Belletristik REZENSIONEN | |
Klassiker des Absurden vor Beckett und Ion ęsco | |
Daniil Charms | Russe |
Zwischenfälle Mit Zeichnungen des Autors Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner | |
Luchterhand Literaturverlag, München 2003, 374 S. | |
Daniil Charms hatte neben dem vom englischen "charm" - Zauber, Reiz,
bezaubern, entzücken, reizen - abgeleiteten Pseudonym an die dreißig
Decknamen, in Wirklichkeit hieß er Daniil Iwanowitsch Juwatschow. Er
wurde am 30. (oder 17.) Dezember 1905 in
Petersburg geboren, seine Mutter war
Lehrerin, sein Vater - Sohn eines Fußbodenbohnerers im Zarenpalast -
hatte die Marineschule in Kronstadt absolviert und sich der
revolutionären Terrororganisation "Volkswille" angeschlossen. 1883 wurde
er verhaftet, zum Tode verurteilt, aber dann zu lebenslanger Haft
begnadigt. In der Festung Schlüsselburg war aus dem
anarchistisch-terroristischen Freiheitskämpfer ein
friedfertig-anarchistischer
Tolstojaner
geworden, der auf
der Insel Sachalin
zwei Jahre lang, an Fußketten geschmiedet, schwerste physische Arbeit
verrichten musste. Entlassen, wurde er Kapitän auf einem der ersten
Schiffe, die Meereskarten erarbeiteten.
Charms hat bis zum Tode seines
Vaters im Jahre 1940 mit ihm zusammen gelebt.
"Keine Zeile seines dichterischen und dramatischen Schaffens sowie seine Prosa für Erwachsene", schreibt Lola Debüser in ihrem Nachwort, "sollte er je gedruckt sehen." Jedoch: Zwei seiner Gedichte wurden 1926 in offiziellen Lyriksammlungen publiziert... Und: "Charms´ faszinierendes Spiel mit Realität und Phantasie, die von ihm angewandte Umkehrung logischer und mimetischer Strukturen, sein freier und spielerischer Umgang mit absurden und scheinbar kindlich-naiven Aussagen bewirkten, dass Samuil Marschak, Schriftsteller und Leiter der Kinderbuchabteilung des Staatsverlages in Leningrad, Charms für Kinderliteratur zur Mitarbeit heranziehen konnte." Als Verfasser von Kinderliteratur ist er dem russischen Leser bekannt geblieben, als er 1956 offiziell rehabilitiert wurde. Über Charms Tod weiß man nichts Genaues. Nach einer Version ist er 1942 in einem Leningrader Gefängnis während der Blockade verhungert. Nach einer anderen Version ist er noch vor der Blockade zusammen mit anderen Verhafteten aus Leningrad verlegt worden und im Februar 1942 (1941 bei Wolfgang Kasack, "Hauptwerke der russischen Literatur") im Gefängniskrankenhaus von Nowosibirsk gestorben. Daniiel Charms gilt heute als Meister des Paradoxen: "Mich interessiert nur Quatsch, nur das, was gar keinen praktischen Sinn macht. Mich interessiert das Leben immer in sehr unsinnigen Erscheinungen", notierte er 1937 in seinem Tagebuch. In Zwischenfälle erweist sich Charms in 120 parodierenden und ironisierenden Texten als ein Klassiker des Absurden. Ein Minitext als Beispiel: "Begegnung. Eines Tages ging ein Mann zur Arbeit, und unterwegs begegnete er einem anderen Mann, der ein polnisches Weißbrot gekauft hatte und auf dem Heimweg war. Das ist eigentlich alles." "Wem der Sinn für solche Texte abgeht (...), der sollte bei Gelegenheit die Bettdecke über den Kopf ziehen und über sich nachdenken, meint "Der Tagesspiegel". Wo ist meine Bettdecke? - um nicht nur über mich, sondern auch um über Daniil Charms nachzudenken; denn schließlich habe ich doch auch Becketts "Warten auf Godot" und Ionęscos "Die Nashörner" kapiert... | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
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Am 22.11.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Es ist leicht, für gestern weise zu sein. | |
Sprichwort der Russen |
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