Wladimir Makanin Benzinkönig. SACHBUCH REZENSIONEN

"Ich nehme es mit jedem auf..."

Russen
Aus erster Hand
Gespräche mit Wladimir Putin
Mit 32 Bildtafeln
Aus dem Russischen von Eva Henkensiefken
Wilhelm Heyne Verlag, München 2000, 239 S.

Gerade erschien im Regensburger Verlag Friedrich Pustet eine dickbändige "Geschichte Russlands und der Sowjetunion, Von Lenin bis Jelzin", da schließt sich auch schon das Buch Aus erster Hand an mit Gesprächen mit Wladimir Putin. Seine drei Interviewer - Mitarbeiter der renommierten russischen Zeitung "Kommersant" (Handelsmann) - trafen sich sechsmal zu mehrstündigen Gesprächen mit Putin, der oft zu spät kam, in Hemdsärmeln erschien, aber immer mit Krawatte.

Diese Gespräche - im "Kommersant" im Februar 2000 erschienen - zeigen den inzwischen vom russischen Volk im ersten Wahlgang gewählten Präsidenten Russlands als neuen Hoffnungsträger. Das Buch ordnet Putins Leben in zehn Kapitel: Der Sohn (der sehr liebevoll mit seinen Eltern umgeht und ihnen nicht widerspricht); Der Schüler (der es vorzieht ein Rowdy statt ein Pionier zu sein); Der Student (der Jura studiert, weil er unbedingt Kundschafter werden will); Der junge Spezialist (der mit lauter  ewig Gestrigen zusammenarbeiten muss); Der Spion (der von sechzehn KGB-Jahren rund fünf in Dresden verbringt: "Es war ein streng totalitäres Land nach unserem Muster und Vorbild, aber mit dreißigjähriger Verspätung."); Der Demokrat (der - "die wahrscheinlich schwerste Entscheidung meines Lebens" - beim KGB kündigte); Der Beamte (von dem "alle sagen: Der ist aber hart, brutal sogar..."); Der Familienvater (der seine Frau liebt - dennoch lässt er sich von ihr nicht um den Finger wickeln -, die Töchter und den Pudel verwöhnt, sich nie betrinkt, manchmal schlechte Laune hat); Der Politiker (der seine Mitarbeiter, "auch die Militärs", nach fachlicher Eignung und danach aussucht, ob sie die gleiche Wellenlänge haben, und der - egal bei wem - erst einmal von einer Unschuldsvermutung ausgeht); der amtierende Präsident (der weit von sich weist, ein Diktator zu sein, über die Monarchie jedoch ein wenig neidvoll sagt: "Ein Monarch muss nicht darüber nachdenken, ob er gewählt wird oder nicht... Er kann über das Schicksal seines Volkes nachdenken, ohne sich von Kleinigkeiten ablenken zu lassen.")

In ihrer Vorbemerkung erklären die drei Journalisten, dass nicht eine Zeile aus ihrer Feder stamme - mit Ausnahme der Fragen. Diese Fragen sind oft zugespitzt, oft sehr unbequem, z. B. die Frage nach Putins erster Liebe, die er, als alles schon zur Hochzeit vorbereitet ist, verlässt; oder die, ob er - als er beim KGB anfing - wirklich nichts von den Repressalien in den dreißiger Jahren wusste; oder ob er die Verbannung Sacharows als tragisch empfand; oder über seine Empfindungen beim Fall der Berliner Mauer; oder nach seiner Haltung beim Putsch im August 1991; oder über seine Beziehung zu Jelzin...

Putin antwortet (manchmal nach langem Schweigen) offen - erstmals auch auf persönliche Fragen. Manchmal - wenn ihm eine Frage zu persönlich erscheint - bittet er, das Diktiergerät auszuschalten. Bei den recht vagen Antworten zu seiner Agententätigkeit muss der Leser allerdings zwischen den Zeilen lesen können. Am ausführlichsten wird Putin zu den Tschetschenienkriegen befragt. Als seine Hauptaussage empfinde ich, dass er die Lage im Nordkaukasus als die Fortsetzung des Zerfalls der UdSSR einschätzt und seine Behauptung, dass sich Tschetschenien nicht auf seine eigene Unabhängigkeit beschränken würde: "Das würde die Speerspitze für weitere Überfälle auf Russland bedeuten." Wenn die Extremisten (meist spricht Putin von Banden und Banditen) nicht aufgehalten werden, würde auf dem Gebiet der gesamten russischen Föderation ein zweites Jugoslawien drohen... Manchmal haken die Journalisten unerbittlich nach, z. B. wenn es um die Sprengung von Häusern in Moskau, Buinaksk und Wolgodansk geht, manchmal ziehen sie sich nach unbefriedigenden Antworten, z. B. bei ihren Fragen zu Jelzin und der Kreml-"Familie", allzu schnell zurück. Vollkommen vermisst habe ich eine Frage nach dem Schicksal des russischen Journalisten Andrej Babickij, der in Tschetschenien von russischen Truppen festgehalten und dann angeblich im Austausch von russischen Kriegsgefangenen an die tschetschenische Seite übergeben worden war. Putin hatte Babickijs Beiträge für "Radio Free Europa" als gefährlich bezeichnet, "als wenn er eine Maschinenpistole geschwenkt hätte". Bei dem Wirbel, den das Verschwinden, dann Wiederauftauchen und nun zum Schweigen gebrachten Berichterstatters - der als einziger Journalist regelmäßig aus Grosny berichtete - auslöste, muss den drei Interviewern doch eine Frage nach ihm geradezu auf den Nägeln gebrannt haben. Wurden die Interviewer von Putin zensiert? Darüber erfährt der Leser leider nichts.

Die umfänglichen Aussagen von Putins Klassenlehrerin, von seinen Kollegen, Freunden, Familienangehörigen ergänzen die Interviews auf das beste. Seine Frau Ljudmila scheint eine äußerst passable Frau zu sein. "Mich braucht man nicht auf Händen zu tragen", sagt sie. "Ich gehöre wahrscheinlich eher zu der Kategorie Frau, über die gesagt wird: `Sie fürchten kein scheuendes Pferd und fliehen kein brennendes Haus´."

Weiß man nach der Lektüre des Buches wer Herr Putin - von dem sich die Öffentlichkeit bis jetzt kaum ein klares Bild machen konnte - nun wirklich ist? Man weiß jetzt aus erster Hand, dass Putin schweigsam, zuweilen etwas schroff, manchmal verletzend sein kann, dass er Verrat und sonstige Gemeinheiten niemals und niemandem verzeiht, dass es sein Prinzip ist, nichts zu bedauern (weil das ein Zurückschauen bedeutet), dass er eine Kariere nur der Kariere willen nicht sehr erstrebenswert findet, dass er als "letzte Instanz" auch autoritär sein kann, dass er ganz und gar kein Hitzkopf ist, dass er es mit jedem aufnimmt... Ja, man ist dem russischen Präsidenten, seiner Familie und seinem Freundeskreis sehr viel näher gekommen und: Man gewinnt den Eindruck, dass Wladimir Putin noch viel für Russland bewegen wird.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Der Bauch gibt nichts auf alte Freundschaft.
Sprichwort der Russen

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