Belletristik REZENSIONEN

Das ungleiche Paar

Engländerin; Tochter ukrainischer Eltern
Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch
Aus dem Englischen von Elfi Hartenstein
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006, 359 S.

(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von  Hertha B.)

Amüsant und informativ - selten ist beides zugleich von einem Roman zu sagen... So, genau so stelle ich mir gute Unterhaltungsliteratur vor!

Der Inhalt des Buches ist schnell erzählt: Der vierundachtzig Jahre alter Ukrainer Nikolai Majevski, nach Kriegsende nach England emigriert, will zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau, mit der er sechs Jahrzehnte zusammengelebt hat, ein zweites Mal heiraten: die sechsunddreißig Jahre alte, vollbusige, blonde Valentina, die am liebsten ultrakurze Röcke trägt und wurstpellenenge Pullover, sie stammt ebenfalls aus der Ukraine. Die gemeinsame Herkunft bleibt denn auch ihre einzige Gemeinsamkeit. Valentina hatte sich in der Ukraine von ihrem Mann scheiden lassen, damit der zwölfjährige, angeblich hochbegabte Sohn "im Westen" auf eine Privatschule gehen und sie die Freuden und Freiheiten des Westens genießen kann. Doch wie eine Einbürgerungsgenehmigung für Großbritannien (dem Land ihrer Einreiseträume) bekommen? Da trifft sie im Ukrainischen Klub - "einen Liebesblitzschlag" wird sie diese erste Begegnung gegenüber der Einwanderungsbehörde nennen - auf Majevski, den Ingenieur, der sechzehn Patente angemeldet hat, ein Buch schreibt und ein wohlhabender Rentner zu sein scheint. Und er, der greise Altbräutigam, schwärmt seiner Tochter Nadia am Telefon vor: Die Auserwählte heiße Valentina, erinnere an die Venus von Boticelli: goldenes Haar, wunderschöne Augen, fantastischer Busen... Bei der siebenundvierzigjährigen Nadia (der Ich-Erzählerin des Romans) schrillen alle Alarmglocken: Ein Flittchen ("Nutte." "Luder". "Billige Schlampe."), das so zu einer Einbürgerungsgenehmigung kommen und den Vater ausnehmen will. Und: die den Töchtern - Nadia hat noch eine zehn Jahre ältere Schwester Vera - das väterliche Erbe streitig machen wird. Die beiden Schwestern - Nadia, die linke Soziologie-Dozentin mit Gutmenschen-Überzeugungen und Vera, die radikal-kapitalistische geschiedene Frau ohne Illusionen - hatten sich wegen des mütterlichen Erbes zerstritten und zwei Jahre lang keinen Kontakt zueinander. Nun führt sie das gemeinsame Feindbild Valentina wieder zusammen. Allein die Telefonate mit dem, was sie sich gegenseitig sagen und dem, was sie (in Klammern formuliert) wirklich denken, ergäbe eine urkomische Kinoposse. Natürlich können die Töchter (in Valentinas Augen "tittenlose Unheilskrähen") nicht verhindern, dass der liebestolle Vater "die flauschige rosa Granate" heiratet. Die Ehe, die keine ist, gestaltet sich mehr und mehr zu einer Tragikomödie: Er will immer nur küssen, küssen und sich an ihre weichen Brüste schmiegen, sie will immer nur Geld, ein teures Auto, hoch technisierte Küchengeräte, Luxus. Dafür flüstert sie ihrem dann im siebenten Testosteron-Himmel befindlichen Mann süße Koseworte ins Hörgerät. Schon bald wird diese Gemeinschaft unerträglich, sie schlägt ihn mit einem nassen Handtuch und schimpft ihn "Schrumpelhirn" und "Schrumpelschwanz".

Am tiefsten trifft den verliebten alten Herrn, wenn sie ihm vorwirft, statt Sex nur pitschi-patschi oder schluffi-schlaffi zu machen. Und mittenmang die beiden Töchter, mal im Zickenkrieg mal ganz einer Meinung, die mit Hilfe aller möglichen Instanzen dafür kämpfen, dass Valentina wieder in die Ukraine abgeschoben wird. Dabei vergessen sie ganz, dass ihre Eltern mit ihren zwei Kindern vor einem halben Jahrhundert ihrerseits als bettelarme, ukrainische Kriegsopfer nach England gekommen waren.

Dieses Buch ist trotz seines eigentlich banalen Inhalts keine seichte Immigrantenschnulze, sondern eine Roman mit Hintergrund: Wir erfahren viel über die Kalamitäten des Alters (Die Lewycka schrieb einige Fachbücher, auch über die Pflege alter Menschen.), und vor allem ist in die Handlung wie beiläufig viel ukrainische Geschichte eingebettet. Und: Indem sich die beiden Schwestern wieder näher kommen, erfährt Nadia viele grausige Details von Vera ("Glaube"), dem Kriegskind, das ein Nazi-Lager überlebt hat; Nadia ("Hoffnung"), das Friedenskind, war 1946 geboren worden...

Aus des Vaters Lebenswerk Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch hören wir zum Beispiel von der durch Stalin bewusst herbeigeführten großen Hungersnot 1932/33 in der Ukraine*, die sieben bis zehn Millionen Menschen das Leben kostete, von den Säuberungsaktionen, von den weltweiten Auswirkungen der Industrialisierung in der Landwirtschaft, sogar Babi Jar** und sogar der Kosakenhetman Skoropadskyj werden erwähnt.

Der kuriose, in die Irre führende Buchtitel, dessentwegen der eine oder andere das Buch eventuell schnell wieder aus der Hand legt, hat etliche englische Buchhändler sogar veranlasst, es unter "Landwirtschaft" anzubieten. Tatsächlich ist es Marina Lewycka jedoch gelungen, völlig unverkrampft Einwanderungsgeschichte, Familienroman und Vergangenheitsbewältigung miteinander zu verbinden, unterhaltsam von Anfang bis Ende, ohne ins Klamaukige abzudriften.

Einiges in Lewyckas Buch ist durchaus biographisch. So wurde auch sie nach dem ersten Weltkrieg als Kind ukrainischer Eltern geboren, in einem Flüchtlingslager in Kiel, und wuchs in England auf. Sie ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter, lebt in Sheffield und unterrichtet an der Sheffield Hallam University. Die Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch ist ihr erster gedruckter Roman, der in England zu einem Riesenerfolg wurde und die Bestsellerliste stürmte. "Wie ein Lotteriegewinn", sagte die Autorin, die demnächst sechzig wird, anlässlich einer Lesung. "Die guten Dinge passieren nicht nur jungen Leuten." Solche "guten Dinge" sind der Autorin nicht nur in England passiert, sondern inzwischen auch in über zwanzig weiteren Ländern; in Deutschland stand ihr Roman schon kurz nach Erscheinen auf der "Spiegel"-Bestsellerliste. Wie man hört, arbeitet Marina Lewycka an einem weiteren Roman, der noch 2007 erscheinen soll.

Sehr gut übersetzt - vor allem Valentinas Radebrechen - wurde die Immigrantenburleske von Elfi Hartenstein, von der in dieser Web-Seite der spannende Kriminalroman "Moldawisches Roulette" rezensiert ist.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

  * Im November 2007 war es 75 Jahre her, dass  1932/33 in der Ukraine eine entsetzliche Hungersnot herrschte, es starben Millionen Menschen. "Das war Völkermord", sagte der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko, "der bewusste und geplante und umgesetzte Versuch, eine ganze Nation zu unterwerfen." Die Hungersnot war durch die sowjetische Zwangskollektivierung ausgelöst worden, bei der Saatgut, Getreide, Mehl, Gemüse und Vieh von den sowjetischen Behörden beschlagnahmt wurden. "Die Verbrechen des Bolschewismus und des Kommunismus sind mit denen der Nazis identisch", behauptete Juschtschenko. Die Führung in Kiew bemüht sich seit Jahren, die Hungersnot von der UNO als Völkermord am ukrainischen Volk anerkennen zu lassen. Dem stellt sich Russland jedoch entgegen.

 ** Meine ukrainische Freundin schreibt mir (am 12.09.09) empört, dass für die Fußball-Europameisterschaft 2012 nahe der Holocaust-Gedenkstätte Babi Jar bei Kiew geplant sei, ein Hotel zu bauen. Bei der Schlucht Babi Jar ermordete ein SS-Kommando im September 1941 insgesamt 33 770 Juden. - Heute (am 28.09.09) schreibt "Neues Deutschland", dass der Bürgermeister von Kiew sein Veto gegen das Projekt an der Gedenkstätte für das Massaker von Babi Jahr eingelegt hat.

 

Weitere Rezensionen zum Thema "Ukraine":

  • Swetlana Alexijewitsch, Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.
  • Ljubko Deresch, Kult.
  • Ljubko Deresch, Die Anbetung der Eidechse oder Wie man Engel vernichtet.
  • Merle Hilbk, Tscherrnobyl Baby. Wir wir lernten, das Atom zu lieben.
  • Wladimir Jaworiwski, Maria mit der Wermutspflanze. Roman um die Havarie von Tschernobyl.
  • Igor Kostin, Tschernobyl. Nahaufnahme.
  • Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
  • Wladimir und Olga Kaminer, Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus. Darin: Ukraine..
  • Andrej Kurkow, Petrowitsch.
  • Andrej Kurkow, Ein Freund des Verblichenen.
  • Andrej Kurkow, Picknick auf dem Eis.
  • Andrej Kurkow, Pinguine frieren nicht.
  • Andrej Kurkow, Herbstfeuer. Erzählungen.
  • Andrei Kurkow, Myzelistan.
  • Alexander Pjatigorski, Erinnerung an einen fremden Mann.
  • Reiner Riedler, Ukraine.
  • Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
  • Hans Thill (Hrsg.), Vorwärts, ihr Kampfschildkröten. Gedichte aus der Ukraine.
  • Anatoly N. Tkachuk, Ich war im Sarkophag von Tschernobyl. Der Bericht des Überlebenden.
  • Semjon S. Umanskij, Jüdisches Glück. Bericht aus der Ukraine 1933-1944.
  • Julia Wosnessenskaja, Der Stern Tschernobyl. Schicksal einer Familie. Ein fast dokumentarischer Roman.
  • Serhij Zhadan, Depesche Mode.

Am 24.05.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 23.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Einen Alten zu lieben bedeutet, sich die Tage zu verderben.
Sprichwort der Ukrainer


 [  zurück  |  drucken  |  nach oben