Sachbuch REZENSIONEN

"Weh dem, der heute lebt."

Französin, Russin, Schweizer; über die Stalinzeit
Das wahre Leben
Aus dem Russischen übersetzt und annotiert von Barbara Conrad und Vera Stutz-Bischitzky
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1998
 
Diese Tagebücher von "normalen" Sowjetbürgern der dreißiger Jahre (1934-1938) schockieren durch die "Alltäglichkeit des Schreckens". Sieben Schreiber aus allen Gesellschaftsschichten kommen zu Wort. Um diese sieben Tagebücher auszuwählen, haben die Herausgeber zweihundert gesichtet. Zweihundert Tagebücher(!), obwohl das Schreiben oder der Besitz derartiger persönlicher Aufzeichnungen in jenen Tagen äußerst gefährlich war. "Wenn Tagebücher geführt wurden", schreiben die Übersetzer, "vernichtete man sie oft wieder, um sie so dem drohenden Zugriff der `Organe´ zu entziehen." Berüchtigt ist der Fall der Tagebücher Michail Bulgakows. Am 7. Mai 1926 fand bei ihm eine Hausdurchsuchung statt, man beschlagnahmte seine Manuskripte, darunter auch sein sehr freimütig geschriebenes Tagebuch mit dem Titel "Unter dem Joch". Seitdem lebte er Tag und Nacht in Angst...

Als Erster kommt der 1885 geborene Bauer Andrej Arschilowski zu Wort, der mit seiner Frau und fünf Kindern auf einem Einzelhof im Gebiet Tjumen lebt. Er wird 1919 das erste Mal verhaftet, einziger Anklagepunkt ist seine Mitgliedschaft in der Landverwaltung seines Gebiets. Durch eine Amnestie anlässlich der Gründung der UdSSR (1922) kommt er 1923 frei, kehrt auf seinen Hof zurück und bringt seine heruntergekommene Wirtschaft wieder in Gang. Im November 1929 wird seine mittelbäuerliche Wirtschaft (ein Haus mit Nebengebäuden, zwei Pferde, zwei Kühe, Kleinvieh, drei Desjatinen Ackerland) zur Kulakenwirtschaft erklärt, er kommt ins Lager. Nach sieben Jahren lässt man ihn aus Krankheitsgründen frei. Als Buchhalter in einem Sägewerk lebt er mit seiner Familie in größter Armut. Doch damit nicht genug. Als im Juni 1937 eine "konterrevolutionäre Gruppierung kulakischer Schädlinge" entdeckt wird, wird er wiederum verhaftet. Sein Tagebuch wird ihm zum Verhängnis, am 5. September 1937 wird er erschossen. In seinem Tagebuch stehen solche Sätze: "Ans Schlangestehen hat man sich gewöhnt, daß man es sich anders gar nicht mehr vorstellen kann." - "Man lebt dort [im Lager] genauso glücklich wie in der Freiheit; einige sind satt bis zum Überdruß, andere sind `am Ende´. Nichts als Ausbeutung und Diebstahl." - "Der Mensch in unserem Lande atmet frei, aber er hungert auch frei - daran hindert ihn keiner. Hungert und friert." - "Tatsache ist doch, daß wir vom Sozialismus nur reden: Ringsum geht es ausschließlich ums Fressen, man interessiert sich nur, wie man es bekommt." - "Um 6 Uhr ging ich weg, um mich für Brot anzustellen. Dort standen bereits die glücklichen Menschen unseres Landes, gewöhnen sich an den Sozialismus." - "Ich (...) komme immer mehr zu der Überzeugung, daß es überhaupt keinen Sozialismus gibt." - "Weh dem, der heute lebt!" - "Habe 50 Gramm Brot gegessen, den ganzen Tag essen wir zu siebt nicht mehr als 300 Gramm. Ich grüße das glückliche Leben!" - "Die GPU hat eine ganze Gruppe hochgestellter Spitzel entlarvt, unter die auch Marschall Tuchatschewski geraten ist. Wie üblich - erschossen." Einmal wurde Andrej Arschilowski von seinem Sohn Arseni gefragt, warum er alles aufschreibe? "Um nicht zu vergessen", antwortete ihm sein Vater.

Es folgt der Kolchosbauer Ignat Frolow mit seinen Eintragungen, über den die drei Herausgeber keine weiteren biographischen Daten erfahren konnten. Scheinbar unbeeindruckt von den Zeitläuften notiert Frolow Alltäglichkeiten des bäuerlichen Lebens, wobei er den mit der Revolution eingeführten neuen Kalender ignoriert und stets das "Datum des alten Stils" verwendet. Interessant, dass der Kolchosbauer zu seinen Eintragungen "Iswestija"-Artikel stellt. Am 24.1.1937 vermeldet die "Iswestija" über einen Schauprozess überschwänglich: "Im Gerichtssaal haben sich die besten Vertreter der Sowjetöffentlichkeit versammelt. An den Jackettaufschlägen der Stachanowarbeiter, Flieger und Wissenschaftler blinken die Orden. Die Schriftsteller A. N. Tolstoi, Lion Feuchtwanger, Fadejew* u. a. sind unter den Anwesenden. Mit unversöhnlichem Haß, unüberwindlicher Verachtung und unaussprechlichem Abscheu blicken sie auf die Angeklagten." Ignat Frolow notiert am selben Tag: "(...) Heute haben wir zum ersten Mal Mist aus dem Pferdestall auf das Hohlfeld der Brücke gebracht.

Die 1885 in Leningrad geborene Pädagogin Galina Stange, verheiratet mit einem Professor des Moskauer mechanischen Instituts für Eisenbahnwesen ist die Dritte im Bunde. Sie ist Mutter von vier Kindern und drei Enkeln, die sie umhegt und umpflegt. Besonders froh ist sie, dass Stalin so kinderlieb ist und "tatsächlich alles tut", damit die Kinder eine glückliche Kindheit haben. Im Gegensatz zu dem Bauern Andrej Arschilowski nimmt sie das Wort "glücklich" nie ironisch in den Mund, schwärmt nicht nur von Stalins Kinderliebe, sondern auch von Kaganowitschs** Güte... Nur hier und da erlaubt sie sich einen kritischen Gedanken: "Es graut einen, wenn man bedenkt, wie die Menschen im allgemeinen und Ingenieure im besonderen heutzutage leben." - "Im Frühjahr machte Mitja eine Dienstreise in den Kaukasus und brachte von dort Salz mit, das es nirgends gab. (...) Wir waren kaum in der Lage, unsere große Familie zu ernähren, und litten immer wieder Hunger." Nach solchen Aufzeichnungen beeilt sie sich, schnell von dem "herrlichen, grandiosen Moskwa-Wolga-Kanal" zu schwärmen und den verstärkten Kampf gegen "Spionage, Diversion und Schädlingstätigkeit" gut zu heißen.

Der vierte Tagebuchschreiber ist Wladimir Stawski (1900-1943), Generalsekretär des Schriftstellerverbandes, der den im Lager umgekommenen Ossip Mandelstam denunziert hat. Er ist als "Henker" des Schriftstellerverbandes in die Geschichte eingegangen; denn er trägt erhebliche Verantwortung für die Opfer der "großen Säuberung" unter den Schriftstellern. Wenn er von Stalin schreibt, dann schreibt er die entsprechenden persönlichen Pronomen (ER, IHN, IHM) anbiederisch in Versalien: "Es geht um die Kernfragen des Lebens! Ich denke - ER wird sich in nächster Zeit sicherlich zu diesen Fragen äußern."

Es folgt der 1914 geborene Geologe Leonid Potjomkin mit seinen Tagebuch-Eintragungen. Als er mit seinem Tagebuch beginnt, ist er zwanzig Jahre alt. "Wie oft habe ich mir gelobt, nicht über das Leben zu urteilen, sondern zu leben." Er kann als Beispiel dafür gelten, wie das System den Aufstieg aus den ärmsten Verhältnissen ermöglichte. "Im Winter ging ich nicht zur Schule - ich hatte keine Kleidung. Vor Kälte hatte ich chronische Bronchitis. Die sorglosen Spiele der Kindheit habe ich nie kennengelernt." Leonid Potjomkin, der Sohn eines Postangestellten, wird von 1965 bis 1975 stellvertretender Minister für Geologie der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR).

Außergewöhnlich mutet das Tagebuch der Malerin, Autorin und Übersetzerin Ljubow Schaporina (1879-1967) an; sie gilt als Gründerin des ersten sowjetischen Marionettentheaters in Petrograd, war von 1925 bis 1930 in der Emigration in Frankreich. Scheinen für die anderen Tagebuchschreiber die Verhaftungen und Entlassungen nicht zu existieren (oder scheuen sie sich, etwas darüber mit eigener Feder zu Papier zu bringen), so schreibt sie: "`Tag des Vogels´: An diesem Tag werden überall in den Schüler-, Pionier- und Komsomolgruppen Starenkästen gebastelt und in den Gärten und auf den Plätzen aufgehängt, damit die zurückkehrenden Vögel ein fertiges Obdach vorfinden!" Rührend. Und Zehntausende von Menschen aller Altersgruppen, vom Neugeborenen bis zum achtzigjährigen Greis werden buchstäblich auf die Straße gesetzt, ihre Nester verwüstet. Und dann - STARENKÄSTEN." Sie teilt uns auch viele interessante Einzelheiten mit über Alexej Tolstoi, Meyerhold, Gorki, Stanislawski, Sinaida Reich, Anna Achmatowa, Schostakowitsch...: "Sie haben in der Philharmonie die 5. Symphonie von Schostakowitsch gespielt. Das Publikum erhob sich und es gab stürmische Ovationen - eine Demonstration gegen die ganze Hetzkampagne, die man gegen den armen Mitja veranstaltet hat. (...) Er kam kreidebleich aufs Podium und biß sich auf die Lippen. Ich glaube, er war den Tränen nahe." Am 16. September 1936 notiert sie ein Gespräch mit ihrem Bekannten Alexander Startschakow: Er "klagte mir gegenüber über das Alter. Daß Sie sich nicht schämen, sagte ich, wie Turgenjew, der seit dem dreißigsten Lebensjahr in allen Briefen über seine Altersgebrechen klagt. "Für Turgenjew war das Leben etwas leichter als für uns, man hat nicht vor seinen Augen seine Freunde zuhauf erschossen", war die Antwort. Und am 22. November 1937 lesen wir von ihr: "Ich wache morgens auf und denke mechanisch: Gott sei Dank, heute Nacht haben sie mich nicht verhaftet." Als Ljubow Schaporinas Bekannte Jewgenija Pawlowna verhaftet und als Frau eines Volksfeindes zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt wird, nimmt sie deren zwei kleine Kinder zu sich, obwohl ihre Familie selbst nicht genug zu essen hat...

Die Aufzeichnungen Stepan Podlubnys, geboren 1914 in der Familie eines wohlhabenden Bauern im Dorf Berjosowka in der Ukraine, schließen das Buch ab. 1929 wird die Familie entkulakisiert und der Vater für drei Jahre nach Archangelsk verbannt. Stepan und seine Mutter tauchen mit gefälschten Papieren in Moskau unter. Im Jahre 1932 gewinnen ihn die Organe der Staatssicherheit als Informanten, und er verfaßt regelmäßig Berichte über "konterrevolutionäre Vorgänge". 1935 wird Podlubny Student am Zweiten Medizinischen Institut in Moskau, ein Jahr später wird seine "klassenfeindliche Herkunft" publik. Als die Mutter 1937 verhaftet wird, muss er sein Studium abbrechen, wird 1939 verhaftet und für anderthalb Jahre in einem sibirischen Arbeitslager inhaftiert. Am ersten Tag des Jahres 1936 schreibt er: "Ich fragte mich zwar, was mir das neue Jahr bringen wird, aber es ist nicht mehr dieselbe Frage, wie ich sie in vergangenen Jahren stellte. Früher ging es darum, wie ich für meine Vergangenheit bestraft werden würde, das war die Hauptsache, zu 100 Prozent. Von dieser Frage sind jetzt noch 40 Prozent übriggeblieben, zu 60 Prozent geht es aber darum, was ich im kommenden Jahr erreichen kann, wie ich vorankommen werde." Und am 21. Februar 1936: "Viele Abkömmlinge der andren Klasse werden entlarvt. (...) An allen Ecken und Enden - erstaunlich. (...) Und alle sind wunderbare Menschen, die besten, gefeierte Helden der Arbeit. Ein interessanter Schluß läßt sich daraus ziehen."

Für die unterschiedliche Wahrnehmensweise der Tagebuch-Schreiber sei ein Beispiel genannt: die Wahlen zum Obersten Sowjets am 12. Dezember 1937. Die gutgläubige Galina Stange schreibt: "Nachdem wir unsere Stimme abgegeben hatten, gingen wir hinaus und gratulierten einander. - Ich weiß nicht genau, warum ich plötzlich so ergriffen war, ich mußte sogar einen Augenblick lang mit den Tränen kämpfen. (...)  Wahrscheinlich deshalb, weil wir unter den allerersten Wählern dieser weltweit einzigartigen Wahl waren." Und die kritische Ljubow Schaporina lässt uns wissen: "Ich kam in die Kabine, wo ich angeblich den Wahlschein zu lesen hatte und meinen Kandidaten für den Obersten Sowjet auswählen sollte - auswählen heißt doch, eine Wahl haben. Wir hatten einen einzigen, im voraus angekreuzten Namen. In der Kabine bekam ich einen Lachanfall wie in der Kindheit und konnte nur mühsam die Fassung zurückgewinnen. (...) Es ist eine Schande, erwachsene Menschen in eine so dumme, unwahrscheinlich peinliche Situation zu bringen."

Die Herausgeber - die französische Journalistin  Véronique Garros, die russische Verlagslektorin Natalija Korenewskaja und der Schweizer Historiker Thomas Lahusen - haben ein sehr beeindruckendes Dokument der Stalinzeit zusammengestellt, ein "nichtoffizielles Lebenszeugnis, das sowohl die Aufbruchstimmung in eine "bessere Welt" widerspiegelt als auch den quälenden Alltag von Hunger und Not. Die Tagebücher zeigen Zustimmung wie auch Ablehnung, Identifakation mit dem System wie Verweigerung.

Gisela Reller /www.reller-rezensionen.de

    * Alexander Fadejew (1901-1956) beging nach dem XX. Parteitag und den Enthüllungen Chruschtschows über die Verbrechen der Stalinzeit Selbstmord.

  ** Lazar Kaganowitsch (1893-1992) war als Mitglied des Politbüros von 1938 bis 1947 maßgeblich an den "großen Säuberungen" und an der Entfaltung des totalitären Stalinismus beteiligt.

 

Weitere Rezensionen zum Thema "Sowjetära":

  • Pjotr Aleschkowski, Stargorod. Stimmen aus einem Chor.
  • Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita, Hörbuch.
  • Teodoras Četrauskas, Als ob man lebte.
  • Karl Drechsler, GegenSpieler: John F. Kennedy / Nikita Chruschtschow.
  • Michail Gorbatschow, Über mein Land.
  • Wenedikt Jerofejew, Die Reise nach Petuschki.
  • Wenedikt Jerofejew, Die Reise nach Petuschki, Hörbuch.
  • Michail Kalaschnikow (Mit Elena Joly), Mein Leben.
  • Olga Kaminer, Alle meine Katzen, Hörbuch.
  • Wladimir Kaminer, Militärmusik.
  • Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
  • Wladimir und Olga Kaminer, Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus.
  • Anatolij Kim, Das Zwiebelfeld.
  • David King, Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion.
  • Gidon Kremer, Zwischen Welten.
  • Ljalja Kuznetsova / Reimar Gilsenbach, Russlands Zigeuner.
  • Richard Lourie, SACHAROW.
  • Leonid Luks, Geschichte Rußlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin.
  • Klaus-Rüdiger Mai, Michail Gorbatschow. Sein Leben und seine Bedeutung für Russlands Zukunft.
  • Medina Mamleew, Ich öffne meine ganze Seele.
  • Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des roten Zaren.
  • Alexander Mostowschtschikow, Sender Jerewan antwortet. Witze in der Sowjetunion 1960-1990.
  • Uchqun Nazarov, Das Jahr des Skorpions
  • Irina Pantaeva, Mein Weg auf die Laufstege der Welt.
  • Alexander Pjatigorski, Erinnerung an einen fremden Mann.
  • Protokoll einer Abrechnung. Der Fall Berija. Das Plenum des ZK der KPdSU Juli 1953.
  • Anatoli Rybakow, Die Kinder vom Arbat.
  • Anatoli Rybakow, Roman der Erinnerung.
  • Juri Rytchëu, Unna.
  • Juri Rytchëu, Die Reise der Anna Odinzowa.
  • Juri Rytchëu, Polarfeuer.
  • Muchtar Schachanow, Irrweg der Zivilisation. Ein Gesang aus Kasachstan.
  • Martha Schad, Stalins Tochter. Das Leben der Swetlana Allilujewa.
  • Wladimir Schinkarjow, Maxim und Fjodor.
  • Serge Schmemann, Ein Dorf in Rußland. Zwei Jahrhunderte russischer Geschichte.
  • Olga Sedakova, Reise nach Brjansk. Zwei Erzählungen.
  • Vladimir Sorokin, Die Schlange.
  • Vladimir Sorokin, NORMA.
  • Vladimir Sorokin, LJOD. DAS EIS.
  • Vladimir Sorokin, BRO.
  • Leo Trotzki, Stalin.
  • Solomon Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch.
Weitere Rezensionen zu "Tagebücher":

  • Isaak Babel, Tagebuch 1920.
  • Ivan Bunin, Ein Revolutionstagebuch.
  • Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945-1946.

Am 29.08.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Schande ist kein Rauch, sie beißt nicht in den Augen.
Sprichwort der Russen

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]