Belletristik REZENSIONEN | |
Kommunikation pur! | |
Vladimir Sorokin | Russe |
Die Schlange | |
Aus dem Russischen von Peter Urban Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1999 (2. Auflage), 269 S. | |
(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Hertha Burmeister.) | |
Laut Statistik verbrachten die Bürger Sowjet-Russlands ein Drittel (!)
ihres Lebens in einer Warteschlange.
Vladimir Sorokin (geboren 1955) hat über dieses Schlangestehen noch vor Perestroika und Glasnost einen "Roman" geschrieben - für sich und ein paar Freunde, an eine Veröffentlichung dachte er nicht. Doch seine Freunde rieten ihm, von seinem Manuskript eine Kopie anzufertigen und sie ins Ausland zu schicken. Sorokin befolgte ihren Rat und sandte eine Kopie des Manuskripts von Die Schlange nach Paris zu dem dort seit 1973 im Exil lebenden russischen Schriftsteller Andrej Sinjawskij (bekannt auch unter dem Pseudonym Abram Terz). Sinjawski schlug Sorokin vor, sein Buch in Paris herauszugeben, wo es 1985 großen Erfolg hatte. Fünf Jahre später erschien Die Schlange in der brillanten Übersetzung von Peter Urban im Haffmanns Verlag in der Schweiz erstmals auf deutsch, russisch ist das Buch nicht erschienen. Die Schlange ist durchweg in wörtlicher Rede geschrieben, beginnend mit der Frage "Genosse, wer ist der letzte?" Wir erleben in diesem "Gesprächsbuch" (das vom Verlag als Roman ausgewiesen ist) Kommunikation pur. Wenn man einen ganzen Tag lang dicht gedrängt miteinander ansteht, wird man bald zu guten Bekannten, erfährt schnell einiges aus dem Leben des anderen, zankt sich, klatscht und tratscht, flirtet miteinander, lässt sich den Platz freihalten - um sich Zigaretten zu holen, etwas essen zu gehen oder einen zu heben... Zwischendurch ist natürlich immer wieder die wichtigste Frage, ob die Ware nach der man ansteht, für alle reichen wird, welche Farbe sie hat, ob alle Größen vorhanden sind, woher sie kommt - aus Bulgarien? Aus der Türkei? Aus Amerika? Glaubt der Leser gerade, es handele sich um Stiefel (wegen der gerühmten echten Kreppsohlen), so ist Seiten später von einem echten Pelzkragen die Rede... Bis zum Schluss des Buches erfährt der Leser nicht, wonach über tausend Sowjetbürger denn nun anstehen. Ist ja auch egal, um welches begehrte Produkt es sich diesmal handelt, stand der Sowjetmensch doch sowohl nach Nahrungsmitteln (Ich habe 1983 eine Riesenschlange nach Tomaten miterlebt.) als auch nach Luxusgütern an (wozu jahrein jahraus Winterstiefel gehörten); es ist die Zeit der Stagnation unter Breshnew, die später die Bleierne Zeit genannt werden wird. Als das Geschäft abends geschlossen wird, geben einige auf, andere übernachten im nahe gelegenen Park auf Bänken. Als alle eingeduselt sind, folgen neun erholsame leere Buchseiten. Am anderen Morgen dann sind die, die ausgeharrt haben, rechtzeitig zur Stelle, wenn ihre Namen aufgerufen werden. Im Buch nehmen die Namen und die Antworten (Ja! Hier! Jaha!) 34 Buchseiten ein! Dann beginnt die Warterei von vorn - mit alltäglichen, witzigen und furiosen Gesprächen und --- einem kuriosen Beischlaf-Erlebnis. So richtiges verständnisvolles Vergnügen an Sorokins Die Schlange kann wohl nur jemand haben, der Mangelwirtschaft selbst kennen gelernt hat. Oder: Schließlich ist Die Schlange schon in zehn Sprachen übersetzt. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
Weitere Rezensionen zum Thema "Sowjetära": | |
| |
Weitere Rezensionen zum Thema "Einstige`Samizdat´-Literaten": | |
Am 22.11.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Was Gott nicht gibt, kann das Schwein nicht fressen. | |
Sprichwort der Russen |
[ | zurück | | | | | nach oben | ] |