stürzen. Jelzin - den Gorbatschow nach Moskau geholt hatte - ruft die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Putschisten auf. Am 21. August bricht der Umsturzversuch zusammen. Am 24. August tritt Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU zurück. Jelzin und Gorbatschow vereinbaren die Auflösung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) zum 21. Dezember 1991. Nach Auflösung der UdSSR und mit der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) erklärt Gorbatschow seinen Rücktritt und übergibt Russlands Präsidenten Jelzin das Kommando über die strategischen Atomwaffen. "An seinem letzten Amtstag saß der erste und letzte Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, im Kreml, blickte auf den langen Weg, den er zurückgelegt hatte, und mit ihm ein riesiges Reich, und wartete auf seine letzte Amtshandlung, auf die Übergabe des Atomkoffers an Jelzin. Doch Jelzin erschien nicht. Jelzin feierte, und das war ihm allemal wichtiger als irgendein Atomkoffer. Schließlich des Wartens müde, schickte Gorbatschow durch einen Assistenten den Koffer an Jelzins Büro und verließ zu Fuß, allein an diesem grauen, schneereichen Tag den Kreml (...)." Ich finde, dass Klaus-Rüdiger Mai diese hier von mir vorrangig als Fakten dargestellten Ereignisse in seinem Buch sehr lesbar und fundiert beschreibt. Es gelingt ihm, uns Gorbatschow als einen Menschen nahe zubringen, dem (vor allem wegen der Verhaftung seiner Großväter) stets die Würde des Menschen wichtig blieb und der sich unter fast allen Umständen entsprechend verhielt. Dass er hier und da auch zum Heucheln gezwungen war, möge ihm niemand vorwerfen, der nicht in einem totalitären Staat gelebt hat... Allerdings: Hätte er nicht eine so hohe Karriere angestrebt, hätte er sich nicht so schnöde verbiegen müssen. Doch wollen wir ihm zugute halten, dass er tatsächlich das beste für die Menschen wollte. Ich habe mal zusammengetragen, welche Charaktereigenschaften Klaus-Rüdiger Mai bei Michail Gorbatschow ausfindig gemacht hat und von dem er sagt: "Michail Gorbatschows Zeit ist vergangen, Gorbatschows Zeit wird wieder kommen." Gemeint ist wohl, dass er in die Geschichte eingehen wird... Die von Mai konstatierten Charaktereigenschaften Gorbatschows: ist dem
Alkohol abgeneigt; respektiert unbedingt die Würde des Menschen; ist
intellektuell neugierig; liebt die Dichter; ist romantisch, elegant,
charmant; liebt die Rhetorik; hat die Fähigkeit, zwischen den Menschen
zu vermitteln; ist aufnahmewillig und von schnellem Verstand; kann
konzentriert arbeiten; liebt die Geselligkeit; ist gewinnend im
persönlichen Umgang; "gesellschaftliche Arbeit" macht ihm Spaß und füllt
ihn aus; eine große Leidenschaft ist das Theaterspielen; besitzt die
Fähigkeit, Privates und Dienstliches strikt zu trennen, lehnt
persönliche Gefälligkeiten unter Nutzung seines Amtes strikt ab; ist
herzlich, aber läßt keine zu engen Kumpaneien zu; läßt keine Gelegenheit
ungenutzt, Wissen zu erlangen; besitzt natürliches Selbstbewusstsein und
eine große Naivität, die ihn vor Selbstzweifeln schützt; besitzt von
klein auf enorme taktische Talente; hat ein schwer zu zügelndes
hitziges südrussisches Temperament; ist prinzipienfest und kann mit
großer Härte agitieren; besitzt ein exaktes Gefühl dafür, was
wünschenswert und was durchsetzbar ist; ist verlässlich, hat eine sehr
warme, verständnisvolle, sehr menschliche Art; ist linientreu,
ordentlich und verlässlich; ist geschäftstüchtig und kommunikativ
begabt; hat eine immense Fähigkeit, Vertrauen bei seinem Gegenüber zu
erzeugen; die Natur schenkte ihm eine angenehme Erscheinung,
vertrauenerweckende Augen, eine einnehmende Stimmlage; ist geschmeidig;
nimmt mit viel taktischem Geschick und Ausdauer Karrieresprosse um
Karrieresprosse; erwarb sich ein Arsenal sämtlicher Finten und
Schachzüge, die ein kommunistischer Politiker in einem kommunistischen
Land benötigte; verfügt über persönliche Weitsicht mit aus der
Apparatschikschule herrührenden Grenzen; hat viel Geschick,
viel Geduld, viel Engagement und einen nie versagenden Motor, der ihn
durch die Widrigkeiten, durch die tägliche Ochsentour trieb; hat
menschelnde Fähigkeiten; galt als "guter Kamerad", der sich nicht zu
fein war, mit allen zu feiern, ohne dass er sich betrank, zu singen und
den jungen Genossen aus der Provinz die neuesten Moskauer Modetänze
beizubringen; ist der Typ des idealen Schwiegersohns: bescheiden,
maßvoll, arbeitsam, familienorientiert, loyal, stets höflich; er
verstand es meisterhaft, zuverlässig, aber nicht allzu ambitioniert zu
erscheinen und dennoch seine Karriere fest im Auge zu behalten; er war
kein Theoretiker, kein Träumer, kein Visionär; er wollte mit allen
Fasern seines Herzens Politiker werden; er interessierte sich wirklich
für die Wissenschaften und für die Kunst; sein Herz schlug
hauptstädtisch; er war ein Funktionär, aber kein Apparatschik; ist ein
offener, nicht engstirniger Zeitgenosse; ist ein Vollblutpolitiker; kann
geduldig antichambrieren; ist kontaktfreudig und ausgesprochen
neugierig, gesegnet mit einem echten und authentisch wirkenden Interesse
an Menschen; ist prinzipienfest, ein gehorsamer Parteisoldat, empfindet
Abneigung gegen Funktionäre, die sich als absolute Fürsten aufspielten,
hasst Korruption; ist umtriebig; ist von ausgeprägter Intelligenz; ging nicht fremd; nahm keine
Bestechungsgelder an; er hatte weder seiner Frau als Stawropoler
Herrscher bei der Karriere geholfen noch der Tochter Irina einen Weg
geebnet; in ihm loderte die Grundvoraussetzung für einen Politiker: der
Wille zur Macht; er sah Macht nicht als Mittel, andere zu
demütigen, Macht verstand er als Mittel zum Guten; vergißt niemals seine ärmliche bäuerliche
Herkunft; wurde binnen kurzer Zeit zu einem Politiker von
Weltformat, der auch den letzten Staub der Provinz von seinen Schuhen
geschüttelt hatte.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 13.03.2006 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Das wichtigste für einen Menschen ist der Schuh, damit der Fuß nicht drückt. |
Sprichwort der Russen |
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