Sachbuch REZENSIONEN | |
Vom Erfinder der Wasserstoffbombe zum Friedensnobelpreisträger | |
Richard Lourie | Über den Russen Sacharow |
SACHAROW Eine Biographie Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz | |
Luchterhand Literaturverlag, München 2003, 637 S. | |
Richard Lourie ist Amerikaner, er lebt in New York. Wir kennen von ihm
schon "Stalin", die (fiktiven) geheimen Aufzeichnungen des Jossif
Wissarionowitsch Dschugaschwili. Nun liegt von ihm SACHAROW vor,
eine Biographie des "Vaters der sowjetischen Wasserstoffbombe". Richard
Lourie hatte Sacharows* Memoiren ins amerikanische Englisch übersetzt und
war wohl dadurch so neugierig auf ihn geworden, dass er selbst eine
Biographie über einen der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts
schrieb.
Wie schon bei seinem
Stalin-Roman erstaunt die dargebotene
Materialfülle, hier besonders Louries Vertrautsein mit der Physik. Aus
seiner Danksagung erfahren wir, dass
ihm sein Bruder Robert bei physikalischen Fragen unter die Arme
gegriffen hat und das ganze Manuskript auf wissenschaftliche
Korrekktheit hin
durchsah. Der Amerikaner Richard Lourie hatte den Russen Andrej Sacharow (1921-1989) noch persönlich kennen gelernt und führt heute noch "lange, rauchgeschwängerte Gespräche" mit dessen Witwe Jelena Bonner**. Gestützt auf viele Quellen - unter anderem zahlreiche Gespräche mit Sacharows Zeitgenossen, die bislang geheimen KGB-Materialien und Sacharows Korrespondenz - erzählt Lourie ein Leben, das aufs engste mit fast einem Jahrhundert Sowjetgeschichte verbunden ist. Der hoch talentierte Physiker - groß und hager, sehr schüchtern, doch bei alledem auch sehr selbstbewusst, ein Mann, der meist viel zu kurze Hosen trug, manchmal auch zwei verschiedene Schuhe - wurde 1948 ins sowjetische Atomwaffenprogramm eingebunden und fühlte sich damals als "Soldat des naturwissenschaftlich-technischen Krieges". Vierhunderttausend Strafgefangene errichteten jene Objekte, bei denen auch Sacharow beim Bau der Bombe hilft. Nach der erfolgreichen Explosion der Wasserstoffbombe am 12. August 1953 wurde Sacharow vom Kreml hofiert und wurde jüngstes Vollmitglied der Akademie, Held der Sozialistischen Arbeit, erhielt den Stalinpreis und ein Direkttelefon für Kontakte zum engsten Zirkel der Macht. Die ersten Toten bei einem Versuch 1955 und die Erkenntnis, dass jeder Test langfristig mehr als zehntausend Opfer fordern würde, zwangen das Physikgenie zum Umdenken. Lourie datiert den Bruch in Sacharows Biographie auf jenes denkwürdige Treffen 1961 mit Nikita Chruschtschow, bei dem der Bombenbauer einen Teststop fordert, der Parteichef aber seinen Untergebenen öffentlich erniedrigte. Mit seiner H-Bombe erhob Sacharow die Sowjetunion zur Supermacht, mit seinem bestaunenswerten Mut und seiner moralischen Integrität wurde er später in seiner Heimat zu einem rührigen Verfechter der bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte. Sacharow hat viel riskiert, verlor seine Privilegien, seine Arbeit, sein Aufenthaltsrecht in Moskau - war sieben Jahre lang als Staatsfeind Nummer 1 nach Gorki verbannt, das heute wieder Nishnij Nowgorod heißt. Mit seiner ersten Frau Klawdija Wichirewa, die 1969 starb, war er ein Vierteljahrhundert verheiratet, hatte drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, der beim Tod seiner Mutter erst zehn Jahre alt war. Sacharow, der sich um zahlreiche politische Häftlinge persönlich kümmerte, die Rechte von Krimtataren, Mescheten (sprich: Mes-cheten), Armeniern und Georgiern... verfocht, vernachlässigte seine Kinder, die es ihm aber auch nicht gerade leicht machten, da sie ihm nach dem Tod ihrer Mutter seine Heirat mit Jelena Bonner - der Tochter einer sibirischen Jüdin und eines armenischen Vaters - verübelten. In seinen Memoiren spricht Sacharin wehmütig dieses schmerzliche Kapitel seines Lebens an, wenn er über seine Kinder und Enkel schreibt: "Ich habe viel versäumt - aus Trägheit, durch rein physische Beschränkungen, durch den Widerstand meiner Töchter und meines Sohnes, den ich nicht überwinden konnte. Aber ich höre nicht auf, darüber nachzudenken." Sacharows Sohn Dmitrij (Dima) hat weder seine Ausbildung als Physiker noch als Mediziner beendet, hat selbst einen Sohn, ist geschieden, sucht oft Trost im Alkohol. Lourie: "Dima streift immer noch durch Moskau, verwegen, grandios, schnell beleidigt. Er kennt alle und jeden, traut niemandem und gibt sich krampfhaft Mühe, nicht dem Beispiel des Vaters nachzueifern..." Richtig wohl, schreibt Sacharow, fühle er sich nur mit den Kindern - Tochter, Schwiegersohn und Sohn - von Jelena Bonner. Tatjana, mit Efrem Jankelewitsch verheiratet, half Lourie dann auch als Leiterin des Andrej Sacharow-Archivs an der Brandeis University tatkräftig bei seiner Biographie; auch mit Efrem korrespondierte Lourie viel und oft über "die Stimmung, das Wetter, den Tenor jener fernen Tage der Dissidentenzeit". Für seinen Stiefsohn Alexander führte Sacharow sogar gemeinsam mit Jelena Bonner einen seiner Hungerstreiks durch, um für dessen große Liebe, die schöne Mongolin Lisa, ebenfalls die Ausreise nach Amerika zu erzwingen. Auch dies ging natürlich durch die Presse, und man versteht durchaus, wenn sich die Kinder Sacharows zurückgesetzt fühlten... Aber was Sacharow mit Jelena Bonner verband, war denn wohl doch einer der seltenen späten Glücksfälle des Lebens. Für Sacharow war Jelena Bonner der einzige Mensch, "zu dem ich eine immer zuverlässige innere Beziehung spüre (...). Wir sind zusammen. Das gibt dem Leben einen Sinn." Diese erste umfassende Biographie über den Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger von 1975 macht den Leser gleichermaßen mit dem Wissenschaftler vertraut, der die Welt durch die Erfindung thermonuklearer Waffen und durch physikalische Grundlagenforschung veränderte, mit dem Menschenrechtler der vielen Häftlingen zur Freiheit verhalf, und mit dem Menschen Sacharow, seinen Schwächen und Stärken. Am Ende seines Lebens wurde Sacharow in das sowjetische Parlament gewählt, wo er sich darum bemühte, die sowjetische Verfassung zu reformieren. Sein Tod im Dezember 1989 - da war er achtundsechzig Jahre alt - verwehrte es ihm, daran mitzuwirken, die atomare Supermacht in eine demokratische Gesellschaft zu führen. Richard Lourie konzentriert sich bei seiner Biographie auf die Frage, wie ein Naturwissenschaftler zum Politiker, wie ein Bombenbauer zum streitbaren Humanisten wird. Der Autor wird all den wissenschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Aspekten mit seiner umfassenden und spannend erzählten Biographie SACHAROW gerecht. "In Gesprächen mit dem Historiker Martin Kenner", schreibt Lourie, "wurde ich daran erinnert, beim Erzählen einer Lebensgeschichte das rechte Maß zwischen dem großen Rahmen und den kleinen Dingen zu halten." Dieses rechte Maß ist es, was an Richard Louries Biographie am meisten beeindruckt. Obwohl sich Lourie - wie aus seiner Danksagung hervorgeht - auf viele Fachleute beruft, sei eine Anmerkung gestattet: Auf Seite 451 schreibt er, dass Breshnews Gesundheitszustand so schlecht gewesen sei, "daß Gerüchte kursieren, der berühmte Wunderheiler Dshuna behandle ihn". "Der Wunderheiler Dsuhna", der Breshnew tatsächlich behandelte, war eine Frau! Ich interviewte die berühmte Assyrerin1986 in ihrer Moskauer Wohnung auf dem Arbat. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * 2009 erhielt die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" den Sacharow-Preis des Europaparlaments. ** Die russische Dissidentin Jelena Bonner, die Witwe des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow, ist am 18. Juni 2011 im Alter von 88 Jahren in Boston verstorben. Die langjährige sowjetische Bürgerrechtlerin und spätere Putin-Kritikerin wurde an der Seite ihres Mannes in Moskau beigesetzt.
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Am 22.11.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
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Sprichwort der Russen |
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