Sachbuch REZENSIONEN | |
Ein amerikanischer Schriftsteller, der ein russischer blieb... | |
Boris Nossik | Gebürtig aus Russland |
Vladimir Nabokov | |
Eine Biographie Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999, 464 S. | |
Zwei amerikanische Autoren hatten bereits
Nabokov-Biographien verfasst.
Wodurch, fragte sich Nossik deshalb, würde sich seine Arbeit von diesen beiden unterscheiden. Und er antwortete
sich selbst: "Nun vielleicht dadurch, daß ich
aus Rußland bin. Beide Bücher (...) kommen mir sehr unrussisch vor. Mein
Lieblingsschriftsteller aber war ein Russe (und gleichzeitig ein
amerikanischer Schriftsteller). Außerdem war er ein russischer Emigrant,
und ich meine, daß er Rußland gewaltsam weggenommen wurde." Die
Biographie von Nossik ist die erste große Biographie Vladimir Nabokovs
in deutscher Sprache.
Am 22. April 1899 in einer traditionsreichen Petersburger Aristokratenfamilie geboren, am 2. Juli 1977 im Schweizer Montreux gestorben, gilt Vladimir Nabokov bei den einen als russischer, bei den anderen als amerikanischer Schriftsteller. Die zahlreichen Nabokov-Forscher unterscheiden seine Romane in acht "russische" (russisch geschriebene) und acht "amerikanische" (englisch geschriebene) Romane. Seine Gedichte schrieb Nabokov ausschließlich russisch, die "amerikanischen" Romane übersetzte er selbst in seine russische Muttersprache und die "russischen" Bücher übertrug er selbst ins Englische oder war maßgeblich daran beteiligt, vor allem, wenn sein Lieblingsübersetzer, sein Sohn Dmitri, der Opernsänger, sie übersetzte. "Nabokovs Randbemerkungen zu Dmitris Übersetzungen atmen weniger seine sonst übliche Nörgelsucht und Pedanterie als vielmehr unendliche väterliche Zärtlichkeit." (Nossik) Nabokovs Lebensweg verlief mit einer verblüffenden Zyklizität: Zwanzig Jahre (1899-1919) Kindheit und Jugend in Russland, rund zwanzig Jahre (1919-1940) in Westeuropa: Cambridge, Berlin und Paris, rund zwanzig Jahre (1940-1959) in den USA, dann fast zwanzig Jahre (1959-1977) Dauergast im Hotel "Montreux Palace" in der Schweiz. Kindheit und Jugend: Vladimir Vladimirowitsch Nabokov war der Sohn von Wladimir Dmitrijewitsch Nabokow - Jurist, Gelehrter, Kammerjunker, Professor, Duma-Abgeordneter -, der 1922 ermordet wurde und in Berlin-Tegel beigesetzt ist. Vieles von dem, was Nabokov schrieb, ist vom Leben und dem tragischen Tod des Vaters beeinflusst. Mit seiner Mutter, Jelena Iwanowna Nabokowa, verband ihn eine Art Seelenverwandtschaft, ("weil ohne Dich die Sonne keine Sonne ist".), ihr vertraute er seine geheimsten Gedanken an. Alle seine sechzehn vollendeten und zwei unvollendeten Romane berühren irgendwie diese glückliche Kindheit. Der ihm besonders ans Herz gewachsene Ort in Russland heißt Wyra, 65 Kilometer von Petersburg entfernt. Diese nördliche russische Landschaft verkörperte für ihn zeitlebens Russland. Schon mit sieben Jahren begeisterte sich Vladimir für Schmetterlinge, eine Leidenschaft, die sein ganzes Leben anhielt. Ein seltener Alaska-Schmetterling und eine Utah-Motte tragen seinen Namen. Auf einem schmutzigen griechischen Schiff namens "Hoffnung" verließ die Familie Nabokow die Krim, wohin sie aus Petersburg geflohen war. Am 15. April 1919 entschwand die russische Küste den Augen der Nabokovs - für immer. In Westeuropa: 126 Schiffe brachten mehr als 45 000 Russen nach Konstantinopel. Über Marseille und Paris gelangten die Nabokows nach London. Das Studium Vladimirs in Cambridge finanzierte die Mutter mit ihren Perlenketten. Hier wurde am 7. Januar 1921 in der russischen Zeitung "Rul" ("Das Ruder") auch ein neuer Schriftsteller geboren: V. Sirin; Sirin ist ein wundersamer Vogel aus der russischen Mythologie. Ein Pseudonym war nötig geworden, um eine Verwechslung mit dem Chefredakteur und ständigen Autor W. D. Nabokov, der sich hingebungsvoll der Journalistik widmete und Nabokovs Vater war, zu vermeiden. Was für eine Ehre für den jungen Vladimir Nabokov als V.Sirin in ein und derselben Ausgabe mit seinem Lieblingsschriftsteller Iwan Bunin zu erscheinen. 1922, nach seiner Abreise aus Cambridge (Seine Schneiderrechnung ließ er dort unbeglichen.) zog der dreiundzwanzigjährige Nabokov zu seiner Familie nach Berlin. Obwohl Nabokov Berlin und die Berliner nicht gerade liebte, "verbrachte er hier wahrscheinlich die wichtigsten und vielleicht die glücklichsten Jahre seines Lebens". In Berlin lebten damals nicht weniger russische Schriftsteller (und keineswegs zweitrangige) als in einer russischen Stadt. Berlin wurde zur Hauptstadt der russischen Buchedition und der russischen Presse. Einer der Pioniere der Berliner Verlegertätigkeit, Iossif Hessen, versandte seine Zeitung "Rul" in 396 Städte in 34 Ländern der Welt - überall waren russische Leser. 1924 gab es in Berlin 86 (!) russische Verlage. 1923 lernt Nabokov seine spätere Frau Vera kennen, die ihm bis zum Ende seines Lebens zur Seite stehen wird. Sein amerikanischer Biograph Boyd vermerkt, dass Nabokov seit der Bekanntschaft mit Vera die Meßlatte an seine Prosa höher legte. Nach Meinung der Nabokov-Forscher war Vera "seine Muse und Anregerin, Hüterin des Herdes und Mutter seines Kindes, seine erste Leserin, seine Sekretärin, seine Kritikerin, seine Biographin". Im Mai 1936 wurde der Bandit und Schwarzhunderter General Biskupski zum Chef der Emigrantenangelegenheiten ernannt. Als Stellvertreter holte er sich den gerade erst aus dem Gefängnis entlassenen Mörder und Psychopathen Sergej Taborizki, den Mann, der auf Nabokovs Vater geschossen, ihn ermordet hatte! Man kann sich vorstellen, dass sich die Nabokows in Berlin nicht mehr sicher fühlten. 1937 flüchteten sie nach Paris, 1940 weiter in die USA. In den USA: Auf dem weiten amerikanischen Kontinent bildeten die da und dort verstreuten russischen Emigranten keine geschlossene Kolonie. War Nabokov in Europa auf dem Gipfel seines Ruhms gewesen, so musste er in Amerika mit immerhin vierzig Jahren von vorn anfangen. So war er an dieser oder jener Universität als Dozent tätig (drei seiner Studenten wurden später bekannte Nabokov-Forscher: Alfred Appel, Steven Parker, Matthew Bruccoli), eine feste Anstellung fand er nicht. In Amerika war er genötigt, Bettelbriefe zu schreiben. Später, nach einem "Skandalerfolg" mit "Lolita" erhielt er so hohe Honorare, dass er es sich leisten konnte, in dem Luxushotel "Montreux Palace" am Genfer See als Dauergast zu logieren. In der Schweiz: "Diese letzte Periode seines Lebens", schreibt Nossik, "war an äußeren Ereignissen ärmer als das Leben in Amerika. Hauptort dieser Lebensperiode wird Nabokovs Arbeitszimmer in der fünften Etage des Hotels (dort waren keine gewöhnlichen Zimmer, sondern Appartements), außerdem ein kleiner Park beim Hotel, eine Straße (meist ein und dieselbe) und der Flecken Alp, wohin Nabokov fuhr, um Schmetterlinge zu jagen." Blieben die Nabokovs unsesshaft, um die Sehnsucht nach der Heimat rein zuhalten? Nabokov: "Im allgemeinen halte ich mich jetzt für einen amerikanischen Schriftsteller, der mal ein russischer war." "Ich denke", sagt Nabokov, "man kann die Daten des Lebens und die Daten des Schaffens nicht voneinander trennen." Ja, jede Phase in Nabokovs Leben hatte seine literarischen Höhepunkte. In Berlin entstanden Romane wie "Einladung zur Enthauptung" und "Die Gabe", in Amerika "Lolita" und "Pnin", in der Schweiz "Ada oder das Verlangen". Spätestens seit "Lolita" konnten die Nabokovs von der schriftstellerischen Arbeit ohne materielle Nöte leben. Boris Nossik (1931 in Moskau geboren), profunder Kenner der russischen Kultur, studierte an der Moskauer Universität Fremdsprachen, war als Übersetzer englischer Literatur und als Rundfunkjournalist tätig; er schrieb Theaterstücke, Drehbücher, Romane, Biographien (u. a. über Albert Schweitzer). Seit einigen Jahren ist er mit einer Italienerin verheiratet und lebt in Paris. Seine Biographie über Vladimir Nabokov (1995 in Moskau erschienen) ist spannend erzählt, außerordentlich informativ - man erfährt auch vieles über andere emigrierte Schriftsteller mit denen Nabokov Kontakt hatte, besonders über Wladislaw Chodassewitsch, Nina Berberova, Iwan Bunin, Joseph Brodsky, Alexander Solshenizyn... In sieben Kapiteln wird der ganze Nabokov erfasst - sein wechselvolles Leben, die Romane, Erzählungen, Theaterstücke, die Filmarbeit, Literaturvorlesungen, Briefe, Interviews, alles wird erläutert. Die Biographie Nabokovs, der ein komplizierter Schriftsteller ist und ein komplizierter Mensch war, entstand nach intensiven Materialstudien und Gesprächen mit Freunden Nabokovs. Persönlich hat Nossik den berühmten Autor nicht kennen gelernt. Bis zur Perestroika waren Nabokovs Werke in Russland unbekannt, erst seit 1986 durften seine Bücher erscheinen; eine vierbändige Werkauswahl kam 1990 heraus. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Sei groß, aber höre auch den Geringeren an. | |
Sprichwort der Russen |
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