Buchreihe "Lebensbilder", Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse,
herausgegeben von Wolfgang Benz
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2005, 186 S.
"Ach, was
wir besitzen, achten wir wenig, und erst der Verlust läßt uns den wahren
Wert der Dinge erkennen. Liebe, kleine Bukowina! (...) In den Ausläufern
der Karpaten verborgen, könnte sie für ein Märchenland gelten." Wie sehr sehnt sich der
Verbannte Julius Wolfenhaut nach seiner heimatlichen Bukowina...
Die Bukowina ("Buchenwald") und ihre Bevölkerung war - ähnlich Bessarabien (Mitrofanow,
Der Zeuge) -
geschichtlich arg gebeutelt. Im Altertum war sie Teil der römischen Provinz Dakien, später des Fürstentums
Moldau. 1775
bis 1918 gehörte die Bukowina zu Österreich, war seit 1849 Kronland.
Durch den Vertrag von Saint-German kam die Bukowina 1919 an
Rumänien, im Juni 1940 der überwiegend
ukrainisch besiedelte Norden des
Landes an die Sowjetunion,
der Süden blieb bei Rumänien. 1940/44 war das
Land von hitlerfaschistischen und rumänischen Truppen besetzt, 1944 zog die
Sowjetarmee ein.
Julius Wolfenhaupt wurde 1913 in Czernowitz, der Hauptstadt der
Bukowina, geboren. Die Wolfenhauts waren zu jener Zeit recht wohlhabend,
der Vater besaß ein Schuhgeschäft. Die jüdische Familie Wolfenhaut -
aus Galizien stammend - gehörte zum deutschen Kulturkreis,
der unter Herrschaft der Donau-Monarchie eine Enklave hatte, die in
friedlicher Koexistenz mit Ruthenen, Rumänen, Ungarn, Polen, Slowaken
blühte "und nationale oder ethnische Zugehörigkeit - Deutscher,
Österreicher, Jude - nur als sekundäres Merkmal wahrnahm" (Wolfgang
Benz). Auch als die Bukowina nach dem Zusammenbruch des
österreichisch-ungarischen Imperiums an Rumänien fiel, blieb
das Bukowina-Deutsch den Eingesessenen geläufig. Julius Wolfenhaut erzählt im Prolog
seines Buches, dass nach der rumänischen Besatzung kein deutsches Wort
mehr fallen durfte, dass das Wort "Bakschisch" (Schmiergeld) nun Tür und
Tor in den Ämtern aufschloss, dass in den Hochschulen der Numerus
clausus eingeführt wurde, "der vor allem gegen die Juden gerichtet war.
Der Antisemitismus, der bis dahin nur latent gegärt hatte, wurde, nicht
ohne stillschweigende Billigung der offiziellen Kreise (...) zum offenen
Bekenntnis erhoben." Nach dem Abitur ging Julius Wolfenhaut zum
Studium nach Brünn, studierte Elektrotechnik und erwarb sein Diplom (als
Ingenieur) mit Auszeichnung. 1938/39 leistete er als einjähriger
Freiwilliger den Militärdienst in der rumänischen Armee. "Da wir als
Buko-Wiener nun einmal von der Wiener Leichtlebigkeit und vom Wiener
Blut etwas mitbekommen hatten", schreibt Wolfenhaut, "ließen wir wie
ehedem dem lieben Gott einen guten Mann sein, lebten und liebten..."
Nach dem Einmarsch der
Roten Armee Ende Juni 1940 wird Czernowitz -
das die Rumänen in Cernăuţi
umbenannt hatten - Tschernowzy heißen; die Bukowina war mit dem Hitler-Stalin-Pakt in die Einflusssphäre der
Sowjetunion geraten.
Sozusagen über Nacht änderten sich alle privaten und beruflichen
Perspektiven, die Familie Wolfenhaut brach auseinander; denn schon
am 31. Juli 1940 wird der Vater Nathan Wolfenhaut verhaftet, seine Frau
und sein Sohn werden ihn nie wieder sehen (Er war im berüchtigten Lager
Nr. P-246 umgekommen.)
Ein Jahr später beginnt die Deportation der
Juden. (Die Deutschen -
etwa 70 000 aus der sowjetischen Nordbukowina waren vorsorglich noch
1940 ins Reich heimgeholt worden, die Rumänen waren gleich zu Beginn der
Invasion sowjetischer Armee-Einheiten in ihre Urheimat geflüchtet, an
die Ruthenen machte man sich offenbar wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu den
Ukrainern nicht heran.) In Viehwaggons und
weiter mit dem Schiff auf dem
(chantischen) Fluss Wasjugan geht es ab
nach Sibirien.
Unterwegs erfahren die Deportierten vom Ausbruch des
Krieges. Julius Wolfenhaut und seine Mutter Pepi landen in dem Dorf
Stalinka, das Wolfenhaut später ein "schreckliches KZ ohne
Stacheldrahtumzäunung" nennen wird. "Taiga! Die Gegend war mir derart
fremd, dass ich mich auf einen anderen Planeten versetzt glaubte." Hier
werden die Deportierten ausgesetzt - in notdürftige Unterkünfte, bei notdürftiger
Nahrung. Die Dorfbewohner sind ehemalige Kulaken, die in den dreißiger
Jahren hierher verbannt wurden. "Einstweilen erhielten wir noch den `Pajok´
- unsere 500-Gramm-Brotration -, den wir für unser Geld kaufen durften.
Noch konnten wir uns kümmerlich ernähren, noch tat der Hunger nicht
allzu weh, noch ahnten wir nicht, was kommen sollte." Als der Winter
einsetzt, wird die Arbeit im Kolchos eingestellt, jeder ist sich
jetzt selbst überlassen. Am 6. Oktober 1942 stirbt
die Mutter Hungers. Julius Wolfenhaut schreibt: "Eine völlige Apathie
hatte sich meiner bemächtigt; alle Gedanken kreisten immer um ein und
denselben Punkt - essen, essen. (...) Es klingt ketzerisch, ist aber
wahr: Meine Mutter hat mir zweimal das Leben geschenkt - das erste Mal,
als sie mich gebar, das zweite Mal, als sie starb: Für Mutters Mantel
und andere Kleidungsstücke konnte ich einige Eimer Kartoffeln erstehen."
Auf Grund einer Verfügung, in der festgelegt war, dass Verbannte mit
Fachbildung Stalinka verlassen dürfen, gelangt Wolfenhaut nach
Nowo-Wassjugan, er arbeitet als Normensachbearbeiter. Eine neuerliche
Verfügung erlaubt es 1944 Verbannten mit Fachbildung, sich in der
Gebietshauptstadt Tomsk niederzulassen. Wolfenhaut gelangt nach
Dserschinski, einem Tomsker Vorort. Es beginnt für ihn ein neuer
Lebensabschnitt: Er wird Lehrer für Mathematik, Physik und Zeichnen in
einer Arbeitskolonie für minderjährige männliche Kriminelle. Er ergreift
den Beruf, der zu seinem Lebensberuf werden sollte. "Lehrer sein war
wohl meine eigentliche Berufung im Leben: Meine Anlagen -
Einfühlungsvermögen, Scharfblick und vor allem Humor- prädestinierten
mich geradezu dafür." Mit der Zeit eroberte er sich Vertrauen und
Zuneigung seiner Zöglinge.
1947 wird eine neue Verordnung erlassen, die besagt, dass alle
Verbannten dorthin zurückmüssen, woher sie gekommen sind. Nach Stalinka
- "Ort des Schreckens und des Grauens". Im Jahre 1947, erfuhr Wolfenhaut
viele Jahre später, "hatte (...)
Stalin, der
sich als `Genius der Menschheit"
glorifizieren ließ, eine zügellose Kampagne gegen die Juden gestartet,
die landesweit in harte Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung, vor
allem gegen die Intellektuellen, ausartete.
(...) Im Januar 1948 wurde
Michöels (berühmter
jüdischer Schauspieler)
auf Befehl Stalins
ermordet". (Alexander Borschtschagowski
schreibt über Michöels
und das Jüdische Antifaschistische Komitee in seinem Buch
"Orden für
einen Mord".) Wolfenhaut gelingt es mit Beziehung und Glück
in Teguldet wieder eine Lehrerstelle zu bekommen. Eine Woche nach seinem
vierzigsten Geburtstag heiratet er eine russische Lehrerin. "Das
Geschick hatte mir eine liebe, gute Frau zur Seite gestellt und mit ihr
kamen Freude, Ordnung und Lachen ins Haus." Und es wurden zwei
Jungen geboren...
1956 wird Julius Wolfenhaut von der Kommandantur "losgesprochen",
aber nicht rehabilitiert. Es ist ihm nicht erlaubt, in seine Heimatstadt
zurückzukehren. Er siedelt mit seiner Familie nach Tomsk über und ist
dort fünfundzwanzig Jahre lang als Lehrer tätig. Dann kam der Tag, "der
mir nach langen, langen dreiundfünfzig Jahren, die ich in
Sibirien
durchlitten hatte, die Erlösung brachte: Wir erhielten die
Aufenthaltserlaubnis!" Am 10. August 1994 landet die Familie in
Deutschland. "Ich war siebenundzwanzig, lebensfroh und voller stolzer
Zukunftspläne, als das bolschewistische Unheil über uns hereinbrach. Als
kraftloser Greis kehrte ich mit einundachtzig Jahren nach Europa
zurück." Julius Wolfenhaut lebt in Regensburg.
Obwohl Julius Wolfenhaut in der Verbannung seine Mutter verlor und
selbst Schauderhaftes erlebte, schreibt er: "Hier will ich anmerken,
dass mir in der Verbannung durchaus nicht nur Böses widerfahren ist.
Böse ist nur das System; die Menschen an sich, soweit sie das System
nicht pervertiert hat, sind hilfsbereit und gut. Ich habe in
Sibirien
unter meinen Kollegen, Bekannten, Schülern viele wahre Freunde gefunden
und behalte sie in guter Erinnerung."
Die Buchreihe "Lebensbilder" ist mir schon durch Umanskijs Buch
"Jüdisches Glück" bekannt. Wie jenes ist auch dieses Buch mit "jüdischen
Erinnerungen und Zeugnissen" gut geschrieben, gut lektoriert und
gut korrigiert - solide herausgegeben von Wolfgang Benz. Außerdem bringt
Nach Sibirien verbannt neue Erkenntnisse über einen bislang
vernachlässigten Teil der Verfolgungsgeschichte der Juden.
|
- Sabine Adler, Russenkind. Eine Tochter auf der Suche nach ihrer Mutter.
- Tschingis Aitmatow, Kindheit in Kirgisien.
- Ellen Alpsten, Die Zarin.
- Anton Bayr, Vergessene Schicksale. Überlebenskampf in sowjetischen
Lagern - ein Kriegsgefangener erinnert sich.
- Nina Berberova, Ich komme aus St. Petersburg.
- Ivan Bunin,
Čechov, Erinnerungen eines Zeitgenossen.
- Juliet Butler, Masha & Dasha. Autobiographie eines siamesischen Zwillingspaares.
- E. H. Carr, Romantiker der Revolution. Ein russischer
Familienroman aus dem 19. Jahrhundert.
- Alexandra Cavelius, Die Zeit der Wölfe.
- Marc Chagall, Mein Leben.
- Jerome Charyn, Die dunkle Schöne aus Weißrußland.
- Kurt Drawert / Blaise Cendrars, Reisen im Rückwärtsgang.
- Werner Eberlein, Geboren am 9. November.
- Irina Ehrenburg, So habe ich gelebt. Erinnerungen aus dem 20. Jahrhundert.
- Ota Filip, Das Russenhaus.
- Natalija Geworkjan / Andrei Kolesnikow / Natalja Timakowa, Aus erster Hand. Gespräche mit Wladimir Putin.
- Natalia Ginzburg, Anton Čechov, Ein Leben.
- Michail Gorbatschow, Über mein Land.
- Friedrich Gorenstein, Malen, wie die Vögel singen. Ein Chagall-Roman.
- Friedrich Gorenstein, SKRJABIN.
- Daniil Granin, Das Jahrhundert der Angst. Erinnerungen.
- Madeleine Grawitz, Bakunin. Ein Leben für die Freiheit.
- Viktor Jerofejew, Der gute Stalin.
- Jewgeni Jewtuschenko, Der Wolfspass. Abenteuer eines Dichterlebens.
- Kjell Johansson, Gogols Welt.
- Michail Kalaschnikow (Mit Elena Joly), Mein Leben.
- Wladimir Kaminer, Russendisko.
- Wladimir Kaminer, Militärmusik.
- Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
- Jelena Koschina, Durch die brennende Steppe.
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- Gidon Kremer, Zwischen Welten.
- Anna Larina Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig.
Erinnerungen.
- Richard Lourie, SACHAROW.
- Klaus-Rüdiger Mai, Michail Gorbatschow. Sein Leben und seine
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- Andreas
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- Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert. Autobiographie.
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- Ingeborg Ochsenknecht, "Als ob der Schnee alles zudeckte". Eine
Krankenschwester erinnert sich. Kriegseinsatz an der Ostfront.
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- Alexander Rahr, Wladimir Putin. Der "Deutsche" im Kreml.
- Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
- Anatoli Rybakow, Die Kinder vom Arbat.
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- Helga Slowak-Ruske, Rote Fahnen und Davidstern.
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und Liedersänger Wladimir Wyssozki).
- Erika Voigt / Heinrich Heidebrecht, Carl Schmidt - ein Architekt
in St. Petersburg 1866-1945.
- Solomon Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch.
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