Belletristik REZENSIONEN

"...jeder Phrase und Affektiertheit abhold"

Über den Russen Tschechow
Anton Čechov. Ein Leben
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 92 S.
 
Russe
Čechov. Erinnerungen eines Zeitgenossen
Aus dem Russischen übersetzt von Brigitte van Kann
Herausgegeben und kommentiert von Peter Urban
Friedenauer Presse, Berlin 2004, 300 S.

Warum schrieb ausgerechnet die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg eine Biographie über den russischen Schriftsteller Anton Čechov? (Wir kennen von ihr "Familienlexikon", "Nie sollst du mich befragen", "So ist es gewesen", "Das imaginäre Leben"...) Ist sie auf ihn aufmerksam geworden durch seine Reisen nach Italien oder lag ihr sein schlichter Stil? Ihr Buch Anton Čechov. Ein Leben jedenfalls ist in Tschechowschem Stil geschrieben, was die "Süddeutsche Zeitung" veranlasst zu schreiben: "In ihrem neuen Buch beschreibt sie [Natalia Ginzburg] sein Leben so, wie Čechov es sich selber gewünscht haben könnte." Die Ginzburg erzählt von Čechovs Kindheit in Taganrog, von seinen vier Brüdern und der Schwester Maria, die ihm sein ganzes Leben treu zur Seite stand. Wir lesen von seinem despotischen Vater und dessen kleinlichem Geiz und davon, dass er seine Kinder mit dem Riemen züchtigte. Andererseits hatte der Vater sich selbst das Geigenspiel beigebracht und malte Heiligenbilder. Die Mutter resignierte ob ihres Lebens, versuchte aber die Kinder vor dem cholerischen Charakter ihres Mannes zu schützen. Čechov sagte später, dass er und seine Geschwister "vom Vater das künstlerische Talent, von der Mutter die Seele geerbt hätten".

Anton Čechov übernahm schon als Junge die Verantwortung für die Familie (Die Brüder tranken oder dachten vorrangig an sich selbst - wie der Vater.) und wurde mit knapp neunzehn Jahren das Familienoberhaupt. Er "trug diese Last bis zum Schluß auf seinen Schultern". Kein Wunder, dass man in Čechovs Erzählungen nie auf Eheglück und Harmonie in der Familie trifft. Anton Čechovs größter Wunsch war es, Arzt zu werden. Um zum Unterhalt seiner Familie beizutragen, schrieb er kleine humoristische Erzählungen - anfangs für fünf Kopeken die Zeile. Er äußerte einmal, dass die Medizin seine rechtmäßige Ehefrau sei, die Literatur seine Geliebte. Natalia Ginzburg schreibt: "Doch wenn bei den komischen Geschichten das Lachen zusammen mit einem kalten Schauder in einem aufstieg, so entstanden auch bei den nicht mehr komischen Geschichten Rührung und Schmerz in einer rauhen Luft, die beim Einatmen kalt war wie Schneeluft. Und wenn der Leser ein paar Tränen vergoß, blieb doch das Auge des Schriftstellers immer trocken. Zudem äußerten die Figuren in seinen Erzählungen ständig Kommentare, Urteile, Beobachtungen, Meinungen. Der Schriftsteller jedoch gab keinerlei Kommentare ab. Er gab niemanden recht oder unrecht. So war Čechov in seinen frühen Erzählungen, und so war er auch in seinen letzten. Ein Schriftsteller, der niemals kommentierte."

Wir lesen in Anton Čechov. Ein Leben von dem Landschaftsmaler Isaak Levitan (der Tschechows Schwester Maria einen Heiratsantrag machte, der abgelehnt wurde), von Suvorin, einem Verleger, dem Čechov bis zur Dreyfus-Affäre sehr zugetan war, von dem fünfundsechzigjährigen Schriftsteller Grigorovič, der dem jungen Čechov seine rückhaltlose Bewunderung ausspricht, von Korolenko, Tolstoj, Gorki, Bunin und vielen, vielen anderen Persönlichkeiten der Literatur, des Verlagswesens und des Theaters; natürlich informiert Natalia Ginzburg den Leser auch über die Schauspielerin Olga Knipper, die Tschechow 1901 heiratete.

Maria Tschechowa schlug nicht nur Levitans Heinratsangebot aus, sondern auch Aleksandr Smagins. "Er war schön, hatte liebenswürdige Umgangsformen"; dennn sie weihte ihr Leben (als Haushaltshilfe, Sekretärin, Krankenschwester...) ihrem geliebten Bruder. Überraschend oft, wie sich die Ginzburg über die einzelnen Werke von Čechov äußert. Zu seinem Bericht über Sachalin z. B. weiß sie zu berichten, dass er ihn mit "unermeßlicher Langeweile" geschrieben habe. "Und jeden Tag der Woche lastete der Gedanke an jenen Bericht wie Blei auf seinem Gewissen: es schien ihm, als sei es seine dringliche Pflicht gegenüber den Sträflingen, ihre Lage und die Hölle, die er dort gesehen hatte, zu beschreiben." Auch die damaligen Leser soll sein Bericht enttäuscht haben: "Sie fanden ihn grau und monoton. Sie erwarteten etwas Dramatischeres." Nun, der heutige Leser weiß Čechovs Sachalin-Bericht durchaus zu schätzen.

Welche geheimen Quellen hat die Ginzburg, wenn sie weiß, dass Čechov im Dorf Melichovo das Dach richten ließ und sich ein sehr schönes "Klo (...) nach englischer Art" einbauen ließ? Erstaunt bin ich auch über ihre Äußerungen über "die Dame" Lidija Avilowa, wenn sie behauptet, Čechov habe sie nie geliebt: "Er empfand für sie eine absolute Gleichgültigkeit und verfehlte nicht, ihr das auf jede mögliche Weise zu verstehen zu geben." Wo und wie tat er das? Ich habe nirgendwo dergleichen gelesen. Auch der glaubwürdige Zeitgenosse Ivan Bunin ist da ganz anderer Meinung: "Bis auf den heutigen Tag denken viele, Čechov habe die große Liebe nicht gekannt.  - Früher habe auch ich das gedacht. Doch heute sage ich mit Bestimmtheit: er hat sie gekannt! Seine große Liebe war Lidija Alekseevna Avilova."

Die Fotos in der Ginzburg-Biographie sind alle schon bekannt, die meisten kenne ich aus dem großformatig-dicken Čechov-Buch "Sein Leben in Bildern" aus dem Diogenes Verlag. Außerdem will ich nicht glauben, dass Natalia Ginzburg die Tataren (Tartarendorf, Tartarenfiedhof...) falsch schreibt. Sollte sich die Übersetzerin Maja Pflug vertan haben? Überhaupt: Ich fand die Biographie der Ginzburg interessant, bis ich dann gleich anschließend die Erinnerungen eines Zeitgenossen von Ivan Bunin gelesen hatte...

Ivan Bunin schreibt in seinem Buch Čechov. Erinnerungen eines Zeitgenossen weiter über die Avilova: "Ich ahne, daß mancher fragen wird: Kann man ihren Erinnerungen denn uneingeschränkt vertrauen? - Lidija Alekseevna war ungemein wahrheitsliebend. Sie unterschlug Čechovs negative Bemerkungen über ihre literarischen Arbeiten ebenso wenig wie seine Bemerkungen über sie selbst. Eine ungewöhnliche Frau!"

Die von Natalia Ginzburg (gestorben 1991 in Rom) als Lügnerin geschmähte Avilova (1865-1942) ist Bunin viele Seiten seiner Erinnerungen wert: "Alles an ihr war bezaubernd: die Stimme, eine gewisse Schüchternheit, der Blick ihrer wunderbaren graublauen Augen...  Avilova (...) war genau eine der Frauen, wie Čechov sie liebte und die er `prächtig´ nannte."

Natürlich sind auch Bunins Erinnerungen subjektiv, wie es Erinnerungen immer sind. Aber er erlebte Čechov ab 1899 aus nächster Nähe, beinahe als Mitglied der Familie. Da kann Angelesenes nicht mithalten...

In seinem Vorwort hält Peter Urban, der die größte deutschsprachige Čechov-Ausgabe herausgegeben hat, Bunins "Fragment gebliebene Aufzeichnungen",  für das "Wahrhaftigste und Beste, was auf russisch je über Anton Čechov gesagt worden ist". Außerdem brauchte Bunin, da er seit 1920 in der Emigration weilte, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Bunin starb 1953, bevor er seine "Erinnerungen" beendet hatte. Der erste und der zweite Weltkrieg hatten ihn lange gehindert, die Erinnerungen an Čechov zu einem Buch auszubauen. Erst nach dem zweiten Weltkrieg konnte er in Paris in russischen Buchhandlungen Bände der maßgeblichen großen Moskauer Čechov-Ausgabe kaufen, las Cechovs Briefe noch einmal im Zusammennang, ergänzte seine Erinnerungen und arbeitete die Sekundär- und Memoirenliteratur auf. Doch was er an Urteilen, Beobachtungen und Kommentaren, vor allem auch an richtig gestellten, `heiklen´ und bis heute unbeantworteten Fragen hinterlassen hat, bestätigt, was Marija Pawlowna [Tschechowa] schon 1911 geahnt hatte: `Besser als er wird niemand schreiben.´" (Urban)

Man spürt von der ersten bis zur letzten Seite, wie zugetan sich die beiden Schriftsteller waren: "Hier der erfolgreiche Schriftsteller und Dramatiker, dort der Anfänger, der sich, als er Čechov kennenlernte, beschreibt als `jung, frei, in der Blüte meiner Kräfte und eben erst dabei bekanntzuwerden´; hier der `Sohn eines Leibeigenen´, dort der Sproß eines verarmten, aber alteingesessenen Adelsgeschlechts, das in der Puškinzeit die Poetesse A. A. Bunina und den Dichter Žukovskij (den unehelichen Sohn eines Bunin) hervorgebracht hat, worauf Bunin stolz war; hier der hochgebildete Mediziner, dort der Gelegenheitsarbeiter, der nur vier Gymnasialklassen absolviert und als Autodidakt zu schreiben begonnen hatte." (Urban) "Ich bin Menschen begegnet", schreibt der erste russische Nobelpreisträger Bunin, "die nicht weniger aufrichtig als Čechov waren, aber an Menschen, die dermaßen einfach, jeder Phrase und Affektiertheit abhold gewesen wären, erinnere ich mich nicht."

Bunins Erinnerungen sind 1955 in New York erschienen. Seine Witwe, Vera N. Bunina, hat nach dem Tod ihres Mannes das umfangreiche Material zusammengestellt. Fünfzig Jahre später endlich liegen die Erinnerungen in deutscher Übersetzung vor. Wie bei Peter Urban üblich, folgt dem Bunin-Text eine Zeittafel (von 1860-1953), ein sechzehnseitiger akkurater Anmerkungsapparat und ein penibles Personenverzeichnis. Die Darmstädter Jury wählte Bunins Aufzeichnungen zum Buch des Monats Januar 2005.

Am 17. März 2006 wird die Leipziger Kurt-Wolff-Stiftung den mit 26.000 Euro dotierten Kurt-Wolff-Preis 2006 an den Verlag Friedenauer Presse vergeben. Der Verlag Friedenauer Presse wird auf der Leipziger Messe ausgezeichnet für die Beharrlichkeit, dem deutschen Publikum russische Literatur nahe zu bringen und für den Nachdruck, mit dem er an Revolution und Holocaust erinnert, sowie für die sorgfältige Ausstattung.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

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Am  26.05. 2005  ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Tschechows Heimkehr -
nach Melichovo,
gezeichnet von
A. A. Chotjaincëva
(1898).

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