Sachbuch REZENSIONEN | |
Solschenizyn - ein Antisemit? | |
Alexander Solschenizyn | Russe; über Russen und Russische Juden |
Zweihundert Jahre zusammen | |
Band 1: Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916 Aus dem Russischen von Kurt Baudisch und Holger von Rauch F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2002, 560 S. | |
Alexander Solschenizyn | Russe; über Russen und Russische Juden |
Zweihundert Jahre zusammen Band 2: Die Juden in der Sowjetunion | |
Aus dem Russischen von Andrea Wöhr und
Peter Nordqvist F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München, 2. Auflage 2004, 608 S.
(Rezensiert, entsprechend den Gästebuch-Eintragungen von Petra Peck und Hans Fischer.) | |
Wenn einer ein unermüdlicher
Arbeiter ist, dann ist es der Exkommunist, Exhäftling, Exemigrant
Alexander Solschenizyn,
einer, der sich sehr hohe Ziele setzt, "Überziele" nennt er sie; 2007
wurde er mit dem russischen Staatspreis ausgezeichnet. Dem Antisemitismus-Vorwurf sah sich auch
Dostojewski (1821-1881) ausgesetzt, der sich in seiner Zeitschrift
"Tagebuch eines Schriftstellers" (S. 108-133) vehement mit diesem
Vorwurf auseinandersetzt. "Am meisten erstaunt mich, wie und auf welchem
Wege ich unter die Hasser der Juden als Volk, als Nation geraten bin.
Sie als Ausbeuter und wegen einiger Fehler zu kritisieren wird mir ja
von diesen Herrschaften selbst zugebilligt, allerdings - allerdings nur
den Worten nach: In Wirklichkeit läßt sich schwerlich ein reizbareres
und empfindlicheres Geschöpf finden, als es der gebildete Jude ist, und
niemand fühlt sich so schnell beleidigt wie er, wenn es um sein Judentum
geht."
Wurde schon Band 1 weltweit kontrovers diskutiert, so hat sich die Diskussion nach Erscheinen von Band 2 zugespitzt. Ja, in dem vor Materialfülle überquellenden Essay Zweihundert Jahre zusammen ist bei vielen historischen Ereignissen von jüdischer Mitschuld die Rede. Nicht immer werden Juden nur als Opfer dargestellt, sie werden auch als Täter gezeichnet. Kann man es Solschenizyn verdenken, wenn er die Herkunft kommunistischer Spitzenfunktionäre ausführlich darlegt? Trotzki, Kamenjew, Sinowjew, Swerdlow und viele, viele mehr waren Juden. In der ersten sowjetischen Regierung zum Beispiel waren von 22 Volkskommissaren drei Russen, ein Georgier, ein Armenier und 17 Juden. Aber ganz klar verneint Solschenizyn eine Alleinschuld der Juden, z. B. an der Oktoberrevolution von 1917. Doch genauso beharrt er auf eine Mitschuld der Juden - auch beim "Roten Terror", im Bürgerkrieg, im zweiten Weltkrieg und bei den Stalinschen Säuberungen. Was ist daran auszusetzen? Einerseits widmet Solschenizyn den Geschicken der Juden mehr Aufmerksamkeit als denen der Russen, andererseits ist immer wieder die Rede von der "Dynamik, der großen Geschäftstüchtigkeit und Aktivität" der Juden, von dem weit überproportionalen Anteil, den sie zumal in der Ukraine an den Schnapsbrennereien, Schankwirtschaften und der Zuckerindustrie besaßen. All dies ist von Solschenizyn mit Zahlen belegt. Am eindeutigsten "judenkritisch" äußert sich Solschenizyn zu den Pogromen der Jahre 1903/06. Sie hatten in Europa ungeheures Aufsehen erregt und stark dazu beigetragen, dass der Zarismus für die westliche liberale Öffentlichkeit zum Hassobjekt und Schreckensbild wurde. Solschenizyn verwirft die "flammenden Übertreibungen", insbesondere die immer wieder aufgestellten Behauptungen, der Pogrom von Kischinjow im April 1903 sei von den russischen Behörden vorbereitet worden... Der heute achtundachtzigjährige Schriftsteller hatte das jüdische Thema "lange beiseite gelegt und wäre [wie Dostojewski] froh gewesen, "wenn ich nicht die Bürde hätte auf mich nehmen müssen, es zu schreiben, aber meine Tage sind gezählt, und ich muss mich an die Arbeit machen". Solschenizyn schreibt in seinen Vorworten, er sei "aufrichtig bemüht, beide Seiten zu verstehen". Obwohl Solschenizyn mit seinem Werk in die "Ereignisse eintauchen [wollte], nicht in eine Polemik", blieb diese nicht aus. Wie einst dem bärtigen Propheten Dostojewski wird nun auch dem bärtigen Propheten Solschenizyn Antisemitismus vorgeworfen. Kein Geringerer als Arno Lustiger*** ("Stalin und die Juden. Rotbuch") gehört zu der Phalanx, die Solschenizyn Antisemitismus vorwirft. Lustigers Attacke gegen den redlichen Chronisten behauptet einerseits (zu Recht, wie ich finde), dass der Autor fast ausschließlich Sekundärquellen benutzt und Materialien aus den inzwischen zugänglichen Archiven fehlen - was sicherlich auch dem Zeitpunkt der Erarbeitung des Werkes geschuldet ist. Andererseits behauptet Lustiger (zu Unrecht, wie ich finde), dass Solschenizyn fast ausschließlich Antisemiten (als Beispiel nennt er Wassili Schulgin) zitiert. Bei den um die dreitausend Zitaten in beiden Bänden zähle ich mehr jüdische als russische Stimmen. Antisemitische Stimmen sind für mich in der Mehrzahl nicht auszumachen. Zweihundert Jahre zusammen steht auf den obersten Plätzen sämtlicher Bestsellerlisten des russischen Buchhandels. Weil es, wie der Vorsitzende der "Liga zur Bekämpfung des Antisemitismus", A. Axelrod, meint, judenfeindlich ist? Der in Berlin lebende russisch-jüdische Schriftsteller (mit deutscher Staatsbürgerschaft) Wladimir Kaminer hält dagegen: "So richtig skandalös ist das nicht. Weil er [Axelrod] sowieso jedes zweite Buch für antisemitisch hält." Alexander Solschenizyns erste Ehefrau Natalia Rechtowskaja ( Donald M. Thomas schreibt ausführlich über sie in seiner Solschenizyn-Biografie) äußerte, dass ihr Mann in der Schule und auch später viele jüdische Freunde hatte. Und Solschenizyns zweite Ehefrau, die ihm, treu zur Seite steht, ist Jüdin! Das jüdische Thema ist für Leidenschaften und Anklagen denkbar gut geeignet. Erst recht, wenn man in Begutachtungen einzelne Sätze herausnimmt und einseitig interpretiert. Ich bewundere den Autor von Zweihundert Jahre zusammen, der ungeachtet seiner großen schriftstellerischen Begabung auf die Ebene der historischen Abhandlung "herabgestiegen" ist, bemüht um ein beidseitiges Verstehen von Juden und Russen, den Willen zur Objektivität und die Bereitschaft des Abwägens seiner Quellen. Ich zähle seine beiden Bände über das Zusammenleben von Russen und Juden in Russland und der Sowjetunion zu seinen großen Werken ("Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch", "Archipel Gulag"****, "August 1914"). |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Podolien ist eine Landschaft in der Ukraine, östlich der Karpaten, zwischen Dnestr und dem Oberlauf des Südlichen Bug. Als Grenzlandschaft war Podolien die Heimat eines als besonders konservativ geltenden polnischen Adels, einer vom Chaissidismus geprägten jüdischen Bevölkerung und der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit. ** Wolynien (Wolhynien) Landschaft im Nordwesten der Ukraine. *** Arno Lustiger (geboren 1924) ist weder russischer Jude noch Russe. Er stammt aus einer polnischen Rabbinerfamilie, ist Vetter des Aron Lustiger, als Jean-Marie Lustiger Kardinal von Paris. Arno Lustiger gehört zu den Mitbegründern der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main und ist außerdem Leitungsfunktionär der Zionistischen Organisation in Deutschland (ZOD). Als Verehrer und Freund Ilja Ehrenburgs brachte er 1994 dessen "Schwarzbuch" neu heraus. **** Fast vierzig Jahre nach seiner Veröffentlichung ist das Buch "Archipel Gulag" als russisches Schulbuch erschienen. Solschenizyns Witwe Natalia stellte die stark gekürzte Ausgabe des Monumentalwerks für Elftklässler vor. "Die Struktur und Architektur des Werkes ist auch in der Schulbuchausgabe erhalten", sagte Solschenizyns Witwe. Den Anstoß zur Auseinandersetzung mit Solschenizyn in den Schulen hatte Regierungschef Wladimir Putin gegeben. Menschenrechtler in Russland begrüßten die Ausgabe als Beitrag zur Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft.
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Am 24.10.2006 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Greif erst zu, nachdem du auf die Finger geblasen hast. |
Sprichwort der Russen |
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