Belletristik REZENSIONEN

Drei Schwestern...

Russin über Tschernobyl, die Ukraine und Belorussland
Der Stern Tschernobyl
Schicksal einer Familie. Ein fast dokumentarischer Roman
Aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth
Roitman Verlag, München 1986, 192 S.

Im Mittelpunkt des dokumentarischen Romans von Julia Wosnessenskaja stehen drei Schwestern (nicht die von Tschechow): Anastasija, Anna und Aljona. Ihr Vater war Versuchsflieger; er verunglückte tödlich bei Geheimversuchen auf der russischen Nordinsel Nowaja Semlja, wo es eine Atomstation und Raketenbasen gab. Da war Aljona drei Jahre alt, Anna ging noch zur Schule und die Älteste der Schwestern, Anastasija, bereitete sich auf die wissenschaftliche Aspirantur vor; sie galt als begabt, man hatte sie für die akademische Laufbahn vorgesehen. Auch einen Verlobten hatte sie, Wolodja. Die Mutter war nach dem Tod des Vaters zusammen gebrochen, "wurde mit einem Schlage alt, verlöschte. Anastasija blieb mit den kleineren Schwestern allein". Ihr Verlobter suchte deshalb das Weite und die Aspirantur ging futsch, Anastasija opferte beides für die Versorgung der Schwestern. Sie meldete sich freiwillig als Lehrerin in ein abgelegenes Dorf im Gebiet Leningrad. Auf dem Lande war es leichter, mit dem kärglichen Lehrergehalt sich und die Mädchen durchzubringen. Nach sechs Jahren wurde Anastasija Direktorin der Schule. Sie sei schwerblütig, sagt Anna von ihr, "schwerfällig wie ein Panzer und langweilig wie ein Mausoleum. Und unzerstörbar wie ein Betonbunker."  Und Anna? Kaum hatte die Mittlere der drei Schwestern das Institut absolviert, begann sie aus der Reihe zu tanzen. Als erstes warf sie die Aspirantur hin, dann heiratete sie, ließ sich aber bald wieder scheiden. Sie geriet in eine Dissidentengruppe, unterzeichnete irgendwelche Proteste, wurde verhaftet und verbrachte ein Jahr im Lager. - Und Aljona? Sie besuchte nach der 8. Klasse die Oberschule in Leningrad, war ein "fröhliches und gutartiges Mädchen ohne ausgeprägte Interessen".

Anastasija ist seit fünfzehn Jahren überzeugte Kommunistin, ihr Glaube ist die Partei. Anna hingegen ist Christin geworden, sie ließ sich als Erwachsene taufen. Und die unbekümmerte Aljona, die vor ihrem 18. Lebensjahr steht, hat sich in Iwanuschka verliebt, nicht in den dummen Iwanuschka aus dem Märchen, sondern in den Kernphysiker, der im Atomkraftwerk von Tschernobyl als Operator arbeitet. Anastasija bleibt in ihrem Dorf, Anna reist 1979 in die Bundesrepublik Deutschland aus, Aljona heiratet ihren Iwanuschka, mit dem sie in der ukrainischen Energetikersiedlung Pripjat lebt und zwei Söhne, Zwillinge, kriegt.

Soweit der Prolog des Buches. Das 1. Kapitel spielt sieben Jahre später: 1986. Die in die Bundesrepublik ausgereiste Anna hat sieben Jahre lang nichts von ihren beiden Schwestern gehört, keinerlei Post erhalten - weder von Anastasija noch von Aljona. "Der einen verbot es die Partei, der anderen die Arbeit ihres Mannes im Atomkraftwerk." Wir erleben Anna mit ihrem späteren Mann, dem Schweden Sven, auf Vortragsreise in Schweden; sie spricht über die russische Samisdat-Dichtung, er übersetzt die Dichterinnen Ratuschinskaja, Wladimirowna,  Gorbanewskaja, Jelena Schwarz... Ein verständnisvolles, friedliches Miteinander zweier Menschen, die sich lieben. Da platzt die Nachricht herein, dass in Schweden, Norwegen, Finnland und Dänemark vermehrte Radioaktivität der Luft registriert worden ist. Man vermutet, dass der Wind die Radioaktivität von der Sowjetunion herüberweht, man nimmt eine Atomkatastrophe an. Doch die Sowjetunion - obwohl der Perestroika-Gorbatschow an der Macht ist - bestreitet erhöhte Strahlenwerte auf seinem Territorium. Anna ist beunruhigt und ruft nach sieben Jahre Pause ihre Schwester Anastasija an, um zu erfahren, ob es sich um Tschernobyl handelt, wo sie ihre jüngste Schwester und deren Familie weiß. Anastasija fällt aus allen Wolken, nicht so sehr, weil ihre Schwester sie anruft, sondern weil sie unerhört findet, was ihre Schwester vermutet...

Julia Wosnessenska stellt jeweils parallel zu allen Szenen der aufregenden Roman-Handlung wörtliche Zitate aus russischen, ukrainischen und belorussischen Medien. Statt über den tragischen Atom-Unfall zu berichten, schreiben sie am 26. April 1986 über den Allunionssubbotnik zu Ehren des 116. Geburtstages W. I. Lenins, über die planmäßige Holzbeschaffung in Karelien, über eine landwirtschaftliche Ausstellung in Kiew... Zwei Tage später, am 28. April 1986 senden die Nachrichten von Radio Moskau, dass der Sekretär des ZK der KPdSU Genosse Sajkow einen der führenden chemischen Betriebe, die Lenin-Werke, im Gebiet Tula besucht hat; dass die Bohrarbeiter der Tjumen-Ölfelder den Plan für den Monat April vorfristig erfüllt haben; dass im Gebiet Kaluga mit der Getreideaussaat begonnen wurde; dass eine Delegation der Bruderpartei der Völker Spaniens die Sowjetunion besucht habe, dass der amerikanische Staatssekretär Shultz erklärte, dass die USA nicht beabsichtige, ihre terroristischen Aktivitäten gegen Libyen aufzugeben; dass die israelischen Aggressoren einen weiteren Teil des libanesischen Territoriums okkupierten; dass in Luxemburg die Sitzung des Ministerrates der Europäischen Gemeinschaft eröffnet wurde... Zwischen der Mittelung über die Getreideaussaat in Kaluga und der Delegation der spanischen Bruderpartei diese Nachricht: "Der Ministerrat der UdSSR teilt mit: Im Kernkraftwerk Tschernobyl kam es zu einem Unfall. Ein Atomreaktor war schadhaft. Es wurden Maßnahmen zur Beseitigung der Unfallfolgen ergriffen. Die Verletzten wurden ärztlich versorgt. Es wurde eine Regierungskommission eingerichtet."

Kein Hinweis auf die Toten, keine Mitteilung darauf, dass eine Verstrahlung großer Gebiete stattgefunden hat, keine Warnung der Bevölkerung!!!

Anastasija, die Korrekt-Langweilige, lässt, beunruhigt durch den Anruf ihrer Schwester Anna, alles stehen und liegen und reist nach Moskau, in der Hoffnung, im Krankenhaus Nummer 6 - dem Spezialkrankenhaus für Strahlengeschädigte - etwas über Aljona und deren Mann in Erfahrung zu bringen. Durch Ihre Hartnäckigkeit gelingt es ihr zu erfahren, dass Iwanuschka das Unglück nicht überlebt hat. Da jedoch niemand etwas über ihre Schwester Aljona und deren Zwillinge weiß, schlägt sie sich bis nach Kiew und weiter bis nach Tschernobyl durch --- bis in die 30-Kilometer-Sperrzone, bis in die Wohnung ihrer Schwester. Sie erkennt, wie überstürzt die Wohnung verlassen worden ist. In Tschernobyl stößt Anastasija auf alte, kranke Menschen, die sich nicht evakuieren lassen wollten oder von ihren Familien zurückgelassen wurden und nun ihrem Schicksal ausgeliefert sind. Inzwischen selbst strahlengeschädigt, bleibt Anastasija in Tschernobyl, um diesen Hilflosen beizustehen.

Im Verlaufe ihrer schwierigen Suche, zusätzlich erschwert durch Bürokraten und Parteifunktionäre, wird die "Parteiolle"  so etwas wie eine Dissidentin --- was von der Autorin ganz und gar überzeugend gestaltet ist. Auch Anna macht sich von Deutschland aus auf den beschwerlichen Weg in die Ukraine. Im Krankenhaus des ukrainischen Odessa findet sie die strahlenkranken Zwillinge von Aljona.

Das Nesthäkchen Aljona finden beide Schwestern nicht!

Anna wird den Lebensweg Anastasijas wiederholen und Aljonas Kindern die Mutter ersetzen ... Annas Liebe, der Schwede Sven, verlässt sie nicht - wie es einst der Verlobte von Anastasija tat.

Julia Wosnessenskaja, gebürtige Leningraderin, wurde 1980, nach einer Haftstrafe in Sibirien und anschließender Verbannung zur Emigration gezwungen. Sie lebt heute in München. Von ihr stammt "Was Russen über Deutsche denken", Interviews, 1998 im Ullstein Taschenbuchverlag erschienen. Mit ihrem "Frauen-Decameron" (im Roitman Verlag, 1985 erschienen,) machte sie sich als Autorin auch international einen literarischen Namen; sie ist Mitglied des PEN-Clubs. Ihr fast dokumentarischer Roman Der Stern Tschernobyl beeindruckt auch heute noch durch die chronologische Gegenüberstellung von Romanhandlung und sowjetischen Medien.

Am 18.07.2011 ins Netz gestellt.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
Weitere Rezensionen zum Thema "Atomkraft / Tschernobyl":

  • Swetlana Alexijewitsch, Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.
  • Merle Hilbk, Tschernobyl Baby. Wir wir lernten, das Atom zu lieben.
  • Wladimir Jaworiwski, Maria mit der Wermutspflanze. Roman um die Havarie von Tschernobyl.
  • Igor Kostin, Tschernobyl. Nahaufnahme.
  • Rollan Seysenbajew, Der Tag, als die Welt zusammenbrach.
  • Anatoly N. Tkachuk, Ich war im Sarkophag von Tschernobyl. Der Bericht des Überlebenden.
  • Igor Trutanow, Die Hölle von Semipalatinsk.
Weitere Rezensionen zum Thema "Ukraine":

  • Swetlana Alexijewitsch, Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.
  • Merle Hilbk, Tschernobyl Baby. Wir wir lernten, das Atom zu lieben.
  • Wladimir Jaworiwski, Maria mit der Wermutspflanze. Roman um die Havarie von Tschernobyl.
  • Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
  • Andrej Kurkow, Petrowitsch.
  • Andrej Kurkow, Ein Freund des Verblichenen.
  • Andrej Kurkow, Picknick auf dem Eis.
  • Andrej Kurkow, Pinguine frieren nicht.
  • Alexander Pjatigorski, Erinnerung an einen fremden Mann.
  • Reiner Riedler, Ukraine.
  • Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
  • Hans Thill (Hrsg.), Vorwärts, ihr Kampfschildkröten. Gedichte aus der Ukraine.
  • Anatoly N. Tkachuk, Ich war im Sarkophag von Tschernobyl. Der Bericht des Überlebenden.
  • Semjon S. Umanskij, Jüdisches Glück. Bericht aus der Ukraine 1933-1944.
Weitere Rezensionen zum Thema "Belarus / Weißrussland":

  • Merle Hilbk, Tschernobyl Baby. Wir wir lernten, das Atom zu lieben.
  • Wladimir Jaworiwski, Maria mit der Wermutspflanze. Roman um die Havarie von Tschernobyl.
  • Wladimir und Olga Kaminer, Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus. Darin: Belarus / Weißrussland.
  • Paul Kohl, Schöne Grüße aus Minsk.
  • Igor Kostin, Tschernobyl. Nahaufnahme.
  • Anatoly N. Tkachuk, Ich war im Sarkophag von Tschernobyl. Der Bericht des Überlebenden.
  • Anika Walke, Jüdische Partisaninnen. Der verschwiegene Widerstand in der Sowjetunion.
Am 30.08.2011 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

 

Die Gedanken im Himmel, die Beine im Bett
Sprichwort der Ukrainer

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]