Belletristik REZENSIONEN

"Das heutige Leben ist eine unfaßbare saure Brühe..."

Russe
Minus
Aus dem Russischen von Ulrike Zemme
DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003, 318 S.

Roman Senčin (Sentschin) - heute in Moskau lebend - wurde 1971 geboren, er war einunddreißig Jahre alt, als sein Debütroman Minus 2002 auf Russisch erschien. Wie kommt es, dass dieses Buch schon nach den ersten Seiten an die Geschichten von Irina Denežkina erinnert, mit denen sie (zwanzig Jahre alt) auf Russisch 2003 ebenfalls debütierte. Sie erzählt von Dreizehn- bis Zwanzigjährigen - sozusagen über die Grauzone des Erwachsenwerdens, er vorrangig von jungen Erwachsenen; der Ich-Erzähler Roman ist fünfundzwanzig Jahre alt. Doch sowohl bei ihr als auch bei ihm wird viel gehascht und getrunken, wissen die, von denen erzählt wird, nichts mit sich anzufangen, gehen die "Helden" willkürliche sexuelle Beziehungen ein, sehen für sich keine Perspektiven im Leben. Liebe wünscht man sich sowohl in Senčins Roman als auch in Denežkinas Geschichten, findet sie aber nicht. Kann sie wohl selbst auch nicht geben. "Die Liebe ist wie das letzte Glas von einem selbstgebrannten Schnaps: die ersten paar Schluck sind klasse, stark, schmecken herrlich, aber dann folgt der ekelhafte bittere Bodensatz. Am besten sollte man gar nicht davon kosten." Über den Sinn des Lebens grübelt Roman schon lange nicht mehr nach, der liegt für ihn nur noch in der "Nahrungsbeschaffung".

Roman Senčin wurde in Kyzyl (Kysyl) geboren, in der Hauptstadt der Autonomen Republik Tuva (Tuwa / Tuwinien). Hier verbrachte er eine idyllische, von den Eltern umsorgte Kindheit, von der er heute noch öfters träumt. Hier hatte er eine Band gegründet, für die er selbst die Lieder schuf und Gitarre spielte. Hier ging es seinen Eltern und ihm gut: "In Kyzyl, da waren wir keine arme Familie. Mein Vater galt bis zu jenem Zeitpunkt als wichtiger Spezialist, arbeitete bis zu seiner Kündigung im Kulturministerium... Wir hatten eine Dreizimmerwohnung im Stadtzentrum, am Ufer des Enisej (Jenissej), eine schöne Datscha, eine richtige Garage und einen Moskvič [Moskwitsch] 412... (...) Meine Eltern gehören, wenn auch in der ersten Generation, zur Intelligenzija. Nach dem Abschluß einer Kunstakademie haben sie als Kulturbeauftragte gearbeitet. Das ist die so genannte 60er-Generation. Damals war das Mode. Man hat nach der Kunstakademie die Großstadt verlassen, um die Kultur in eine junge, nationale Republik zu tragen. Sie waren damals schon über fünfzig und haben immer noch geglaubt, daß sie alles im Leben richtig machten. Sie waren davon überzeugt, wenn man an dem Ort, an den man gestellt ist, nur anständig arbeitete, dann würde auch alles andere in Ordnung gehen. Eine Weile war ihnen das Schicksal gewogen... Und mich haben sie nach ihren Prinzipien erzogen."

Der Ich-Erzähler Roman (der wie sein Autor heißt und viel Autobiographisches hat), "war ein ziemlich anständiger Junge, der gern gelesen und Gedichte geschrieben hat." Dann, nach dem Zerfall der Sowjetunion galten die Russen in den meisten nichtrussischen Gebieten als "Ausländer", an denen man sich für die Zeit der "Kolonialisierung" rächte. Die Senčins flohen nach Russland, in das Dorf Prokopevsk (an anderer Stelle steht: Zacholmovo). Hier beziehen sie ein baufälliges Holzhäuschen und versuchen, sich mit Gemüseanbau - das sie auch auf dem Markt verkaufen - über Wasser zu halten: "

Der Sohn Roman geht nach dem Militärdienst ins sibirische Minusinsk (Minussinsk) - "wo Russland und Asien ineinander übergehen". Minusinsk ist "eine alte, russische Stadt, eine Art russischer Vorposten an der Grenze zu den asiatischen Turkvölkern. (...) Im Süden - hinter den Sajan-Pässen - liegt Tuva. Im Westen, zwanzig Kilometer entfernt, befindet sich Chakassien, im Osten Burjatien." In Minusinsk erhält Roman eine Anstellung im Stadttheater als Bühnenarbeiter und auch ein Zimmer im Wohnheim einer Möbelfabrik. Sein Mitbewohner ist Lëcha, der Frau und Tochter sitzengelassen hat. "Im Prinzip wohnen hier alle möglichen Leute, nur keine Arbeiter von der Fabrik. Flüchtlinge, junge Pärchen, die von den Eltern die Nase voll haben, mit ihren Babys, außerdem Chinesen, Vietnamesen, irgendein Gesocks, asiatisches Pack und elende Säufer, die von ihren Familien abgehauen sind."

Den eintönigen Tag schlägt Roman meist mit den Kumpanen des Wohnheims tot oder mit  den Kollegen  am  Theater  oder mit  seinen Maler- und Musikerfreunden (eine schillernde "Bande von dreißig- bis vierzigjährigen Säufern und Maulhelden, die sich trotz Hunger, Armut und ihren Saufgelagen hartnäckig mit Kunst beschäftigen, was aber außer sie selbst keinen weiter interessiert".). Oft spielt dabei Hasch eine Rolle, fast immer billigster Wodka der stadtbekannten Marke "Zigeunerin", manchmal, ganz selten spendiert auch einer den teueren "Minus" (abgeleitet von Minus-sinsk), der dem Buch den Titel gibt.

Ich weiß, sinniert Roman, "es gibt keinen Weg zurück, wir sind zur Übersiedlung gezwungen worden, wir sind eigentlich Flüchtlinge, und ich muß einen gleichwertigen Ersatz für jenes Leben, jene Welt suchen, die vor Minusinsk die meine war."  Das steht auf Seite 30. Bis zum Ende des Buches hat Roman an seinem Minusinsker Leben nichts geändert... Tag und Nacht schmieden die Ratlosen, vollgetörnt oder im Suff, große Pläne, die am nächsten Tag vergessen sind. Gott sei Dank auch der geplante Mord an der Hauptbuchhalterin...

(Im September 2005 haben sich mehrere oppositionelle Jugendgruppen - "Kommunistische Jugend", "Union für das Vaterland" und " Rote Jugendavantgarde"  zu dem Bündnis "Vereinte Jugendliga (LOM)" zusammengeschlossen - mit dem Ziel der Machtveränderung in Russland.)

Senčis Debütroman lässt die gewohnten Formen postsowjetischer Literatur (Sorokin, Pelewin, Jerofejew...) hinter sich und erzählt authentisch und ironisch, schonungslos, aber auch verständnisvoll von (überflüssigen?) Menschen aus der rauen und schäbigen Provinz. Minus ist ein sehr nachdenklich stimmender Bericht über eine sibirische "verlorene Generation" - ohne Geld, aber mit Lebensmittelkarten (um 1996), mit wenig Zukunft, aber mit vielen Vorsätzen: "Wir müssen uns etwas Ernsthaftes einfallen lassen. (...) heutzutage muß man zuschlagen."

2003 erhielt Roman Senčin den Evrika-Literaturpreis, der für außergewöhnliche Prosa-Debüts junger Autoren verliehen wird. Es verwundert, dass Senčin - er studierte am renommierten Moskauer Gorki-Literaturinstitut - nichts über das einheimische Volk der Tuwiner, nichts über die angestammten Chakassen schreibt, obwohl sein Held deren Hauptort Abakan oft besucht. Es ist wohl in der Regel so gewesen, dass die Russen auch in der jeweiligen Heimat angestammter Völker unter sich blieben. Auch den sonderbaren Gesang der Tuwiner, den Kehlkopfgesang*, nennt Senčin zweimal (auf den Seiten 131 und 237), ohne ein Wörtchen darüber zu verlieren.

Widmet der Verlag den biographischen Daten des Autors zehn Schutzumschlag-Zeilen, so sind es für die Übersetzerin erstaunliche sechzehn. (Mich freuts´s, werden doch in einigen Verlagen die Übersetzer noch immer stiefmütterlich behandelt.) Und so lesen wir über die Übersetzerin Ulrike Zemme: "Geboren 1956 in Linz, arbeitete als Dramaturgin im Wiener Burgtheater, seit 1998 ist sie am Theater der Josefstadt in Wien. Aus dem Russischen übersetzte sie u. a. Stücke von Anton Čechov (Tschechow), Maksim Gorkij (Maxim Gorki) und Isaak Babel und Prosa von Konstantin Vaginov, Jurij Mamleev und Aleksandr Nikolaevič (Nikolajewitsch) Ostrovskij. - Für DuMont übersetzte sie Erzählungen aus dem von Viktor Jerofejew herausgegebenen Band mit jungen russischen Autoren `Vorbereitung für die Orgie´ (2000)  und zusammen mit Hannelore Umbreit Tschetschenien - Die Wahrheit über den Krieg´ (2003) von Anna Politovskaja."

Übrigens: Nach wie vor halte ich die wissenschaftliche Transkription bei einem belletristisches Werk für denkbar ungeeignet, zumal der Verlag nicht einmal konsequent ist. Wäre er es, müsste er statt Tschetschenien Čečenien schreiben...


Gisela Reller /www.reller-rezensionen.de

* Der Kehlkopfgesang, auch Zweilautgesang, wird von Nordmongolen, Chakassen, Ostaltaiern, Baschkiren und Tuwinern beherrscht. Am stärksten verbreitet ist dieser sonderbare Gesang in der Autonomen Republik Tuwinien. "Ein einziger Mensch singt so, daß es sich anhört, als würden zwei zugleich singen, zweistimmig: der eine mit einem niedrigen Hauptlaut, der andere mit einem höheren Pfeiflaut.(...) 1975 wurde (...) eine Forschungsgruppe zusammengestellt, die das Phänomen des Zweitlautgesangs erforschen sollte. Das Ergebnis war, daß der Stimmapparat tuwinischer Zweilautsänger sich anatomisch nicht von denen anderer Menschen unterscheidet. Allerdings wurde ein bisher unbekannter Mechanismus des Stimmapparates beim Zweilautgesang festgestellt. Danach bilden sich im Kehlkopf beim Herauspressen der Luft zwei Verengungen. Die untere wird normal von den Stimmbändern gebildet, die obere Verengung entsteht, wenn Kehlkopfknorpel und Kehldeckel sich nähern, die Stimmbänder abdecken, und in der Mitte eine Öffnung von 1 bis 1,5 Millimetern frei bleibt. - Allzu sachlich hört sich das für den mich tief bewegenden Gesang an, der aus der Steppe zu uns herüberklingt. Da glaubt man, einen Dudelsack zu hören, ein Waldhorn, eine Maultrommel, eine Querrohrflöte... Die Tuwiner selbst nennen den Gesang Chöömej - Kehlkopfgesang." (Aus: Gisela Reller, "Wir sind Tuwiner", FREIE WELT 15/1984)

 

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Am 06.12.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 25.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Tuwinische Nationaltracht:
Das Obergewand, der Ton,
wird noch getragen,
veraltet sind der Hut und die Idik,
die Stiefel mit gebogenen Spitzen.

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