Belletristik REZENSIONEN |
"Wozu brauchst du Russland, wenn ich hier bin!"
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Ota Filip |
Über den Russen Wassily Kandinsky |
Das Russenhaus
Roman um Gabriele Münter und Wassily Kandinsky
LangenMüller Verlag, München 2005, 240 S.
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1908 - als das bayerische Murnau etwa 2 500 Einwohner zählte - war das
Dorf mit seiner herrlichen Berg- und Seenlandschaft, der kleinen
Bahnstation und dem Kulturhaus ein beliebter Sommeraufenthalt. Deshalb unternahmen der
Moskauer Maler Wassily Wassiljewitsch Ritter von
Kandinsky und die Berliner Malerin Gabriele Münter in jenem Jahr einen
Ausflug an den Murnauer Staffelsee. Gabriele Münter schrieb darüber in
ihrem Tagebuch: "Murnau hatten wir auf einem Ausflug gesehen und an
Jawlensky und Werefkin empfohlen, die uns im Herbst auch hinriefen.
Wir wohnten im `Griesbräu´, und es gefiel uns sehr." Das
Maler-Liebespaar war von der Natur Murnaus so begeistert, dass
Gabriele dort 1909 eine kleine Villa kaufte - auf einer Anhöhe mit
einem weiten Blick auf den Ort und das Gebirgspanorama -, um für sich
und ihren geliebten Wassja ein gemeinsames Zuhause zu schaffen.
Bald schon nannten die Dorfbewohner das gelbe Haus im Mansardenstil
das "Russenhaus"; denn außer dem Maler und der Malerin lebten hier auch öfter die russische Malerin Marianne von
Werefkin* (1960-1938; Gründungsmitglied der Neuen Münchner
Künstlervereinigung und des Blauen Reiters) und der russische Maler
Alexej von Jawlenski* (1864-1941; er war 1896 mit Marianne von Werefkin nach
München gezogen, wo er Kandinsky traf und dem Blauen Reiter nahe
stand). Wassily Wassiljewitsch Ritter von Kandinsky war 1909 noch mit
seiner ersten Frau Anna Semjakina verheiratet und lebte, wie die
Dörfler tuschelten, mit Gabriele Münter in wilder Ehe. Das
"Russenhaus" war Treffpunkt der Avantgarde**, auch die deutschen Maler
August Macke (1887-1914) und Franz Marc (1880-1916) waren hier zu
Gast, wo man über die Entwürfe zu der programmatischen Schrift
"Almanach des blauen Reiter" diskutierte, die Kandinsky dann herausgab.
Genau so wie Ota Filip das Paar Kandinsky (1866-1944; einer der
Begründer der abstrakten Kunst) / Münter (1877-1962) beschreibt, hätte
ich es mir vorgestellt. Sie, zwölf Jahre jünger als er, eifrig bei
Skrjabin russisch lernend,
ihrem Wassja ganz ergeben, er mehr an seine Werke
interessiert als an der hingebungsvollen Geliebten.
Ota Filip - 1930 in Mährisch-Ostrau geboren, ein deutsch- und
tschechischsprachiger Migrantenschriftsteller - hat einen
faszinierenden Roman geschrieben über die unglückselige Liebe und das
tragische Ende einer ungewöhnlichen Beziehung. Wegen Ausbruch des
ersten Weltkrieges und um der Vereinnahmung der Münter zu entfliehen, kehrt Kandinsky 1914 in sein geliebtes
Russland zurück, da sind er und
sie dreizehn lange Jahre ein Paar gewesen, hatte die Münter "ihren"
Wassja verhätschelt, jeden Groschen mit ihm geteilt und stets dafür
gesorgt, dass Zigaretten und Wodka für ihn im Hause sind ("Wozu
brauchst du Russland, wenn ich hier bin.") Auch er umsorgte sein
"Schwimmfüchslein", blieb aber immer der launenhafte, mürrische,
ichbezogene Mann.
Ota Filip schreibt in seiner Einführung, dass er die sechs Jahre in
Murnau nicht mit Datenangaben zerstückeln, sondern sie als einen
einzigen Zeitabschnitt schildern wolle, in dem diese "wunderbaren
Künstler viel gelitten und dabei Wunderbares geschaffen haben". Der
Autor führt in seinem Roman in der Ich-Form einen Erzähler (einen
dorogoi drug = einen teuren Freund) ein, der mit Kandinsky und Münter lange
Gespräche führt, obwohl beide längst tot sind. Auch Selbstgespräche der beiden (Toten)
spielen in Das Russenhaus eine entscheidende Rolle. Der
wesentliche Teil seines "vermeintlichen" Wissens über Wassily und
Gabriele beruht auf der Phantasie des Autors, auf seinen fabulierten,
nie stattgefundenen Gesprächen. Warum der Autor in seinem Buch
Gabriele Münter durchweg Ella nennt, durchschaue ich nicht, zumal ja
auch Wassily Wassiljewitsch Ritter von Kandinsky mit seinem vollen richtigen
Namen im Buch agiert. Eine wichtige - aber keine verlässliche - Zeugin
für die Geschichten in des Autors Buch ist die Enkelin von Großmutter Teresa, die Dienstmädchen im "Russenhaus"
war und in ihrer Familie viel über die Russen erzählt hat. Ota Filip
nimmt sich das Recht heraus, Wassily und Ella (Gabriele) "in seiner
Phantasie so auferstehen zu lassen, wie er ihnen in unserer Zeit in
Murnau gerne begegnen möchte". Und so verbindet sich Ota Filips
überbordende Erzählkunst mit
phantastischer Fabulierkunst. Wer die "ganze Wahrheit" über das
Maler-Liebespaar erfahren möchte, schaue ins Lexikon oder in den
Katalog "Der Blaue Reiter und seine Künstler" (Hirmer Verlag,
München1998).
Irgendwann wird ein Schriftsteller eine Biographie über Ota Filip
schreiben - denke ich. Denn: Was für ein Leben! Der Vater des heute sechzigjährigen Ota Filip ließ sich 1939, als die Deutschen den Rest von Tschechien
als Reichsprotektorat Böhmen und Mähren besetzt hatten, als Deutscher
registrieren. Seinen neunjährigen Sohn Ota gab er zur Hitler-Jugend. Nach
dem Sieg der Russen und der Vertreibung der Deutschen blieb die
Familie Filip in Ostrava (Mährisch-Ostrau), als Bürger der
sozialistischen Tschechoslowakei. Der inzwischen
zwanzigjährige Ota muss die Schuld seines Vaters in einem
Strafbataillon abbüßen. 1952 planen er und einige Kameraden die Flucht
aus dem harten Dienst. Jemand denunziert die Freundesgruppe; die
Soldaten werden verhaftet, kommen vor Gericht und müssen auf Jahre ins
Gefängnis. Der junge Ota bricht zusammen, bekundet "tätige Reue"
gesteht, unterschreibt alles und wird entlassen. Die verratenen
Kameraden glauben, dass er sie denunziert hat. 1953, ein Jahr nach dem
gescheiterten Fluchtplan, heiratete Ota, 1954 wird sein Sohn Pavel
geboren. Ota Filip erwirbt sein Abitur, studiert Journalistik und
arbeitet als Redakteur bei verschiedenen tschechischen Zeitungen und
beim Rundfunk. Regimetreu ist er nur in Maßen: 1960 erfolgt nach nur
einem Jahr Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei sein
Ausschluss, er arbeitet nun bis 1967 als Hilfsarbeiter, ab 1968 als
Verlagsdirektor. 1968 begeht Ota Filip einen schweren Fehler; denn er
tippt auf der Schreibmaschine seiner Redaktion ein Flugblatt gegen den
sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei. Er wird auf Grund der
Schreibtype identifiziert und kommt in Haft, wo er gefoltert,
geprügelt und verhört wird. Wegen "Unterwühlung der sozialistischen
Gesellschaft" sitzt er vierzehn Monate im Gefängnis. Wieder bricht der
"sensible, redselige und sehr schwache Ota Filip" ("Berliner Zeitung"
vom 19.01.1998) zusammen. Er unterzeichnet ein Papier, mit dem er sich zur
Mitarbeit mit dem tschechischen Geheimdienst bereit erklärt.
Inzwischen ist Filip im Westen als Romancier bekannt geworden, seine
Romane befassen sich mit dem ersten Kapitel seiner Familientragödie in
der Zeit der deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg. Bis er 1970
frei kommt, arbeitet er als Möbelmonteur, Lastwagenfahrer und
Bauarbeiter. 1974 wird er mit seiner Familie ausgebürgert und lebt
seitdem als freier Schriftsteller in Oberbayern. Es folgen ruhige
anderthalb Jahrzehnte in München, in denen er für die
deutsch-tschechische Versöhnung eintritt. Als 1989 die osteuropäischen
Regimes stürzen, warnt er vor dem Wirken alter Kader und Seilschaften.
Er ist inzwischen Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen
Künste, des deutschen PEN-Zentrums in Darmstadt und des Tschechischen
Schriftstellerverbandes. 1998 erinnern sich die alten Flucht-Kameraden
von 1952 an ihren Verdacht, dass Ota Filip ihr Verräter gewesen sein
könnte. Obwohl sich kein Beweis für Ota Filips Schuld fand, nahm sich
am 15. Januar Ota Filips Sohn Pavel, erschüttert von den angeblichen
Enthüllungen, das Leben; er war Mathematik-Professor in Bochum.
Professor Pavel Filip zerbrach an einem Ereignis, das fünfzehn Jahre
vor seiner Geburt begonnen hatte...
Ota Filip hat bisher zehn Romane
veröffentlicht. Der vielfach ausgezeichnete Autor schreibt heute für
verschiedene deutsche und seit Januar 1989 auch für tschechische Zeitungen.
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
* Im Februar 2010 lese ich bei Claire Goll "Ich verzeihe keinem.
Eine literarische Chronique scandaleuse" (Verlag Rütten & Loening,
Berlin 1980, S. 73): "Alexei von Jawlenski hatte bereits die Fünfzig
überschritten, als wir ihn in Zürich kennenlernten. Er war ein
ehemaliger zaristischer Gardeoffizier, der den Dienst quittiert
hatte, um sich der Malerei zu widmen. Von seiner kurzen
Militärlaufbahn hatte er sich den Sinn für Organisation und eine
straffe Hierarchie bewahrt. Aber sonst war nichts Militärisches an
ihm. Mit seinem runden Kopf und seinem zur Fliege gebundenen Schlips
teilte er seine Zeit zwischen Marianne von Werefkin, einer
Gouverneurstochter aus Wilna, die seit dreißig Jahren seine
Geliebte war, und seinem Sohn Alexei, der Frucht eines
Schäferstündchens mit dem Dienstmädchen, das Marianne von Werefin
aus Rußland mitgebracht hatte. Jawlenski vergötterte das Kind, was
seiner Mutter die Möglichkeit gab, Marianne das Leben unerträglich
zu machen. Das baufällige Schlößchen, das sie in Ascona bewohnten,
schallte vom Morgen bis zum Abend von zankenden Stimmen. Eines Tages
sollte es so weit kommen, daß der Grandseigneur Jawlenski die
Werefkin verstieß und die Köchin heiratete. - Jawlenski bat mich
oft, ihm Modell zu sitzen."
** Vom 25.07. bis 02.11.2008 fand im Schloßmuseum Murnau eine Ausstellung mit Gemälden und Graphiken von
Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Alexej Jawlenski und Marianne von
Werefkin statt. Zu sehen waren vor allem Werke, die den wichtigen
zeitgenössischen Einfluss damaliger avantgardistischer Kunstströmungen
sichtbar machen. Es handelte sich dabei um bekannte Leihgaben aus
Privatsammlungen und aus bedeutenden Museen. Darüber hinaus enthielt
die Ausstellung weitere Werke der Künstlergruppe "Blauer Reiter" und die
umfangreichste öffentlich gezeigte Sammlung von Münter-Bildern.
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Am 31.03.2008 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
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Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Die Wahrheit ist so schwer zu bekommen wie Vogelmilch. |
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