Belletristik REZENSIONEN

Göttliches Talent und teuflisches Glück

Russe
Malen, wie die Vögel singen
Ein Chagall-Roman
Aus dem Russischen von Renate Horlemann
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 211 S.

Wenn man Chagalls Leben sorgfältig analysiere, gewinne man den Eindruck, dass zwei Mächte ihm halfen: Gott und der Teufel. "Göttliches Talent und teuflisches Glück hat dieser Mensch mitbekommen, der in der Familie eines Witebsker Juden, eines Heringsverkäufers, geboren wurde", schreibt Friedrich Gorenstein in dem einleitenden Essay zu seinem Roman über Marc Chagall (eigentlich: Moische Segal). Der Roman beginnt mit Chagalls armselig-reicher Kindheit im belorussischen Witebsk. Es ist die Zeit, in der die Pogrome gegen Juden in Russland ihren Höhepunkt erreichen. Chagall, dem man den Juden auch äußerlich ansieht, ist vielen Demütigungen ausgesetzt, muss sogar um sein Leben fürchten. 1906/07 nimmt er unter armseligsten Umständen in St. Petersburg ein Kunststudium auf, schlägt sich später in Paris durch. 1914 kehrt Chagall, siebenundzwanzig Jahre alt, nach Witebsk zurück; der Kriegsausbruch verhindert seine Rückkehr nach Paris. Nach der Revolution wird Chagall zum Kommissar für die Künste des Gouvernements Witebsk ernannt. Er baut eine Kunstakademie auf, die 1919 eröffnet wird. Chagall beruft Kasimir Malewitch und El Lissitzky als Lehrer an die Akademie. Nach kurzer Zeit schon gibt es Differenzen über die künstlerische Ausrichtung: Besonders Malewitsch tritt für eine nichtgegenständliche Kunst ein, während Chagall in seiner Malerei immer figurativ bleibt. Diese künstlerische Auseinandersetzung wird von Gorenstein eindruckvoll geschildert. "Meine Grundidee", lässt er Chagall sagen, "ist, dass man malen soll, wie die Vögel singen: instinktiv." Die Konflikte führen dazu, dass Chagall 1920 die Akademie verlässt und nach Moskau geht, wo er für das Staatliche Jüdische Kammertheater arbeitet. Die Wirren der Revolution, Chagalls Begegnungen mit Lunatscharski und Gorki, sein Entsetzen über die beginnenden Säuberungsaktionen, die ihn an die Pogrome seiner Kindheit erinnern, alles wird von Gorenstein - selbst litauischer Jude (Litwak), selbst Emigrant - eindrucksvoll geschildert. 1922 gelingt Chagall mit Frau und Tochter die Ausreise nach Berlin, 1923 nach Paris. Während des zweiten Weltkriegs lebt Chagall  in der Emigration in den USA, nach dem Krieg kehrt er nach Frankreich zurück. Man sollte es nicht für möglich halten, dass Marc Chagall (1887-1985), geboren in Witebsk, das damals zu Litauen gehörte, noch in der sowjetischen Enzyklopädie, die Anfang der neunziger Jahre erschien, als "französischer Maler und Graphiker" ausgewiesen ist; Revolutions-Emigranten wurde schwer verziehen...

Leider kommt Chagalls Frau Bella Rosenfeld in diesem Roman über ein Malerleben zu kurz, war sie doch eine ungewöhnliche Persönlichkeit, für Chagall der Schutzengel seiner Kunst. "Niemals habe ich ein Bild, nicht einmal eine Zeichnung begonnen, ohne mich mit ihr zu beraten." Nach einem schwer nachzuvollziehenden abrupten Zeitsprung von mehreren Jahrzehnten lässt Gorenstein den Roman mit dem Tod Chagalls enden. Chagall wurde achtundneunzig Jahre alt.

Ein einfühlsam geschriebenes Buch, dass uns den Menschen und den tief in chassidisch-jüdischer Tradition verhafteten Maler sehr nahe bringt. Da Gorenstein* keinerlei Quellen preisgibt, kann man allerdings nur ahnen, welchen Anteil Dichtung und Wahrheit in den Dialogen haben, die den Helden vom Autor in den Mund gelegt werden.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

* Friedrich Gorenstein starb am 2. März 2002.

 

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Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Worte muss man wägen, nicht zählen.
Sprichwort der Russischen Juden

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