Belletristik REZENSIONEN | |
Mit Schweigen zu Tode gequält... | |
Fjodor Dostojewskij | Russe |
Meistererzählungen | |
Diogenes Taschenbuch 20951 Aus dem Russischen von Johannes von Guenther Diogenes Verlag, Zürich 2001, 435 S. | |
"Die Weltgeltung dieses großen russischen Dichters", schreibt
der Übersetzer Johannes
von Guenther in seinem Nachwort, "kommt von seinen Romanen her, über die
unzählige Bücher geschrieben worden sind (...), doch nirgends zeigt sich das Genie
Dostojewskijs vollendeter als in seinen Meistererzählungen."
Johannes von Guenther war der hochgeschätzte Übersetzer der fünfziger, sechziger
Jahre aus dem Russischen. Doch, sagt die Übersetzerin
Swetlana Geier (geboren 1923 in
Kiew), jede
Generation erlebe einen literarischen Text auf ihre Weise. "Shakespeare
wurde in fünf Jahrhunderten 49mal neu übersetzt,
Dostojewski hat bis heute 24 Übersetzer. Eine Übersetzung entspricht
jeweils dem Bild, das sich die jeweilige Gesellschaft von dem Autor
macht." Swetlana Geier* - sie war im November 2003 gefeierter Gast des Dahlemer Autorenforums der Schleicher Buchhandlung Dahlem-Dorf - begann
ihre Übersetzertätigkeit 1957. Seitdem hat sie so bekannte Autoren
wie Tolstoij,
Solschenizyn, Platonow, Bely, Sinjawskij, Bulgakow und immer wieder
Dostojewskij ins Deutsche übertragen. Für den Ammann Verlag übersetzt sie
seit 1994 die großen Romane Dostojewskijs neu, leider nicht diese
Meistererzählungen - ein Vergleich würde beweisen, wie der Zahn der Zeit
an diesen einst geschätzten, fast ein halbes Jahrhundert alten
Übertragungen Johannes von Guenthers genagt hat. Die ersten fünf der acht Meistererzählungen
dieses Buches ("Roman in neun Briefen", "Der ehrliche Dieb", "Weihnacht
und Hochzeit", "Eine fremde Frau und der Mann unter dem Bett" und "Weiße
Nächte") entstammen der frühen Zeit des jungen
Dostojewskij, als noch
nicht daran zu denken war, dass er einmal unter dem Galgen stehen
würde... Wahr ist, dass die Helden all dieser Geschichten tiefenpsychologisch
ausgelotet sind. Dennoch: Hier und da begreife ich die modernen
russischen Autoren mit Sorokin an der Spitze, die sich in ihren
Büchern über die russischen Klassiker lustig machen. "Weiße
Nächte" zum Beispiel ist mit dem schnulzig-verschüchterten
Liebesgestammel heute kaum noch lesbar. Ob es an der Übersetzung
von 1961 liegt? Denn die Erstausgabe dieses unveränderten Textes stammt
aus jenem entfernten Jahr.
Im Oktober 1876 beschäftigt sich Dostojewskij mit dem Selbstmord
einer jungen Näherin (Sie sprang mit einer Ikone in den Händen aus dem
Fenster.) und schreibt anschließend in wenigen Wochen "Die Sanfte".
Die Geschichte
besteht aus zwei Kapiteln und einer Vorrede. Dostojewskij bezeichnet
dort diese Erzählung als "phantastisch und in höchstem Maße real". "Real"
nennt er den Anlass und den Ablauf der Geschichte, "phantastisch" ihre
Form: ein "Stenogramm" des inneren Monologs des Haupthelden. Als literarisches Vorbild nennt Dostojewskij
selbst "Der letzte Tag eines Verurteilten", eine Erzählung Viktor Hugos,
in der ein Verurteilter bis zu seiner Hinrichtung in Monologform
berichtet. Diese aus dem Jahre 1829 stammende Geschichte hatte
Dostojewskijs Bruder Michail ins Russische übersetzt.
Bei Dostojewskij monologisiert der Held vor der aufgebahrten Leiche
seiner durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Frau sein Geschick:
Er war Offizier, der sich nicht entschließen konnte, sich für die Ehre
seines Regiments zu duellieren, weshalb er gezwungen wurde, seinen Abschied zu
nehmen. Allmählich verliert er jeden Halt und sinkt immer tiefer,
vorübergehend lebt er in einem Nachtasyl. Eine kleine Erbschaft erlaubt ihm,
Pfandleiher zu werden und Rache an den Menschen zu nehmen, von denen er
sich ausgestoßen fühlt. Eines Tages sucht den Pfandleiher ein junges,
sechzehnjähriges
Mädchen auf, dessen Armut und Reinheit ihn beeindrucken. Er heiratet sie. Durch gespielte Gleichgültigkeit, lähmendes
Schweigen und unerbittliche Strenge, gegenüber der "Sanften" lebt er
seinen unstillbaren Machttrieb aus. Immerhin - die Erzählung schließt
mit der Erkenntnis des "Kellerlochtyps": "Zu Tode gequält habe ich sie,
das ist es!"
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Swetlana Geier wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2007 ausgezeichnet - für die Übersetzung von Fjodor Dostojewskijs Roman "Ein grüner Junge" (Ammann Verlag).
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Am 18.12.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.
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