Aus dem Russischen übersetzt von Brigitte van Kann
Herausgegeben und kommentiert von Peter Urban
Friedenauer Presse, Berlin 2004, 300 S.
Warum schrieb ausgerechnet
die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg eine Biographie über
den russischen Schriftsteller
Anton Čechov? (Wir kennen von ihr
"Familienlexikon", "Nie sollst du mich befragen", "So ist es gewesen",
"Das imaginäre Leben"...) Ist sie auf ihn aufmerksam geworden durch
seine Reisen nach Italien oder lag ihr sein schlichter Stil? Ihr Buch
Anton Čechov. Ein Leben jedenfalls ist in
Tschechowschem Stil geschrieben,
was die "Süddeutsche Zeitung" veranlasst zu schreiben: "In ihrem neuen
Buch beschreibt sie [Natalia Ginzburg] sein
Leben so, wie
Čechov es sich selber
gewünscht haben könnte." Die Ginzburg erzählt von
Čechovs
Kindheit in Taganrog, von seinen vier Brüdern
und der Schwester Maria,
die ihm sein ganzes Leben treu zur Seite stand. Wir lesen von seinem
despotischen Vater und dessen kleinlichem Geiz und davon, dass er seine
Kinder mit dem Riemen züchtigte. Andererseits hatte der Vater sich selbst das
Geigenspiel beigebracht und malte Heiligenbilder. Die Mutter resignierte
ob ihres Lebens, versuchte aber die Kinder vor dem cholerischen
Charakter ihres Mannes zu schützen.
Čechov
sagte später, dass er und seine Geschwister "vom Vater das künstlerische
Talent, von der Mutter die Seele geerbt hätten".
Anton Čechov
übernahm schon als Junge die Verantwortung für die Familie (Die Brüder
tranken oder dachten vorrangig an sich selbst - wie der Vater.) und wurde mit
knapp neunzehn Jahren das Familienoberhaupt. Er "trug diese Last bis zum
Schluß auf seinen Schultern". Kein Wunder, dass man in Čechovs
Erzählungen nie auf Eheglück und Harmonie in der Familie trifft. Anton
Čechovs größter Wunsch war es, Arzt
zu werden. Um zum Unterhalt seiner Familie beizutragen, schrieb er
kleine humoristische Erzählungen - anfangs für fünf Kopeken die Zeile.
Er äußerte einmal, dass die Medizin seine rechtmäßige Ehefrau sei, die
Literatur seine Geliebte. Natalia Ginzburg schreibt: "Doch wenn bei den
komischen Geschichten das Lachen zusammen mit einem kalten Schauder in
einem aufstieg, so entstanden auch bei den nicht mehr komischen
Geschichten Rührung und Schmerz in einer rauhen Luft, die beim Einatmen
kalt war wie Schneeluft. Und wenn der Leser ein paar Tränen vergoß,
blieb doch das Auge des Schriftstellers immer trocken. Zudem äußerten
die Figuren in seinen Erzählungen ständig Kommentare, Urteile,
Beobachtungen, Meinungen. Der Schriftsteller jedoch gab keinerlei
Kommentare ab. Er gab niemanden recht oder unrecht. So war
Čechov
in seinen frühen Erzählungen, und so war er auch in seinen letzten. Ein
Schriftsteller, der niemals kommentierte."
Wir lesen in Anton Čechov.
Ein Leben von dem Landschaftsmaler Isaak Levitan (der Tschechows Schwester
Maria einen Heiratsantrag machte, der abgelehnt wurde), von Suvorin,
einem Verleger, dem Čechov bis zur
Dreyfus-Affäre sehr zugetan war, von dem fünfundsechzigjährigen
Schriftsteller Grigorovič, der dem jungen Čechov
seine rückhaltlose Bewunderung ausspricht, von Korolenko,
Tolstoj,
Gorki,
Bunin und vielen,
vielen anderen Persönlichkeiten der Literatur, des Verlagswesens und des
Theaters; natürlich informiert Natalia Ginzburg den Leser auch über die
Schauspielerin Olga Knipper, die
Tschechow 1901
heiratete.
Maria Tschechowa schlug nicht nur Levitans
Heinratsangebot aus, sondern auch Aleksandr Smagins. "Er war schön,
hatte liebenswürdige Umgangsformen"; dennn sie weihte ihr Leben (als
Haushaltshilfe, Sekretärin, Krankenschwester...) ihrem geliebten
Bruder. Überraschend oft, wie sich die Ginzburg über die einzelnen Werke
von Čechov äußert. Zu seinem Bericht
über Sachalin z. B. weiß sie zu berichten,
dass er ihn mit "unermeßlicher Langeweile" geschrieben habe. "Und jeden
Tag der Woche lastete der Gedanke an jenen Bericht wie Blei auf seinem
Gewissen: es schien ihm, als sei es seine dringliche Pflicht gegenüber
den Sträflingen, ihre Lage und die Hölle, die er dort gesehen hatte, zu
beschreiben." Auch die damaligen Leser soll sein Bericht enttäuscht
haben: "Sie fanden ihn grau und monoton. Sie erwarteten etwas
Dramatischeres." Nun, der heutige Leser weiß Čechovs
Sachalin-Bericht durchaus zu schätzen.
Welche geheimen Quellen hat die Ginzburg, wenn sie weiß, dass Čechov
im Dorf Melichovo das Dach richten ließ und sich ein sehr schönes "Klo
(...) nach englischer Art" einbauen ließ? Erstaunt bin ich auch über
ihre
Äußerungen über "die Dame"
Lidija Avilowa, wenn sie
behauptet, Čechov habe sie nie
geliebt: "Er empfand für sie eine absolute Gleichgültigkeit und
verfehlte nicht, ihr das auf jede mögliche Weise zu verstehen zu geben."
Wo und wie tat er das? Ich habe nirgendwo dergleichen gelesen. Auch der
glaubwürdige Zeitgenosse
Ivan Bunin ist da ganz anderer Meinung: "Bis
auf den heutigen Tag denken viele, Čechov
habe die große Liebe nicht gekannt. - Früher habe auch ich das
gedacht. Doch heute sage ich mit Bestimmtheit: er hat sie gekannt! Seine
große Liebe war Lidija Alekseevna Avilova."
Die Fotos in der Ginzburg-Biographie sind
alle schon bekannt, die meisten kenne ich aus dem großformatig-dicken Čechov-Buch "Sein Leben in Bildern"
aus dem Diogenes Verlag. Außerdem will ich nicht glauben, dass Natalia
Ginzburg die Tataren (Tartarendorf, Tartarenfiedhof...)
falsch schreibt. Sollte sich die Übersetzerin Maja Pflug vertan haben? Überhaupt: Ich fand die
Biographie der Ginzburg interessant, bis ich dann gleich anschließend die
Erinnerungen eines Zeitgenossen von
Ivan Bunin gelesen hatte...
Ivan Bunin schreibt in seinem Buch
Čechov.
Erinnerungen eines Zeitgenossen weiter über die Avilova: "Ich ahne,
daß mancher fragen wird: Kann man ihren Erinnerungen denn
uneingeschränkt vertrauen? - Lidija Alekseevna war ungemein
wahrheitsliebend. Sie unterschlug Čechovs
negative Bemerkungen über ihre literarischen Arbeiten ebenso wenig wie
seine Bemerkungen über sie selbst. Eine ungewöhnliche Frau!"
Die von Natalia Ginzburg (gestorben 1991 in
Rom) als Lügnerin geschmähte Avilova (1865-1942) ist Bunin viele Seiten
seiner Erinnerungen wert: "Alles an ihr war
bezaubernd: die Stimme, eine gewisse Schüchternheit, der Blick ihrer
wunderbaren graublauen Augen... Avilova (...) war genau eine der
Frauen, wie Čechov sie liebte
und die er `prächtig´ nannte."
Natürlich sind auch Bunins Erinnerungen
subjektiv, wie es Erinnerungen immer sind. Aber er erlebte Čechov
ab 1899 aus nächster Nähe, beinahe als Mitglied der Familie. Da kann
Angelesenes nicht mithalten...
In seinem Vorwort hält Peter Urban, der die
größte deutschsprachige Čechov-Ausgabe
herausgegeben hat, Bunins "Fragment gebliebene Aufzeichnungen",
für das "Wahrhaftigste und Beste, was auf russisch je über Anton Čechov
gesagt worden ist". Außerdem brauchte Bunin, da er seit 1920 in der
Emigration weilte, kein Blatt vor den Mund zu
nehmen. Bunin starb 1953, bevor er seine "Erinnerungen" beendet hatte.
Der erste und der
zweite Weltkrieg hatten ihn lange gehindert, die
Erinnerungen an Čechov zu einem Buch auszubauen. Erst nach dem
zweiten Weltkrieg
konnte er in Paris in russischen Buchhandlungen Bände der
maßgeblichen großen Moskauer Čechov-Ausgabe kaufen, las Cechovs Briefe
noch einmal im Zusammennang, ergänzte seine Erinnerungen und arbeitete
die Sekundär- und Memoirenliteratur auf. Doch
was er an Urteilen, Beobachtungen und Kommentaren, vor allem auch an
richtig gestellten, `heiklen´ und bis heute unbeantworteten Fragen
hinterlassen hat, bestätigt, was Marija Pawlowna [Tschechowa] schon 1911 geahnt
hatte: `Besser als er wird niemand schreiben.´" (Urban)
Man spürt von der ersten bis zur letzten
Seite, wie zugetan sich die beiden Schriftsteller waren: "Hier der
erfolgreiche Schriftsteller und Dramatiker, dort der Anfänger, der sich,
als er Čechov kennenlernte,
beschreibt als `jung, frei, in der Blüte meiner Kräfte und eben erst
dabei bekanntzuwerden´; hier der `Sohn eines Leibeigenen´, dort der Sproß
eines verarmten, aber alteingesessenen Adelsgeschlechts, das in der
Puškinzeit die Poetesse A. A. Bunina und den Dichter Žukovskij (den
unehelichen Sohn eines Bunin) hervorgebracht hat, worauf Bunin stolz
war; hier der hochgebildete Mediziner, dort der Gelegenheitsarbeiter,
der nur vier Gymnasialklassen absolviert und als Autodidakt zu schreiben
begonnen hatte." (Urban) "Ich bin Menschen begegnet", schreibt
der erste russische Nobelpreisträger Bunin,
"die nicht weniger aufrichtig als Čechov
waren, aber an Menschen, die dermaßen einfach, jeder Phrase und
Affektiertheit abhold gewesen wären, erinnere ich mich nicht."
Bunins Erinnerungen sind 1955 in New York erschienen.
Seine Witwe, Vera N. Bunina, hat nach dem Tod ihres Mannes das
umfangreiche Material zusammengestellt. Fünfzig Jahre
später endlich liegen die Erinnerungen in deutscher Übersetzung vor. Wie bei Peter
Urban üblich, folgt dem Bunin-Text eine Zeittafel (von 1860-1953), ein
sechzehnseitiger akkurater Anmerkungsapparat und ein penibles
Personenverzeichnis. Die Darmstädter Jury wählte Bunins Aufzeichnungen
zum Buch des Monats Januar 2005.
Am 17. März 2006 wird die Leipziger Kurt-Wolff-Stiftung den mit 26.000
Euro dotierten Kurt-Wolff-Preis 2006 an den Verlag
Friedenauer Presse
vergeben. Der Verlag
Friedenauer Presse wird
auf der Leipziger Messe ausgezeichnet für die Beharrlichkeit, dem
deutschen Publikum russische Literatur nahe zu bringen und für den
Nachdruck, mit dem er an Revolution und Holocaust erinnert, sowie für
die sorgfältige Ausstattung.
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- Sabine Adler, Russenkind. Eine Tochter auf der Suche nach ihrer Mutter.
- Tschingis Aitmatow, Kindheit in Kirgisien.
- Ellen Alpsten, Die Zarin.
- Anton Bayr, Vergessene Schicksale. Überlebenskampf in sowjetischen
Lagern - ein Kriegsgefangener erinnert sich.
- Nina Berberova, Ich komme aus St. Petersburg.
- Juliet Butler, Masha & Dasha. Autobiographie eines siamesischen Zwillingspaares.
- E. H. Carr, Romantiker der Revolution. Ein russischer
Familienroman aus dem 19. Jahrhundert.
- Alexandra Cavelius, Die Zeit der Wölfe.
- Marc Chagall, Mein Leben.
- Jerome Charyn, Die dunkle Schöne aus Weißrußland.
- Kurt Drawert / Blaise Cendrars, Reisen im Rückwärtsgang.
- Werner Eberlein, Geboren am 9. November.
- Irina Ehrenburg, So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert.
- Ota Filip, Das Russenhaus.
- Natalija Geworkjan / Andrei Kolesnikow / Natalja Timakowa, Aus erster Hand. Gespräche mit Wladimir Putin.
- Michail Gorbatschow, Über mein Land.
- Friedrich Gorenstein, Malen, wie die Vögel singen. Ein Chagall-Roman.
- Friedrich Gorenstein, SKRJABIN.
- Daniil Granin, Das Jahrhundert der Angst. Erinnerungen.
- Madeleine Grawitz, Bakunin. Ein Leben für die Freiheit.
- Viktor Jerofejew, Der gute Stalin.
- Jewgeni Jewtuschenko, Der Wolfspass. Abenteuer eines Dichterlebens.
- Kjell Johansson, Gogols Welt.
- Michail Kalaschnikow (Mit Elena Joly), Mein Leben.
- Wladimir Kaminer, Russendisko.
- Wladimir Kaminer, Militärmusik.
- Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
- Jelena Koschina, Durch die brennende Steppe.
- Leonhard Kossuth, Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag.
- Gidon Kremer, Zwischen Welten.
- Anna Larina Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig.
Erinnerungen.
- Richard Lourie, SACHAROW.
- Klaus-Rüdiger Mai, Michail Gorbatschow. Sein Leben und seine
Bedeutung für Russlands Zukunft.
- Medina Mamleew, Ich öffne meine ganze Seele.
- Andreas
Meyer-Landrut, Mit Gott und langen Unterhosen. Erlebnisse eines Diplomaten in der Zeit des Kalten Krieges.
- Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert. Autobiographie.
- Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des roten Zaren.
- Boris Nossik, Vladimir Nabokov. Eine Biographie.
- Ingeborg Ochsenknecht, "Als ob der Schnee alles zudeckte". Eine
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- Irina Pantaeva, Mein Weg auf die Laufstege der Welt.
- Edward Radsinski, Die Geheimakte Rasputin. Neue Erkenntnisse über
den Dämon am Zarenhof.
- Alexander Rahr, Wladimir Putin. Der "Deutsche" im Kreml.
- Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
- Anatoli Rybakow, Die Kinder vom Arbat.
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