SACHBUCH REZENSIONEN

Ein Hetman in neuem Licht

Deutscher; über den Ukrainer Skoropadskyj
Skoropadskyj, Pavlo
Erinnerungen 1917 bis 1918
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa
Band 55
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1999, 475 S.

In Michail Bulgakows Debüt-Roman "Die weiße Garde" (geschrieben 1923/24) wird Pavlo Skoropadskyj als Marionette der deutschen Besatzungsmacht dargestellt und als Vaterlandsverräter, der seine Truppen durch Flucht nach Deutschland im Stich lässt und sie der Vernichtung durch die Banden des ukrainischen Nationalisten Petljura preisgibt. Doch nach dem nun vorliegenden Werk scheint die Meinung über Pavlo Skoropadskyj und dessen Hetmansamt auch von Mythen, Vorurteilen und Fälschungen bestimmt.

Wer war Pavlo Skoropadskyj (1873-1945) wirklich? Er entstammte dem ukrainischen Hochadel, war Großgrundbesitzer und ein hoher zaristischer Militär. Jaroslaw Pelenski schreibt im Vorwort zur russischen Ausgabe: "Pavlo Skoropadskyj war ein Mensch zweier Kulturen, der ukrainischen und der russischen. Mit der ukrainischen Kultur verband ihn die Herkunft seiner Familie... Gleichzeitig war Pavlo Skorpadskyj ein Produkt des russischen imperialen Systems, in dem er eine hervorragende Militärkarriere machte." Skoropadskyj selbst sah sich als Patriot sowohl Russlands als auch der Ukraine. Zu Unrecht stehen in der wissenschaftlichen Forschung die Jahre der Ukrainischen Revolution (1917-1920) im Schatten der revolutionären Ereignisse in Großrussland. Der schwierige Weg der Ukraine, heute nach Russland der zweitgrößte Staat Europas, zu staatlicher Unabhängigkeit und Selbständigkeit ist in Deutschland kaum bekannt. Zu den am stärksten tabuisierten Themen der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gehört das Hetmanat von Pavlo Skoropadskyj. Bei den Kosaken - Skoropadskyj entstammt einem alten ukrainischen Kosakengeschlecht - bezeichnet Hetman den frei gewählten obersten Heerführer. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Ukraine von Hetmanen verwaltet, 1764 hob man das Hetmansamt auf. Über einhundertfünfzig Jahre später gab es kurzzeitig wieder einen Hetman: Pavlo Skoropadskyj - vom 29. April bis 14. Dezember 1918, als der "Allrussische Bauernkongress ihn mit 6 432 bevollmächtigten Delegierten einstimmig zum Hetman der Ukraine wählte. In der Nacht zum 30. April 1918 besetzten die Hetman-Offiziere die wichtigsten Institutionen der Stadt. Gleichzeitig wurde die Errichtung eines neuen Staates verkündet, in dem bis zur Einberufung eines ukrainischen Parlaments (dessen Wahl allerdings nicht mehr erfolgte) die gesamte legislative und exekutive Macht in der Hand des Hetmans liegen sollte und der sich den Namen "Ukrainischer Staat" gab. Die Hetman-Regierung verordnete die Wiederherstellung des "Rechts auf Privateigentum als Fundament der Kultur und Zivilisation" und annullierte alle bisherigen Verfügungen und Gesetze, die diesem Recht widersprachen. Die siebeneinhalb Monate währende Zeit des Hetmanats von Pavlo Skoropadskyj zeichnete sich, wie Aufzeichnungen von Zeitgenossen belegen, durch verhältnismäßige Ruhe in der Ukraine und durch den Wiederaufbau der Wirtschaft aus. Außerdem wurde die Entwicklung der ukrainischen Kultur auf allen Gebieten außerordentlich gefördert. Aber es gelang dem Hetman nicht, die verschiedenen politischen Kreise der Gesellschaft zu einen. Schon im Mai 1918 hatten dem Hetmanat entgegenstehende bürgerliche Oppositionsgruppen eine Ukrainische Nationale Union gebildet, der sich sodann auch die Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre anschlossen. Auch die Agitation der Bolschewiki richtete sich gegen das Hetmanat. Schließlich machte die ungelöste Agrarfrage die Dorfbevölkerung noch unzufriedener mit der Regierung des Hetmans. Mitte November 1918 bildeten die führenden Politiker der Ukrainischen Nationalen Union ein Exekutivorgan, das der Hetman-Regierung den Krieg erklärte. Angesichts dessen, dass die Hetmanregierung nicht über hinreichende militärische Kräfte zum Widerstand verfügte und auch die in Auflösung und auf dem Rückzug befindlichen Okkupationstruppen Deutschlands und Österreich-Ungarns nicht mehr zugunsten des Hetmans eingreifen konnten, sah sich dieser zur Abdankung gezwungen und flüchtete auf abenteuerliche Weise nach Berlin.

Günter Rosenfeld schreibt in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe: "Es zeigt sich, dass Pavlo Skoropadskyj, in einer für die Ukraine äußerst schwierigen innen- und außenpolitischen Situation auf den Posten des Hetmans der Ukraine gestellt, gezwungen war, gegenüber den Okkupationsmächten einen Modus vivendi zu suchen und zwischen ihnen zu lavieren. In der historischen Literatur ist diese komplizierte Situation vielfach vereinfacht und unrichtig dargestellt worden."

Es hat lange gedauert, bis die Erinnerungen Skoropadskyjs, die durch glückliche Umstände gerettet und dann in den USA aufbewahrt wurden, endlich 1995 in Philadelphia in russischer Sprache erschienen. Der vorliegenden deutschen Ausgabe liegt diese Originalausgabe zugrunde.

Die Erinnerungen des Ukrainers Skoropadskyjs muten sehr ehrlich an und beschönigen nicht "das schreckliche Jahr 1918". Sie werden ergänzt durch eine kurze Chronik seines Lebens, durch seine Erinnerungen an seine Kindheit in der Ukraine, durch Aufzeichnungen Olena Ott-Skoropadskyjs (seiner jüngsten Tochter, die heute in der Schweiz lebt) über seine Kindheit in Berlin-Wannsee, von der Beschreibung der Ereignisse der Flucht Skoropadskyjs, seiner Verwundung, seines Todes bis zur Beerdigung, beschrieben von seiner ältesten Tochter Jelysaveta Kuzim-Skoropadska. Ferner finden wir im Anhang noch den Stammbaum der Familie, fotografische Abbildungen, eine Zeittafel und eine Karte.

Ein wissenschaftlich solides, zu großen Teilen außerordentlich spannendes Buch - obwohl Skoropadskyj meint, dass er weder die "Lust noch die Fähigkeiten habe, interessante Memoiren zu fabrizieren". Und es ist ein beachtenswertes Werk, das Personen und Ereignisse acht Jahrzehnte später in neuem Licht zeigt.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de


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Am 18.12.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Um Böses zu tun, braucht´s keinen Meister.
Sprichwort der Ukrainer

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