Belletristik REZENSIONEN |
Engel oder Satan, Macht oder Verrat?
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Alexander Pjatigorski |
Gebürtig aus Russland; über den Ukrainer Tereschtschenko |
Erinnerung an einen fremden Mann |
Übersetzt aus dem Russischen und mit einem Nachwort versehen von Erich Klein
Folio Verlag, Wien / Bozen 2001, 271 S.
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Das ist kein Buch, das man "mal eben so" lesen kann. Ich
jedenfalls habe so manches Kapitel dieses anspruchsvollen Romans
zwischen Dokumentation und Fiktion durchaus ein zweites Mal lesen müssen, um bei
all den Feinheiten und Andeutungen durchzublicken. Hilfreich ist da Pjatigorskis knappe Inhaltskonzentration vor Beginn jedes Kapitels.
Es geht in diesem Buch um die schillernde Figur des
Ukrainers Michail
Iwanowitsch Tereschtschenko, geboren 1886. Sein Todesjahr wird in der
Presseinformation des Verlages mit 1958 angegeben, im kenntnisreichen
Nachwort von Erich Klein steht 1956 - was sicher stimmt, denn im Roman
ist die Rede von einem Nachruf auf Tereschtschenko, der im April 1956 in
der "Times" erschien (S. 128). Tereschtschenko war Spross
einer Kiewer Zuckerfabrikantendynastie, Direktor des zaristischen
Hofballetts, Gründer eines mysteriösen Rosenkreuzer-Ordens,
Freimaurer, Mäzen, Verleger (der ersten Dichtungen von
Vladimir Nabokov), seit 1912 Förderer und Freund Alexander Bloks, den er zu dem mystischen Theaterstück "Rose
und Kreuz" inspiriert hat. Um 1910 taucht dieser intellektuelle
Lebemann schlagartig in den Kreisen der vornehmen Welt von
Moskau und
St. Petersburg auf, wird als linksliberaler Kapitalist der Drahtzieher
einer Verschwörung gegen den Zaren und 1917 Mitglied der Provisorischen
Regierung von Kerensky, mit einunddreißig Jahren ist er Finanz- und Außenminister.
Pjatigorskis Suche nach dem aus Russland geflüchteten
Tereschtschenko - der im Buch nur Michail Iwanowitsch genannt wird -
führt den Erzähler seit Beginn der fünfziger Jahre durch ganz Europa:
nach Schweden ins Haus der Wallenbergs, nach England in die Welt der
Aristokratie und des britischen Geheimdienstes, in das Frankreich der
Kasinos und in die Kreise der weißen russischen Emigration, bis nach
Deutschland zu einem dubiosen Ex-Nazi. Im Familien- und Bekanntenkreis
findet der Ich-Erzähler abenteuerliche Hinweise auf den "Ritter
und Engel", zugleich aber kursiert auch das Gerücht, dass der
spurlos in den Wirren der Oktoberrevolution Verschwundene ein Verräter gewesen sei.
Insgesamt wimmelt es im Roman von vielen bekannten Namen. von
Alexander Blok, Andrej Belyj, Fjodor Dostojewski,
Nina Berberova,
Bulat Okudshawa,
Maxim Gorki, Diaghilew, Brjussow, Stanislawskij, Balmont,
Rasputin, Vladimir Nabokov,
Boris Pasternak, Sinjawskij... eine
größere Rolle spielen die meisten im Buch allerdings nicht.
In seinem voluminösen Geschichtswerk über den Vorabend der
Oktoberrevolution hat Alexander Solschenizyn Tereschtschenko nur mit
Hohn und Spott bedacht: ein Dandy, der seinem Amt, Russland zu retten,
nicht gewachsen war und letztendlich Lenin den Weg an die Macht freigab.
Pjatigorski dagegen schildert am Beispiel Tereschtschenkos - der von
Geburt an unvergleichlich reich war, buchstäblich alles verlor, sich
durch unermüdliche Arbeit, Talent und unerhörte Willenskraft abermals
Reichtum und Einfluss erkämpfte - individuelles Handeln in der
Geschichte und lässt deutlich werden, welchen Verstrickungen der
einzelne im Zeitalter der Totalitarismen ausgesetzt ist.
Die Schreibweise Pjatigorskis erinnert an filmische Schnitttechnik,
sein Roman, der aus zahllosen einzelnen, ineinander verschwimmenden
Geschichten besteht, ist eine Art Detektivroman.
Pjatigorski wurde in Moskau geboren. Nach seinem Studium der
Philosophie wurde er Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften an der
Moskauer Universität. "Seit jeher umgibt ihn eine Aura des
Mysteriösen", schreibt Erich Klein. "Die Vielzahl an
Tätigkeiten und Berufsbezeichnungen wie Strukturalist (Mitglied des
legendären Tartuer Kreises für Kultursemotik um den Esten
Juri Lotmann.),
Mythenforscher oder Indologe, ließen immer wieder Zweifel aufkommen,
womit sich der praktizierende Buddhist Pjatigorski (...) denn wirklich
beschäftigt." 1974 emigrierte Alexander Pjatigorski, den der
mit ihm befreundete
Joseph Brodsky einen "vieräugigen
Philosophen" nannte, nach England. Seitdem kursierten seine
unorthodoxen Ausführungen zu Materialismus und Religion, Spiritualismus
und Metaphysik des Alltags als Abschriften im
"Samisdat".
Heute ist Pjatigorski emeritierter Professor für Altindische Geschichte
an der Universität London, der Kommentare zu sakralen Texten des
Buddhismus verfasst. Pjatigorski, der als britischer Staatsbürger
beschloss, nie mehr in das Land seiner Herkunft zurückzukehren,
genießt im heutigen Russland großes Ansehen. Sein erster Roman
"Philosophie einer Gasse" (deutsch 1997) erschien in
Russland Anfang der neunziger Jahre und avancierte binnen kürzester
Zeit zum Kultbuch. Viktor Pelewin ("Buddhas kleiner
Finger") bezeichnete Pjatigorski denn auch
sogleich als seinen Lehrer. Für Erinnerung an einen fremden
Mann erhielt Pjatigorski im Jahr 2000 den Petersburger Andrej Belyj-Preis.
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Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
25.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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