Belletristik REZENSIONEN

"Isch liebe disch."

Über den Russen Jessenin
Isadora Duncan und Sergej Jessenin
Der Dichter und die Tänzerin
Mit zahlreichen Fotos
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998, 173 S.

Kein Dichter des 20. Jahrhunderts war beim russischen Massenpublikum so beliebt wie der aus dem Dorf Konstantinowo (bei Rjasan) stammende Sergej Jessenin (1895-1925). Diese Popularität war nicht nur seinen Gedichten, sondern auch seiner skandalumwitterten Biographie zuzuschreiben. Nach jahrelangem Alkoholmissbrauch nahm er sich in einem Leningrader Hotel spektakulär das Leben. Sein Freitod machte ihn bei bäuerlichen und jungen Lesern zur Kultfigur. Sergej Jessenin löste unter sowjetischen Jugendlichen eine ähnliche Selbstmordwelle aus wie in Deutschland einst Goethes "Leiden des jungen Werther". Der Begriff "Jessenintum" wurde offiziell zum Synonym für Rowdytum und "Dekadenz", und Jessenins Werk verschwand für lange Zeit aus den russischen Buchläden. Erst als der Krieg zu Ende war, wurde der Bann gegen ihn zunächst gelockert und dann, nach dem Tod von Stalin im Jahre 1953, ganz aufgehoben.

Carola Stern - Autorin der ersten Ulbricht-Biographie und Ehrenpräsidentin des bundesdeutschen PEN - hat sich aus Jessenins skandalumwitterter Biographie besonders skandalträchtige Jahre ausgewählt: Die Begegnung des Dichters mit Isadora Duncan und die Ehe mit dieser skandalträchtigen amerikanischen Tänzerin, die den modernen Solotanz nach klassischer Musik begründet hat, ohne festgelegte Choreographie, ohne genaue Schrittfolgen und in den Bewegungen nur der Intuition des Augenblicks folgend. Sergej Jessenin, der junge Dichter aus Moskau, ein Dandy, Trinker und Entwurzelter, nach den Worten von Maxim Gorki "ausschließlich für Poesie erschaffen", und Isadora Duncan - die siebzehn Jahre ältere "femme scandaleuse", die den Tanz revolutionieren und aus seiner Erstarrung befreien wollte. 1904 hatte die amerikanische Ausdruckstänzerin  ihr erstes Gastspiel in Russland gegeben. Ursula Keller und Natalja Sharandak zitieren in ihrem Buch "Abende nicht von dieser Welt" Alexandre Benois (1870-1960), den bedeutenden Künstler der Vereinigung "Welt der Kunst": "Die Tänze Isodoras machten auf mich (...) einen tiefen Eindruck, und ich sage gleich, dass ich mich, wenn meine Begeisterung für den traditionellen oder `klassischen´ Tanz, gegen den Isadora einen wahren Krieg führte, auch nicht ins Schwanken geriet, bis an den heutigen Tag an das Entzücken erinnere, das die amerikanische `Barfüßige´ in mir hervorrief."

Der Dichter Sergej Jessenin und die Tänzerin Isadora Duncan galten als exzentrisches Künstlerpaar, dem die Lust an der zur Schau gestellten Provokation gemeinsam war. Während die Duncan gegen den drohenden Verfall ihres Ruhmes antanzt, rebelliert Jessenin, betäubt sich mit Alkohol, prügelt seine Frau und schlägt einige Hotelrestaurants kurz und klein. 

Sachlich und doch leserwirksam beleuchtet Carola Stern in der Rowohlt-Reihe "Paare" die Szenen dieser kurzen Ehe. 1921 - in der Zeit des Zerfalls des alten Russlands und des Aufbaus Sowjetrusslands - hatten sie sich in Moskau auf einem Atelierfest kennen gelernt; Isadora war auf Tournee in Russland. Anatolij Marienhof, Jessenins engster Freund und späterer Biograph, erzählt: "`Sie tauchte die Hand in seine Locken und sagte: `Goldener Kopf.´ Es überraschte, daß sie, die keine zwölf russischen Wörter kannte, diese zwei wußte. Dann küßte sie ihn auf die Lippen. Und wieder formte ihr Mund, der klein und rot war wie die Einschußwunde von einer Pistolenkugel, gebrochene russische Laute: `Engel!´ Sie küßte ihn wieder und sagte: `Teufel!´" - So ist die Duncan! Gefällt ihr ein Mann, gibt sie unzweideutig zu verstehen, daß sie ihn haben will, nimmt ihn sich, wenn er sich nehmen läßt. Dem legendären russischen Tänzer Waslaw Nijinsky, erzählen sich ihre französischen Freunde, hat sie kurz nach dem Kennenlernen erklärt, sie hätte gern ein Kind von ihm. (...) Der in dieser Nacht Auserkorene [Jessenin] lächelt geschmeichelt; er wirkt bescheiden, höflich, doch keineswegs gehemmt. Sie spürt, daß er gefallen will, selbstverliebt streicht er sich eine blonde Locke in die Stirn. Ach, diese Frische, dieses Jungenhafte, wie es sie belebt! Eben noch hat er sie lange mit seinen sanften Blumenaugen angeblickt, bewundernd, ja fast ehrerbietig. Jetzt wirft er den Kopf zurück, und etwas Herausforderndes, ein dreister Charme liegt in seinem Blick. Ein betörender Mann. Und dazu ein Dichter! Längst ist ihr zugeflüstert worden, wer zu ihren Füßen sitzt: Sergej Jessenin. Man sagt, daß er ein zweiter Puschkin sei, vergleicht ihn mit Rimbaud, nennt ihn ein Genie. Trotz seiner Jugend ist Serjosha, wie ihn seine Freunde nennen, in Moskau schon recht populär. Leute, die ihn erkennen, grüßen im Vorübergehen, und selbst der Schuhmacher fühlt sich geehrt, daß der Dichter seine Schuhe bei ihm besohlen läßt."

Anatoli Lunatscharski, der erste Volksbildungsminister Russlands, schrieb damals: "Die Duncan wird die Königin der Gestik genannt; doch von all ihren Gesten ist diese letzte - ihre Reise in das revolutionäre Rußland, trotz der Bangemacherei - die allerschönste und verdient den lautesten Beifall."

Auch Jessenin ist von der exzentrischen berühmten Ausdruckstänzerin beeindruckt. Sie kennt das Land von mehreren Gastspielen während der Zarenzeit. Hat sie hier - wie 1899 Rainer Maria Rilke - die "Heimat ihrer Seele" gefunden? Jedenfalls beschließt sie - inzwischen mit Jessenin verheiratet - in Russland zu bleiben und hier eine Tanzschule zu begründen; ihre amerikanische Staatsbürgerschaft gibt sie auf. Jessenin fühlt sich auf dem Höhepunkt des Lebens, in seiner besten Zeit.

Isadora hatte schon einige Liebesbeziehungen hinter sich: zum Beispiel mit dem genialen englischen Bühnenbildner Gordon Craig, dem Vater ihrer Tochter Deirdre; mit dem unermesslich reichen Paris Singer, einem Sohn des bekannten amerikanischen Nähmaschinenfabrikanten, Vater ihres Sohnes Patrick. (Beide Kinder ertrinken bei einem Autounfall in der Seine.) Sergej Jessenin ist ihr erster und einziger rechtmäßiger Ehemann. Für Jessenin erweist sich inzwischen die von ihm angenommene und erwünschte Übereinstimmung mit den Bolschewiki als eine Illusion. An eine Freundin schreibt er: "Es bedrückt mich jetzt sehr, daß die Geschichte eine schwere Epoche durchmacht, in der die Persönlichkeit als das Lebendige abgetötet wird, denn der Sozialismus ist gar nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt habe..." An Emigration denkt Jessenin nicht, als er Lunatscharski 1922 um ein Visum für Berlin bittet; er will das Erscheinen seiner Werke in deutscher Sprache vorantreiben. (Sehr interessant in diesem Zusammenhang das von Thomas Urban herausgegebene Buch "Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre".)

Ob in Berlin, Paris, Amerika - überall tritt Jessenin als Rowdy auf. Unvorstellbar die Szenen, die sich in den Hotels und auf Geselligkeiten abspielen. Sie verzeiht, begleicht die Rechnungen für das zerschlagene Mobilar und haucht: "Isch liebe disch." Er brauchte sie, dessen glaubte sie sich sicher, und sie liebte ihn, das Sanfte und das Grobe seines Wesens, den Dichter und den Mushik.

Beim Lesen des Buches von Carola Stern werde ich oft an ein anderes Paar erinnert: an den russischen Liedermacher Wladimir Wyssozki und die französische Schauspielerin Marina Vlady, die in ihrem Buch "Eine Liebe zwischen zwei Welten" über ihre komplizierte Ehe und die Alkoholexzesse ihres Mannes erzählt.

Die Ehe zwischen Jessenin und der Duncan hält nicht.

1917 war Jessenin bereits ein Jahr lang mit einer Anna verheiratet gewesen, sie hatten ein Kind zusammen. Dann hatte er Sinaida Reich (Rais) geheiratet, die zwei Kinder von ihm hatte, und die er ebenfalls sitzen ließ. Als Wsewolod Meyerhold, der bekannte Moskauer Theaterregisseur, gesteht, dass er Sinaida liebe und gern ihr Mann werden wolle, antwortete ihm Sergej: "Nimm sie dir, ich flehe dich an. Bis übers Grab raus will ich´s dir danken." - "Wie viele russische Männer seiner Zeit", schreibt Carola Stern, "dachte Jessenin geringschätzig von Frauen und fühlte sich ihnen überlegen." Jessenin wird auch oft als Heiratsgrund Ruhmessucht nachgesagt: Kurz vor seinem Tod heiratete er eine Enkelin Leo Tolstois.

Der Dichter und die Tänzerin hatten zu wenig Gemeinsamkeiten, und ihre Gegensätzlichkeiten zogen sich nicht lange an... Am festesten habe dieses Liebespaar, schreibt Carola Stern, "die Angst vor dem Alleinsein und ein unstillbares Bedürfnis nach Geborgenheit" verbunden. Genau das aber konnten sie sich nicht dauerhaft geben.

Von der bekannten Publizistin Carola Stern* intensiv recherchiert, lernen wir viele Einzelheiten über die bedeutendste Tänzerin ihrer Zeit kennen, die -  Carola Stern lässt ihr Gerechtigkeit widerfahren -  nicht nur ruhmsüchtig war und auch keine Traumtänzerin: Sie wollte in Russland ihren Traum wahr machen von einer Tanzschule für die Massen, ohne Kommerz. Die Städterin Isadora Duncan (die nie eine Tanzschule besuchte) und der Bauernsohn Sergej Jessenin (der nie eine Schreibwerkstatt für Dichter besuchte), kommen dem Leser sehr nahe. Es ist eine Beziehung zwischen Ost und West, zwischen traditioneller und moderner Kultur, der Zusammenstoss zweier Temperamente und Welten! Die Autorin spricht von einem "Liebesdrama", das sich zwischen einer Mitvierzigerin und einem fast zwanzig Jahre Jüngeren abspielt, der auf den gemeinsamen Fotos aussieht wie der Sohn der Geliebten. Viele Szenen sind von der Autorin so eindrucksvoll beschrieben, dass sie einem lange im Gedächtnis bleiben werden. Vor allem dann werden sie wieder lebendig, wenn man in der dreibändigen Werkausgabe des Berliner Verlages Volk und Welt von und über Jessenin liest. Mit dieser Ausgabe gewinnt der deutsche Leser zum ersten mal eine umfassende Vorstellung von der Bedeutung dieses (zarten) großen russischen Lyrikers, der im Leben so grob sein konnte.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

  * Carola Stern starb achtzigjährig am 19.01.2006.

 

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Am 16.12.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Ehre dich selbst, und schon bald werden dich  andere ehren.
Sprichwort der Russen

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