Sachbuch REZENSIONEN

Vom Oberaufseher aller Gulags

Über den Georgier Lawrentij Berija
Protokoll einer Abrechnung
Das Plenum des ZK der KPdSU Juli 1953
Stenographischer Bericht
Herausgegeben und aus dem Russischen von Viktor Knoll und Lothar Kölm
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin, 2. Auflage 1999, 364 S.

(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Dirk Schick.)

Wer war der Henker in Stalins Diensten - der nicht einmal davor zurückschreckte, minderjährige Mädchen zu vergewaltigen?

Das war Lawrentij Pawlowitsch Berija, 1899 in Georgien geboren, seit Jugendjahren befreundet mit Josef (Jossif) Wissarionowitsch Stalin (Dschugaschwili). Ab 1921 war er in leitenden Funktionen in der kaukasischen Geheimpolizei, ab 1927 georgischer Chef der GPU, der Nachfolgeorganisation der Tscheka, 1931 wurde er 1. Sekretär des ZK der KP Georgiens, 1932-1936 war er Erster Sekretär des ZK der KP Transkaukasiens. 1936/37 ermordete er mit seinen Helfershelfern die Familie Nestor Lakobas, des Vorsitzenden der abchasischen Kommunistischen Partei: Lakoba war 1936 auf Einladung Berijas ins transkaukasische Tiflis (Tbilissi) gereist und wenige Tage später angeblich an Herzversagen gestorben; anschließend des Verrats bezichtigt; sein Bruder Michail wurde zum Tode verurteilt, seine Frau in der Untersuchungshaft zu Tode gefoltert, der vierzehnjährige Sohn Rauf in einem Gefängnis erschossen. Damit hatte Berija sich für Moskau qualifiziert, Stalin selbst holte den Jugendfreund 1938 als Volkskommissar für Innere Angelegenheiten in den Kreml. Während des zweiten Weltkrieges war Berija Stellvertretender Ministerpräsident, nach dem Krieg Mitglied des Politbüros und der mächtigste Mann neben Stalin, an Sadismus und Gewissenlosigkeit nicht zu überbieten. "Stalin", so schreibt Klaus-Rüdiger Mai in seiner Gorbatschow-Biografie, "hatte seinen Himmler gefunden." Auch Montefiore hat für seine Stalin-Biografie viel Schauerliches über Berija zusammengetragen, auch über sein Verhalten an Stalins Totenlager: "Der unehelich geborene Mingrelier, gelernter Architekt, dann jedoch im Polizeidienst ergraute Tschekist, träumte bereits davon, das Reich, eine der atomaren Supermächte, zu regieren und nicht mehr nur Geheimpolizist, sondern ein internationaler Staatsmann zu sein." Und Chruschtschow schreibt in seinen Memoiren: "Sobald Stalin gestorben war, strahlte Berija (...) Er feierte, um es ungeschminkt zu sagen, seinen Einstand, noch bevor Stalins Leichnam in den Sarg gelegt worden war. Berija war sicher, daß der Augenblick, auf den er so lange gewartet hatte, endlich gekommen war. Jetzt konnte ihn keine Macht der Erde mehr zurückhalten. Nichts konnte sich ihm in den Weg stellen..." Doch der Schlächter und Mörder Berija hatte zu früh frohlockt und den tödlichen Fehler begangen, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow - den widersprüchlichen und wegen seiner Augenblickseingebungen gefürchteten Politiker -  zu unterschätzen.

Chruschtschow hatte Gleichgesinnte um sich gescharrt und schnell war Berija, der Innenminister und stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR, als Hauptschuldiger für alle Verfehlungen ermittelt - schon auf dem Plenum des ZK der KPdSU im Juli 1953 saß man zu Gericht;  Stalin wurde auf diesem Plenum noch als der überragende Genius präsentiert. 

Hatten auf der Höhe von Berijas Macht alle - ohne Ausnahme - vor ihm gezittert, so kühlten seine einstigen Kollegen jetzt ihr Mütchen an dem Verhafteten. Sie präsentierten sich selbst als integre Personen, sehr wohl wissend, welchen Anteil sie selbst an der Entfaltung des Personenkultes sowie des Repressionsapparates hatten. Chruschtschow zum Beispiel soll 1938 als Parteichef der Ukraine die Erschießung von 55 741 Verdächtigen angeordnet haben.

Wahrlich, Parteidokumente zu lesen ist kein Vergnügen. "Dennoch", meinen die beiden Übersetzer des `Stenographischen Berichts´, "vermag dieses Dokument den Leser zu fesseln."

Zu fesseln? Mich hat dieses politische Tribunal in erster Linie abgestoßen.

Wäre einer der hier vorgebrachten Vorwürfe und Angriffe geäußert worden, als Berija noch über seine Machtfülle verfügte, wären die jetzt Gift und Galle Spuckenden bewunderungswürdig gewesen. So ist es nur einfach widerlich, wie sie, die an allem Mitschuldigen, den Schuldigen begeifern: "Dies [Berija] ist ein hinterhältiger Mensch und ein gewandter Karrierist. Mit seinen schmutzigen Pfoten hielt er die Seele des Genossen Stalin fest umklammert (...). (Chruschtschow) Oder: "Doch erst jetzt ist uns bewußt geworden (...)  in welch einem Maße dies ein schmutziger und amoralischer Typ ist. Jetzt ist klar (...), daß er [Berija] ein großer Verbrecher und Abenteurer ist." (Molotow) Oder: "Vor unseren Augen (...) führte er [Berija] sich grob und unverschämt auf, er mißachtete das Kollektiv und die Genossen frech und intrigierte bei Genossen Stalin." (Bulganin) Woroschilow nennt ihn "einen ausgemachten Gauner und unverschämten Menschen, einen Halunken, Schurken und Provokateur", Barkadse wirft ihm "Speichelleckerei und Katzbuckelei" vor, Kaganowitsch nennt Berija einen "partei- und staatsfeindlichen Verbrecher" und einen "ränkeschmiedenden, intriganten und unverschämten Charakter" usw. usw.

An dem Berija unterstehenden Lagersystem hatte zum Zeitpunkt des Plenums niemand aus der Partei- und Staatsbürokratie etwas auszusetzen. In dem Punkt "Stalinismus ohne Stalin" hatte zwischen Berija und den anderen Präsidiumsmitgliedern mehr oder weniger Übereinstimmung geherrscht, wenngleich auch aus unterschiedlichen Motiven. "Der unüberbrückbare Gegensatz tat sich in der Frage der Realisierung auf. Berija meinte offenbar, dies ohne und gegen die Partei erreichen zu können. Chruschtschow und seine Gefolgsleute hingegen beharrten auf dem Standpunkt, daß dies nur mit der Partei und bei einem gleichzeitigen Ausbau ihrer Macht zu bewerkstelligen sei. Bei Berija bildeten das Innenministerium und die Sicherheitsorgane den entscheidenden Brückenkopf, bei Chruschtschow war es der Parteiapparat." In diesem Kontext verwundert es nicht, dass die auf dem Plenum vorgetragene Anklage und Verurteilung Berijas sich auf einen relativ kurzen Zeitabschnitt seiner Tätigkeit beschränkte - auf die Monate seit Stalins Tod. Berija war nicht etwa deshalb verhaftet, aller Posten enthoben und aus der Partei ausgeschlossen worden, weil er der Chef des Repressivapparates gewesen war, der im Auftrag Stalins das gesamte Land mit einem engmaschigem Netz von Arbeits- und Straflagern überzogen hatte, und der über das Wohl und Wehe von einzelnen Personen, Personengruppen bis hin zu ganzen Völkerschaften entschied - denn mit diesem Vorwurf hätte es auch vielen anderen an den Kragen gehen können - sondern fast alle Redner des Plenums sprachen und beklagten sich über Mängel, Fehler und Unzulänglichkeiten auf dem Gebiet der Parteiarbeit, der Ideologie, der Nationalitätenpolitik, der Wirtschaft, sowohl der in der Industrie als auch in der Landwirtschaft. An Stelle einer ernsthaften Analyse der wirklichen Ursachen musste Berija als Sündenbock für alle Übel herhalten.

Wer dieses Dokument geduldig liest, dem gewährt es weit reichende Einblicke in Funktionsmechanismen und Machtstrukturen des Sowjetsystems, die über den Rahmen des bisher Bekannten oder Vermuteten hinausgehen.  Den zeitlichen Hintergrund der Ereignisse bildet das Jahr 1953. Am 5. März war Generalissimus Josef Wissarionowitsch Stalin, der "große Denker und Lenker" gestorben. Seinen schweren Tod beschreibt Montefiore detailliert in seiner Stalin-Biografie. Stalin hatte bekanntlich keinen Nachfolger für sich im höchsten Parteiamt benannt, von seiner Gefolgschaft sprach er geringschätzig als von "blinden Katzen". Niemanden traute er zu, ihm auch nur annähernd ebenbürtig zu sein. Folgerichtig konnte also nur ein Kollektiv Stalins Platz ausfüllen, nicht eine einzelne Person. Die Umbruchsituation nach Stalins Tod bildet den Gegenstand des vorliegend Protokolls. Berija wurde nach seiner Verhaftung am 26. Juni 1953  wegen "partei- und staatsfeindlicher Tätigkeit" angeklagt und erschossen. Die beiden Übersetzer Knoll und Kölm schreiben in ihrem Vorwort: "Mit diesem parteiinternen Coup sollte nicht etwa das System des Terrors und der Willkür an den Pranger gestellt werden. Es handelte sich vielmehr um die erste große Kraftprobe innerhalb der Führung der KPdSU, die angesichts des durch den Tod Stalins entstandenen Machtvakuums vor der dringlichen Aufgabe stand, die offenkundige Führungskrise so rasch wie möglich, notfalls auch mit Gewalt, beizulegen."

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de    

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Am 13.03.2006 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Halte dich fern von einem, der den Verstand verloren hat.
Sprichwort der Russen

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