Belletristik REZENSIONEN | |
Roman über seelische Müllkippen | Jurgis Kunčinas | Litauer |
Mobile Röntgenstationen | |
Aus dem Litauischen von Klaus Berthel ATHENA-Verlag, Oberhausen 2002, 203 S. | |
Nachdem die Türkei ihre Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse
kurzfristig abgesagt hatte, fragten die Veranstalter im Baltikum an.
Estland
sagte wegen des Eurovisions-Grand Prix ab;
für die Letten hatte
die 800-Jahr-Feier Rigas Vorrang;
Litauen sagte zu und kam mit einem
großen Aufgebot an Prosaschriftstellern und Poeten nach Frankfurt.
Die Begegnung mit ihnen - ich gestehe es - war für mich beglückend. Einer
der beeindruckendsten Vertreter der Autorengilde war Jurgis Kunčinas.
Leider starb er wenige Wochen nach der Buchmesse am 13. Dezember 2002 im
Alter von fünfundfünfzig Jahren.
Jurgis Kunčinas (geboren 1947 in Alytus) war Lyriker, Prosaschriftsteller, Essayist und Übersetzer. Er hatte Germanistik an der Universität Vilnius studiert, wurde aber (wie sein Buchheld in Mobile Röntgenstationen) zwangsexmatrikuliert, als er sich weigerte, am Wehrkundeunterricht teilzunehmen. Nach seinem erzwungenen Wehrdienst bei der sowjetischen Luftwaffe führte er Gelegenheitsjobs aus, war Erzieher in einem Wohnheim, Transportarbeiter, Redakteur, Krankenpfleger, Laborant auf einer Wetterstation, Exkursionsleiter, zuletzt arbeitete er als freischaffender Schriftsteller und Übersetzer aus dem Deutschen (Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Erwin Strittmatter, Günter Grass, Siegfried Lenz, Ernst Jünger...). Seit 1977 veröffentlichte er sechs Lyrikbände, sieben Bände mit Kurzprosa sowie Essays und sechs Romane. Für seinen Roman "Tūla" bekam er 1993 den Preis des litauischen Schriftstellerverbandes für das beste Buch des Jahres. Es folgten 1994 der Preis der Zeitschrift "Nemunas" für seine Prosa sowie 1996 der Literaturpreis der Stadt Vilnius. Da könnte man denken, Kunčinas gehört zu den wenigen litauischen Autoren, die von den Honoraren für ihre literarische Arbeit leben können. Kunčinas dazu: "Die Schriftsteller müssen sich, ob sie wollen oder nicht, mit Publizistik, mit Übersetzungen und Artikeln über Wasser halten. Einige haben begonnen, ein Gewerbe anzumelden, im Handel zum Beispiel oder ähnliches. Ich selbst lebe von Übersetzungen. Die Honorare sind beklagenswert gering." Der Ich-Erzähler des Romans Mobile Röntgenstationen erhält den Auftrag, ein Filmexposé zu schreiben. Zufällig entdeckt er am Stadtrand von Vilnius das verrostete Autowrack einer mobilen Röntgenstation. Da erinnert er sich an seine eigene Lebensgeschichte, die zugleich auch eine Krankheitsgeschichte ist - zumeist eine von Simulationen, mit denen er seine Einberufung in die (Sowjet-)Armee verhindern will. Und da beschließt er, nicht nur dieses Filmexposé zu schreiben, sondern auch einen Roman über sein Leben. Jurgis Kunčinas: "Die litauischen Schriftsteller meiner Generation, die nach dem Krieg geboren wurden, überlebten Stalin, Chruschtschow und die naive Illusion der kommunistischen Idee sowie die Periode der Stagnation unter Breschnew. Sie ertrugen die Trompeten der nationalen Wiedergeburt und die auf sie folgende Eisesstille, sie hörten das existenzielle Getöse der Intellektuellen und bürgerlichen Spießer und hielten es ebenfalls aus, um dann ohne zu zögern in ihren Werken sämtliche geltenden und lächerlichen politischen und moralischen Tabus zu brechen. Mit Ausnahme eines einzigen: meine Generation hat es bis heute nicht geschafft, über ihren Schatten zu springen, sich für sich selbst zu öffnen: ohne große Pose, ohne Prunk, ohne Anspruch auf einen Preis bei einem imaginären Wettbewerb der Weltliteratur. Freilich ist es weder besonders angenehm noch besonders einfach, über seine seelischen Müllkippen zu erzählen, aber es wäre durchaus einen Versuch wert. Und so mache ich einen Versuch..." Einen gelungenen Versuch - sei hinzugefügt. Der in einem
traditionellen Erzählstil geschriebene Roman versetzt den Leser zurück
in die sechziger Jahre. Der fünfzigjährige Ich-Erzähler erinnert sich
angesichts der Entdeckung der schrottreifen mobilen Röntgenstation an
seine Jugend. Indem der Autor die Geschichte seines Helden erzählt,
entfaltet sich ein Zeitpanorama. Von den ersten Seiten des Romans an
zieht sich das Motiv der Tuberkulose, der Schwindsucht. Mobile
Röntgenstationen wurde ein Entwicklungsroman, der das unschlüssige
Taumeln des Helden von einer in die andere Liebesbeziehung beschreibt,
parallel auch die Befindlichkeiten des werdenden Künstlers und die
Umstände seiner Hinwendung zur Literatur. Eingerahmt wird diese zu einem
ganz großen Teil autobiographische Geschichte von Bildern aus der
Vergangenheit Litauens
zwischen der sowjetischen Okkupation und der
postkommunistischen Identitätsfindung des Landes und seiner Bewohner.
Karikaturen von Sowjet-Absurditäten mischen sich dabei mit nationaler
Selbstkritik. Auch nostalgische Töne sind durchaus rauszuhören.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de Sergej Nikiforov aus St. Petersburg schreibt am 23.04.2007 per E-Mail: Guten Tag, Gisela, ich möchte auf meiner Web-Seite über Jurgis Kunčinas (www.kuncinas.com) gerne Ihre Rezension "Roman über seelische Müllkippen" in Russisch und Deutsch abdrucken. Ich bitte Sie um Ihre Erlaubnis. Ich finde es sehr bemerkenswert, was Sie über diesen Autor noch schreiben konnten [bevor er starb]. Mein Ziel ist die Popularisierung des in Russland wenig bekannten Autors. Mit freundlichen Grüßen Sergej Nikiforov
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Am 10.02.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 22.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Litauisches Ornament - aus der ethnischen Region Žematija (sprich: Shematija). |
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