Belletristik REZENSIONEN |
Warum Dichter im Sommer barfuß gehen sollten...
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Elena Guro |
Russin |
Lieder der Stadt |
Prosa und Zeichnungen
Aus dem Russischen und herausgegeben von Peter Urban
Friedenauer Presse, Berlin 2003, 32 S.
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Ich entdeckte Elena Guro (1877-1913) in den
mir inzwischen besondern lieb gewordenen Bänden "Dichtungen russischer
Maler" und "Zeichnungen russischer Dichter" (material-Verlag, Hamburg
1998), in der "Dampfbetriebenen Liebesanstalt" (übertragen von Alexander
Nitzberg, "eines ausgezeichneten Kenners der russischen Dichtung jener
Zeit", sagt der Tschuwasche Gennadi Ajgi, einer der Bedeutenden der
Gegenwartslyrik), und in dem äußerst informativen Bändchen der
Edition Nautilus, Hamburg 2001 "Eine Ohrfeige für den öffentlichen
Geschmack". Elena Guro (eigentlich Eleonora Notenberg) gehörte als eine
der vielen Doppelbegabungen im Bereich des Malerischen wie des
Literarischen in den Kreis um Vasilij
Kandinskij, David Burliuk,
Wladimir
Majakowski, Velimir Chlebnikow, Alexej Kručenych...;
sie war die einzige weibliche Vertreterin des russischen
Futurismus.
Ihre Petersburger Wohnung
an der Pessotschnaja-Straße und ihre Datscha in Karelien wurden zum
"Stabsquartier" der Kubofuturisten.
Die Guro war verheiratet mit Michail Matjuschin - 1861-1934 -, bekannt
als Maler, Komponist und Kunstpädagoge. Chlebnikow (acht Jahre jünger als
Elena) und Majakowskij (fünfzehn Jahre jünger als sie) verehrten sie; beide wurden nur
ein Jahr älter als sie: Chlebnikow starb 1922 den Hungertod, Majakowskij
gab sich 1930 die Kugel.
Elena Guro, 1877 in St. Petersburg geboren, entstammte einer alten
Adelsfamilie und begann schon mit acht Jahren zu zeichnen und zu
schreiben. 1904, da ist sie siebenundzwanzig Jahre alt, erscheint
ihre erste Buchveröffentlichung "Der Leierkasten" mit Prosatexten,
Gedichten und Stücken. Sie wurde ein Ladenhüter. In den Jahren, die ihr noch zum Leben bleiben (Sie stirbt mit
sechsunddreißig Jahren an
Leukämie) veröffentlicht sie den Sammelband "Himmlische Kamelkinder",
das Stück "Herbstlicher Traum" und die Märchenprosa "Der arme Ritter".
Elena Guro lässt sich kaum einordnen. Einerseits ist sie dem Symbolismus und dem
Futurismus verpflichtet, andererseits erscheint sie völlig eigenständig.
"Mit ihrem schwebend-leichten Ton streift sie Kindliches und
Märchenhaftes, romantische Sehnsüchte und die Zeiten der Zeit. Alexander Blok hat ihr ebenso Tribut gezollt
wie die Tribune der futuristischen
Revolution." (Ilma Rakusa) In Literaturgeschichten wird sie heute kaum
erwähnt.
Nun hat die Friedenauer Presse der Elena Guro ein eigenständiges
Bändchen gewidmet - mit einer sehr feinsinnigen Auswahl von Peter Urban.
Lieder der Stadt enthält Prosa und einige Gedichte (Regenschauer,
Regenschauer/Rauschen vorbei, rauschen vorbei./Regenschauer -
Regenschauer, leichte Winde - Winde/Tauscheln, tuscheln, tuscheln - /Rauscheln.),
ergänzt durch Zeichnungen. Elena Guro war eine überzeugte
Anti-Urbanistin. "Was sie der Stadt abgewinnt, gleicht einem
impressionistisch hingetupften Tableau". (Ilma Rakusa) Doch nicht die
Stadt, durch die sie staunend-naiven Auges geht, sondern die Natur ist
Guros eigentliches Element: "Geheimnis -
Es gibt ein sehr ernstes Geheimnis, das man den Menschen nicht
verraten sollte.
Wir, Träumer von Gottes Gnaden,
wir verhängen ein Verdikt!
Alle Dichter, Schöpfer, künftiger Zeichen, haben barfuß zu gehen,
solange die Erde sommerlich ist. Unsere Füße sind noch unschuldig
und unberührt, und werden am ehesten entzückt sein. Unter den bloßen
Füßen der feste salzige Sand, wie leicht gefroren, und nur zwischen den
Zehen quellen bald kalte bald warme kleine Ströme hervor. Mit nackten
Füßen unterhält sich die Erde. Unter nackten Füßen singt das Brett von
Wärme. Nur so erkennt man die geliebte Nähe zu ihr.
Das ist der Grund, weshalb Dichter im Sommer unbedingt barfuß gehen sollten."
Von all ihren Prosatexten ist mir "Vasja" der liebste. Warum? Ich mag
ihre scheinbare Naivität, ihre kindliche Ausdrucksweise. Unbedarft, auch
das bescheinigt dieser Text, ist sie deshalb noch lange nicht. Peter
Urban zitiert in seinem Vorwort Gennadij Ajgi, der einmal sagte,
Russland habe im 20. Jahrhundert nicht zwei große Dichterinnen
hervorgebracht - gemeint
sind Anna Achmatowa und
Marina Zwetajewa
-, sondern drei. Die Dritte im Bunde sei Elena Guro, eine der
meistverkannten und zu Sowjetzeiten weitgehend verschwiegenen Autorinnen. Erst seit einiger Zeit wird Elena Guro
allmählich wiederentdeckt.
(Angemerkt sei, dass Gennadij Ajgi seiner
Nationalität nach kein Russe ist, wie überall geschrieben steht, sondern
Tschuwasche - was er mir auf meine diesbezügliche Frage während einer
Veranstaltung des Internationalen Literaturfestivals 2003 in Berlin
bestätigte; er starb 2006.)
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Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
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Am 10.02.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
20.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |