Belletristik REZENSIONEN | |
Beziehungsgefüge - lakonisch und doch poetisch | |
Andrej Dmitriew | Russe |
Die Flussbiegung | |
Aus dem Russischen von Tatiana Frickhinger-Garanin edition suhrkamp 2178 Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2000, 107 S. | |
In dieser Erzählung (Novelle wäre zutreffender) geht es nicht eigentlich
um den "Mann mit der schweren Wolljacke", auch nicht um die "Frau im
schwarzen Regenmantel", auch nicht um den Arzt Snetkow, nicht um den
lungenkranken Jungen Smirnow im Sanatorium auf dem Berg und auch nicht
um dessen Vater, sondern es geht um die Macht des Vergangenen und
Verlorenen, die neue Lebenspläne verhindert.
Der Mann und die Frau sind im selben Bus unterwegs zum Berg, wo es ein Museum gibt und eine Kirche mit Fresken und ein Sanatorium für lungenkranke Kinder. Der Leiter des Sanatoriums, der Arzt Snetkow, hat den kranken Jungen angewiesen, sich an einem sicheren Ort zu verstecken, damit er ihn nicht seinem Vater übergeben muss, wenn er ihn abholen kommt. Der Arzt will ihn wegen der zerrütteten Familienverhältnisse nicht herausgeben; denn das letzte Mal hatte sich Smirnows Krankheit nach einem Besuch bei den Eltern verschlimmert. Doch als ihn - wie vereinbart - die Trompete ruft, kommt der Junge nicht aus seinem Versteck. Alle suchen ihn: das Pflegepersonal, die Kinder, die Miliz. Smirnow bleibt verschwunden. Der Leser weiß indessen, dass er sich am Steilufer des Flusses befindet und sich an einen anderen Fluss erinnert. Damals hatte ihn der Vater zum Fischen mitgenommen, und anschließend wurde er krank, und das "Leben auf dem Berg" begann. Als der "Mann in der schweren Wolljacke" und die "Frau im schwarzen Regenmantel" (die jung und schön ist, wie Smirnow aus seinem Versteck erspäht) mit dem Bus zurückfahren, er schlafend an ihre Schulter gelehnt, kennen sie noch immer nicht ihre Namen, aber viel Vergangenes und Verlorenes aus ihrer beider Leben. Manchmal wird man durch die Erzählung an Thomas Manns "Zauberberg" erinnert. In welcher Zeit spielt eigentlich Die Flussbiegung? Vom Erzählstil und Erzählton her erinnert die Geschichte an Texte vom Ende des 19. Jahrhunderts. Anfangs ist wenig davon zu spüren, dass die Erzählung in der Gegenwart spielt. Aber dann merkt man doch an vielen Details (z. B. ist von Greenpeace die Rede), dass der Text postsowjetische Gegenwartsliteratur ist. Ein Satz in Die Flussbiegung ist mir durch und durch gegangen: "Sie (die "Frau im schwarzen Regenmantel") wandte ihren Blick vom Vogel zum Jäger und erblickte in dessen Augen mit Erstaunen nicht raubgierigen Eifer, sondern dieselbe Zärtlichkeit; während er dem Vogel in die Augen sah, zitterte er ebenso ungeduldig, atmete nicht, dann zog er die Luft ein und schoß." Andrej Dmitriews Sprache ist lakonisch und doch poetisch, wenn er die Beziehungsgefüge der handelnden Personen beleuchtet. Seine Beobachtungsgabe und seine Darlegung der feinsten Seelenlagen sind beeindruckend. Dmitriew, 1956 in Leningrad geboren, Absolvent der Russischen1 Staatlichen Hochschule für Filmkunst, ist Schriftsteller und Drehbuchautor, der an die besten Traditionen der russischen Altmeister von Tschechow bis Platonow anknüpft. Von den russischen Medien wird er bereits als Klassiker gefeiert. Seine Werke Die Flussbiegung, "Das geschlossene Buch" (2000), "Der Weg zurück" (2002) sind ins Italienische, Tschechische und Deutsche übersetzt. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums und erhielt den Großen Apollon-Grigorjew-Preis. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Die (etwa 137,4 Millionen) Russen
leben in der Russländischen Föderation/Russland; die Hauptstadt ist
Moskau. Das Russische ist die von den meisten Menschen gesprochene
ostslawische Sprache. Die ältesten Sprachdenkmäler der Russen stammen aus dem
11. Jahrhundert. Die gläubigen Russen sind orthodoxe Christen. | |
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Am 10.06.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Wenn ein Älterer flucht, fängt auch ein Jüngerer zu raufen an. | |
Sprichwort der Russen |
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