Kein Dichter des 20. Jahrhunderts war beim russischen Massenpublikum so
beliebt wie der aus dem Dorf Konstantinowo (bei Rjasan) stammende Sergej
Jessenin (1895-1925). Diese Popularität war nicht nur seinen Gedichten,
sondern auch seiner skandalumwitterten Biographie zuzuschreiben. Nach
jahrelangem Alkoholmissbrauch nahm er sich in einem Leningrader Hotel
spektakulär das Leben. Sein Freitod machte ihn bei bäuerlichen und
jungen Lesern zur Kultfigur. Sergej Jessenin löste unter sowjetischen
Jugendlichen eine ähnliche Selbstmordwelle aus wie in Deutschland einst
Goethes "Leiden des jungen Werther". Der Begriff "Jessenintum"
wurde offiziell zum Synonym für Rowdytum und "Dekadenz", und Jessenins
Werk verschwand für lange Zeit aus den russischen Buchläden. Erst als
der Krieg zu Ende war, wurde der Bann gegen ihn zunächst gelockert
und dann, nach dem Tod von Stalin im Jahre 1953, ganz aufgehoben.
Carola Stern - Autorin der ersten Ulbricht-Biographie und Ehrenpräsidentin des bundesdeutschen PEN - hat sich aus Jessenins skandalumwitterter Biographie besonders skandalträchtige Jahre
ausgewählt: Die Begegnung des Dichters mit Isadora Duncan und die Ehe
mit dieser skandalträchtigen amerikanischen Tänzerin, die den modernen
Solotanz nach klassischer Musik begründet hat, ohne festgelegte
Choreographie, ohne genaue Schrittfolgen und in den Bewegungen nur der
Intuition des Augenblicks folgend. Sergej Jessenin,
der junge Dichter aus Moskau, ein Dandy, Trinker und Entwurzelter, nach den Worten von
Maxim Gorki "ausschließlich für Poesie
erschaffen", und Isadora Duncan - die siebzehn Jahre ältere "femme
scandaleuse", die den Tanz revolutionieren und aus seiner Erstarrung
befreien wollte. 1904 hatte die amerikanische Ausdruckstänzerin
ihr erstes Gastspiel in Russland gegeben. Ursula Keller und Natalja
Sharandak zitieren in ihrem Buch "Abende nicht von dieser Welt"
Alexandre Benois (1870-1960), den bedeutenden Künstler der Vereinigung
"Welt der Kunst": "Die Tänze Isodoras machten auf mich (...) einen
tiefen Eindruck, und ich sage gleich, dass ich mich, wenn meine
Begeisterung für den traditionellen oder `klassischen´ Tanz, gegen den
Isadora einen wahren Krieg führte, auch nicht ins Schwanken geriet, bis
an den heutigen Tag an das Entzücken erinnere, das die amerikanische
`Barfüßige´ in mir hervorrief."
Der Dichter Sergej Jessenin und die Tänzerin Isadora Duncan galten als exzentrisches
Künstlerpaar, dem die Lust an der zur Schau gestellten Provokation
gemeinsam war. Während die Duncan gegen den drohenden Verfall ihres
Ruhmes antanzt, rebelliert Jessenin, betäubt sich mit Alkohol, prügelt
seine Frau und schlägt einige Hotelrestaurants kurz und klein.
Sachlich und doch leserwirksam beleuchtet Carola Stern in der
Rowohlt-Reihe "Paare" die Szenen dieser
kurzen Ehe. 1921 - in der Zeit des Zerfalls des alten Russlands und des
Aufbaus Sowjetrusslands - hatten sie sich in Moskau auf einem Atelierfest kennen
gelernt; Isadora war auf Tournee in Russland.
Anatolij Marienhof, Jessenins engster Freund und späterer Biograph, erzählt: "`Sie tauchte
die Hand in seine Locken und sagte: `Goldener Kopf.´ Es überraschte, daß
sie, die keine zwölf russischen Wörter kannte, diese zwei wußte. Dann
küßte sie ihn auf die Lippen. Und wieder formte ihr Mund, der klein und
rot war wie die Einschußwunde von einer Pistolenkugel, gebrochene
russische Laute: `Engel!´ Sie küßte ihn wieder und sagte: `Teufel!´"
- So ist die Duncan! Gefällt ihr ein Mann, gibt sie unzweideutig zu
verstehen, daß sie ihn haben will, nimmt ihn sich, wenn er sich nehmen
läßt. Dem legendären russischen Tänzer Waslaw Nijinsky, erzählen sich
ihre französischen Freunde, hat sie kurz nach dem Kennenlernen erklärt,
sie hätte gern ein Kind von ihm. (...) Der in dieser Nacht Auserkorene
[Jessenin] lächelt geschmeichelt; er wirkt bescheiden, höflich, doch keineswegs
gehemmt. Sie spürt, daß er gefallen will, selbstverliebt streicht er
sich eine blonde Locke in die Stirn. Ach, diese Frische, dieses
Jungenhafte, wie es sie belebt! Eben noch hat er sie lange mit seinen
sanften Blumenaugen angeblickt, bewundernd, ja fast ehrerbietig. Jetzt
wirft er den Kopf zurück, und etwas Herausforderndes, ein dreister Charme
liegt in seinem Blick. Ein betörender Mann. Und dazu ein Dichter! Längst
ist ihr zugeflüstert worden, wer zu ihren Füßen sitzt: Sergej Jessenin.
Man sagt, daß er ein zweiter Puschkin sei, vergleicht ihn mit Rimbaud,
nennt ihn ein Genie. Trotz seiner Jugend ist Serjosha, wie ihn seine
Freunde nennen, in Moskau schon recht populär. Leute, die ihn erkennen,
grüßen im Vorübergehen, und selbst der Schuhmacher fühlt sich geehrt,
daß der Dichter seine Schuhe bei ihm besohlen läßt."
Anatoli Lunatscharski, der erste Volksbildungsminister Russlands,
schrieb damals: "Die Duncan wird die Königin der Gestik genannt; doch
von all ihren Gesten ist diese letzte - ihre Reise in das revolutionäre
Rußland, trotz der Bangemacherei - die allerschönste und verdient den lautesten Beifall."
Auch Jessenin ist von der exzentrischen berühmten Ausdruckstänzerin beeindruckt.
Sie kennt das Land von mehreren Gastspielen während der Zarenzeit. Hat
sie hier - wie 1899 Rainer Maria Rilke - die "Heimat ihrer Seele"
gefunden? Jedenfalls beschließt sie - inzwischen mit Jessenin
verheiratet - in Russland zu bleiben und hier eine Tanzschule zu
begründen; ihre amerikanische Staatsbürgerschaft gibt sie auf. Jessenin
fühlt sich auf dem Höhepunkt des Lebens, in seiner besten Zeit.
Isadora hatte schon einige Liebesbeziehungen hinter sich: zum Beispiel
mit dem genialen englischen Bühnenbildner Gordon Craig, dem Vater
ihrer Tochter Deirdre; mit dem unermesslich reichen Paris Singer, einem
Sohn des bekannten amerikanischen Nähmaschinenfabrikanten, Vater ihres
Sohnes Patrick. (Beide Kinder ertrinken bei einem Autounfall in der
Seine.) Sergej Jessenin ist ihr erster und einziger rechtmäßiger
Ehemann. Für Jessenin erweist sich inzwischen die von ihm angenommene und erwünschte
Übereinstimmung mit den Bolschewiki als eine Illusion. An eine Freundin
schreibt er: "Es bedrückt mich jetzt sehr, daß die Geschichte eine
schwere Epoche durchmacht, in der die Persönlichkeit als das Lebendige
abgetötet wird, denn der Sozialismus ist gar nicht so, wie ich ihn mir
vorgestellt habe..." An Emigration denkt Jessenin nicht, als er
Lunatscharski 1922 um ein Visum für Berlin bittet; er will das
Erscheinen seiner Werke in deutscher Sprache vorantreiben. (Sehr
interessant in diesem Zusammenhang das von Thomas Urban herausgegebene
Buch "Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre".)
Ob in Berlin, Paris, Amerika - überall tritt Jessenin als Rowdy
auf. Unvorstellbar die Szenen, die sich in den Hotels und auf
Geselligkeiten abspielen. Sie verzeiht, begleicht die Rechnungen für das
zerschlagene Mobilar und haucht: "Isch liebe disch." Er
brauchte sie, dessen glaubte sie sich sicher, und sie liebte ihn, das
Sanfte und das Grobe seines Wesens, den Dichter und den Mushik.
Beim Lesen des Buches von Carola Stern werde ich oft an ein anderes Paar
erinnert: an den russischen Liedermacher Wladimir Wyssozki und die
französische Schauspielerin Marina Vlady, die in
ihrem Buch "Eine Liebe zwischen zwei Welten" über ihre
komplizierte Ehe und die Alkoholexzesse ihres Mannes erzählt.
Die Ehe zwischen Jessenin und der Duncan hält nicht.
1917 war Jessenin bereits ein Jahr lang mit einer Anna
verheiratet gewesen, sie hatten ein Kind zusammen. Dann hatte er Sinaida
Reich (Rais) geheiratet, die zwei Kinder von ihm hatte, und die er
ebenfalls sitzen ließ. Als Wsewolod Meyerhold, der bekannte Moskauer
Theaterregisseur, gesteht, dass er Sinaida liebe und gern ihr Mann
werden wolle, antwortete ihm Sergej: "Nimm sie dir, ich flehe dich an.
Bis übers Grab raus will ich´s dir danken." - "Wie viele russische Männer
seiner Zeit", schreibt Carola Stern, "dachte Jessenin geringschätzig von
Frauen und fühlte sich ihnen überlegen." Jessenin wird auch oft als
Heiratsgrund Ruhmessucht nachgesagt: Kurz vor seinem Tod heiratete er
eine Enkelin Leo Tolstois.
Der Dichter und die Tänzerin hatten zu wenig Gemeinsamkeiten, und
ihre Gegensätzlichkeiten zogen sich nicht lange an... Am festesten habe
dieses Liebespaar, schreibt Carola Stern, "die Angst vor dem Alleinsein
und ein unstillbares Bedürfnis nach Geborgenheit" verbunden. Genau das
aber konnten sie sich nicht dauerhaft geben.
Von der bekannten Publizistin Carola Stern* intensiv
recherchiert, lernen wir viele Einzelheiten über die bedeutendste
Tänzerin ihrer Zeit kennen, die - Carola Stern lässt ihr Gerechtigkeit
widerfahren - nicht nur ruhmsüchtig war und auch keine
Traumtänzerin: Sie wollte in Russland ihren Traum wahr machen von einer
Tanzschule für die Massen, ohne Kommerz. Die Städterin Isadora Duncan (die nie eine Tanzschule
besuchte) und der Bauernsohn Sergej Jessenin (der nie eine Schreibwerkstatt für
Dichter besuchte), kommen dem Leser sehr nahe. Es ist eine Beziehung
zwischen Ost und West, zwischen traditioneller und moderner Kultur, der
Zusammenstoss zweier Temperamente und Welten! Die Autorin spricht von
einem "Liebesdrama", das sich zwischen einer Mitvierzigerin und einem
fast zwanzig Jahre Jüngeren abspielt, der auf den gemeinsamen Fotos
aussieht wie der Sohn der Geliebten. Viele Szenen sind von
der Autorin so eindrucksvoll beschrieben, dass sie einem lange im
Gedächtnis bleiben werden. Vor allem dann werden sie wieder lebendig,
wenn man in der dreibändigen Werkausgabe des Berliner
Verlages Volk
und Welt von und über Jessenin liest. Mit dieser Ausgabe gewinnt der
deutsche Leser zum ersten mal eine umfassende Vorstellung von der
Bedeutung dieses (zarten) großen russischen Lyrikers, der im Leben so
grob sein konnte.
|
- Sabine Adler, Russenkind. Eine Tochter auf der Suche nach ihrer Mutter.
- Tschingis Aitmatow, Kindheit in Kirgisien.
- Ellen Alpsten, Die Zarin.
- Anton Bayr, Vergessene Schicksale. Überlebenskampf in sowjetischen
Lagern - ein Kriegsgefangener erinnert sich.
- Nina Berberova, Ich komme aus St. Petersburg.
- Ivan Bunin,
Čechov, Erinnerungen eines Zeitgenossen.
- Juliet Butler, Masha & Dasha. Autobiographie eines siamesischen Zwillingspaares.
- E. H. Carr, Romantiker der Revolution. Ein russischer
Familienroman aus dem 19. Jahrhundert.
- Alexandra Cavelius, Die Zeit der Wölfe.
- Marc Chagall, Mein Leben.
- Jerome Charyn, Die dunkle Schöne aus Weißrußland.
- Kurt Drawert / Blaise Cendrars, Reisen im Rückwärtsgang.
- Werner Eberlein, Geboren am 9. November.
- Irina Ehrenburg, So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert.
- Ota Filip, Das Russenhaus.
- Natalija Geworkjan / Andrei Kolesnikow / Natalja Timakowa, Aus erster Hand. Gespräche mit Wladimir Putin.
- Natalia Ginzburg, Anton Čechov, Ein Leben.
- Michail Gorbatschow, Über mein Land.
- Friedrich Gorenstein, Malen, wie die Vögel singen. Ein Chagall-Roman.
- Friedrich Gorenstein, SKRJABIN.
- Daniil Granin, Das Jahrhundert der Angst. Erinnerungen.
- Madeleine Grawitz, Bakunin. Ein Leben für die Freiheit.
- Viktor Jerofejew, Der gute Stalin.
- Jewgeni Jewtuschenko, Der Wolfspass. Abenteuer eines Dichterlebens.
- Kjell Johansson, Gogols Welt.
- Wladimir Kaminer, Russendisko.
- Wladimir Kaminer, Militärmusik.
- Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
- Jelena Koschina, Durch die brennende Steppe.
- Leonhard Kossuth, Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag.
- Gidon Kremer, Zwischen Welten.
- Anna Larina Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig.
Erinnerungen.
- Richard Lourie, SACHAROW.
- Klaus-Rüdiger Mai, Michail Gorbatschow. Sein Leben und seine
Bedeutung für Russlands Zukunft.
- Medina Mamleew, Ich öffne meine ganze Seele.
- Andreas Meyer-Landrut, Mit Gott und langen Unterhosen. Erlebnisse
eines Diplomaten in der Zeit des Kalten Krieges.
- Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert. Autobiographie.
- Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des roten Zaren.
- Boris Nossik, Vladimir Nabokov. Eine Biographie.
- Ingeborg Ochsenknecht, "Als ob der Schnee alles zudeckte". Eine
Krankenschwester erinnert sich. Kriegseinsatz an der Ostfront.
- Bulat Okudshawa, Reise in die Erinnerung. Glanz und Elend eines Liedermachers.
- Irina Pantaeva, Mein Weg auf die Laufstege der Welt.
- Edward Radsinski, Die Geheimakte Rasputin. Neue Erkenntnisse über den
Dämon am Zarenhof.
- Alexander Rahr, Wladimir Putin. Der "Deutsche" im Kreml.
- Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
- Anatoli Rybakow, Die Kinder vom Arbat.
- Anatoli Rybakow, Roman der Erinnerung.
- Juri Rytchëu, Im Spiegel des Vergessens.
- Juri Rytchëu, Die Reise der Anna Odinzowa.
- Martha Schad, Stalins Tochter. Das Leben der Swetlana Allilujewa.
- Olga Sedakova, Reise nach Brjansk. Zwei Erzählungen.
- Wolfgang Seiffert, Wladimir W. Putin.
- Michael Senkewitsch, Elga. (Aus den belletristischen Memoiren).
- Helga Slowak-Ruske, Rote Fahnen und Davidstern.
- Gabriele Stammberger / Michael Peschke, Gut angekommen - Moskau. Das Exil der Gabriele Stammberger 1932-1954.
- Frank N. Stein, Rasputin. Teufel im Mönchsgewand.
- Stefan Sullivan, Sibirischer Schwindel. Zwei Abenteuerromane.
- Donald M. Thomas, Solschenizyn. Die Biographie.
- Nyota Thun, Ich - so groß und so überflüssig. Wladimir Majakowski, Leben und Werk.
- Leo Trotzki, Stalin.
- Henri Troyat, Rasputin.
- Semjon S. Umanskij, Jüdisches Glück. Bericht aus der Ukraine 1933-1944.
- Marina Vlady, Eine Liebe zwischen zwei Welten (mit dem Schauspieler
und Liedersänger Wladimir Wyssozki).
- Erika Voigt / Heinrich Heidebrecht, Carl Schmidt - ein Architekt
in St. Petersburg 1866-1945.
- Julius Wolfenhaut, Nach Sibirien
verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941-1994.
- Solomon Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch.
- Jewsej Zeitlin, Lange Gespräche in Erwartung eines glücklichen Todes.
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