Belletristik REZENSIONEN |
Wiedersehen nach 55 Jahren
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Sabine Adler |
Deutsche; über ein deutsches
Mädchen mit russischen Eltern |
Russenkind |
Eine Tochter auf der Suche nach ihrer Mutter
Mit diversen Schwarz-Weiß-Fotos
Residenz Verlag, St. Pölten 2007, 239 S.
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Sabine Adler wurde bekannt durch ihr mutiges
Tschetschenien-Buch
"Ich sollte als schwarze Witwe sterben". Diese dokumentarische
Geschichte ist sehr fesselnd und
bewegend, sowie äußerst gut recherchiert. Auch Russenkind ist
äußerst gut recherchiert, auch fesselnd, auch bewegend. Aber im Stil
finde ich die Suche einer Tochter nach ihrer Mutter ein wenig spröde,
hölzern geraten. So hat man an vielen Stellen des Buches den Eindruck,
dass die Autorin ihre Sachkenntnisse unbedingt "an den Mann bringen" will.
z. B. wenn sie einer Achtzigjährigen die Worte in den Mund legt:
"Die Zeiten, da wir alle die Prawda abonnieren mussten, sind Gott sei
Dank vorbei." Oder wenn sie schreibt: "Russische Kinderheime sind die
Vorstufe zur Hölle, wer sie überlebt, landet meist geradewegs im Gefängnis." Es gab so´ne
Kinderheime (Medina Mamleew, "Ich öffne meine ganze Seele")
und solche (Grigori Bjelych / Leonid Pantelejew, "Republik der Strolche").
Die meisten Leser werden, wenn sie den Titel Russenkind lesen, denken, dass eine deutsche Frau von einem
russischen Soldaten
vergewaltigt worden ist, und das Russenkind - ein Mädchen - die
Folge davon. Aber es ist ganz anders, nämlich so: Die Russin Klawdija wurde zwangsweise aus Belgorod nach Deutschland verschleppt.
Sie arbeitete zuerst als Krankenschwester in einem deutschen Lazarett,
gelangte dann von Mai 1943 bis April 1945 als Dienstmädchen Klara zu
der Familie des Allgemeinmediziners Dr. Claus Weber nach Jeßnitz. Diese
deutsche Familie schikanierte sie nicht, gab ihr ausreichend zu essen,
ließ ihr sogar die eine oder andere Freiheit. Zum Beispiel durfte sie
sich am Wochenende mit ihren Landsleuten treffen. Da wurde musiziert,
und es wurden russische Volkslieder gesungen, man war Augenblicke lang
sogar glücklich. Im Kreise der zwangsverpflichteten Russen begegnet ihr der
Zwangsarbeiter Iwan. Liebe ist es nicht, aber ein Gefühl der
Geborgenheit. Klawdija Matwejewna wird schwanger... Eigentlich müssen
die Kinder von Ost-Arbeiterinnen in Nazi-Deutschland abgetrieben werden.
Aber die Webers lassen Klawdija in ihrem Haus, bis die anderen Umstände
den Nachbarn nicht mehr verborgen bleiben. Da wird sie ins Krankenhaus
weggeschickt. Als sie mit dem "bisschen Leben" dann wieder vor der Tür der
Webers steht, wird sie nicht davon gejagt. Aber als
Alla neun Monate alt ist, muss sie sich wegen ihrer Tuberkulose ins
Krankenhaus begeben und ihr Töchterchen - vorübergehend, wie sie glaubt - ins Heim geben. Als der
Krieg beendet ist, kann Klawdija ihr Kind nicht
wieder finden. Obwohl sie keine Wege scheut, bleibt Alla für sie
unauffindbar. Und so kehrt sie ohne ihre Tochter nach
Russland zurück. Klawdija
vermutet, dass Alla entweder an Tuberkulose oder bei Bombenangriffen
gestorben sei. Dennoch betet sie über ein halbes Jahrhundert lang
"mindestens drei Gebete jeden Tag", dass ihre Tochter am Leben sein und
es ihr in der Fremde gut gehen möge. Fünfundfünfzig Jahre sind so ins
Land gegangen... Klawdija, geborene Romenko, war kurz mit Iwan Steblew
verheiratet, der sie wegen ihrer Tuberkulosekrankheit verließ, heiratete
dann Pjotr Bulawin ("...die Zeiten waren nicht danach, wählerisch zu
sein".), hat einen Sohn und einen Enkel, steht 1999 vor ihrem 80.
Geburtstag, ist Witwe.
Am 24. September 1999 wird sie von einer Nachbarin informiert, dass ihre deutsche Tochter Alla sie sucht. Alla war als
Kleinkind von dem deutschen Ehepaar Schmidt aus Bitterfeld adoptiert
worden und heißt heute Dagmar. Dagmar Schmidt. Durch Zufall erfuhr sie,
dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern sind, dass Mutter und
Vater Russen sein sollen. Viel später wird sie erfahren, dass in ihrer
Geburtsurkunde als Mutter die Hausgehilfin Klawa Steblewa und als Vater
der Arbeiter Iwan Steblew, angegeben sind.
Dagmar Schmidt - inzwischen mit ihren Adoptiveltern in den Westen,
nach Braunschweig ausgereist - hat den Tod der Adoptiveltern abgewartet,
bis sie ernsthafte Nachforschungen anstellte. Durch ihren in der Zeitung
abgedruckten Brief findet sie endlich die Mutter, die von dem
(angeblichen?) Vater längst geschieden war. Nach fünfundfünfzig Jahren der Trennung
reist Alla-Dagmar mit ihrem Mann Rudolf nach Belgorod. Sabine Adler hat
nicht nur die spannende Suche nach der Mutter dokumentiert, sondern
schildert auch mit viel Einfühlungsvermögen die Begegnung von Mutter
und Tochter. Es bleibt nicht bei einem Treff. Die Mutter kommt zweimal nach
Deutschland, und Dagmar und Rudolf fahren in den folgenden Jahren sommers
und auch winters nach Belgorod. Dagmar sind inzwischen Zweifel gekommen, dass
Iwan Steblew ihr Vater ist... Ja, richtig, es gibt da ja noch einen
anderen Iwan... Dagmars Verdacht bezieht sich jedoch auf den
deutschen Militärarzt Dr. Grunemann, dem Schwager von Dr. Weber,
berüchtigt als charmanter Schürzenjäger.
Mich hat es unangenehm berührt,
wie Dagmar auf Grund unbewiesener, vager Vermutungen ihre Mutter mit
ihren Verdächtigungen quält. Andererseits kann ich ihr meinen Respekt
nicht versagen, wenn sie offen und ehrlich zugibt, dass es ihr
vielleicht lieber wäre, von einem deutschen Arzt als von einem
russischen Arbeiter abzustammen... Beeindruckt hat mich auch, wie
ehrlich die deutsche Tochter in ihren Aussagen ist, als es darum geht,
die nun fünfundachtzigjährige Mutter nach einem Schlaganfall zu pflegen.
Zwar quält sie sich einerseits mit ihrem schlechten Gewissen herum, dass
sie nicht zu ihrer pflegebedürftigen Mutter eilt,
aber andererseits weiß sie: Obwohl Klawdija ihre leibliche Mutter ist,
hat sich zu ihr keine körperliche Nähe eingestellt. Kein Wunder bei
einem Wiederfinden als beide schon Großmütter sind.
Sabine Adler, geboren 1963, berichtete von 1999 bis 2004 für
"Deutschlandradio" aus
Russland (auch aus
Tschetschenien).
Seit ihrer Rückkehr ist sie als Korrespondentin im Hauptstadtstudio
Berlin tätig. Sie wuchs in Wolfen (bei Bitterfeld) auf und ist somit
vertraut mit dieser Region, in der die Geschichte der Russin Klawdija
Steblewa und ihrer deutschen Tochter 1943 begann.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 24.05.2007 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
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