Dog Pawlow, Wasja Kommunist und der Ich-Erzähler Zhadan - jeder
neunzehn Jahre alt, arbeitslos, ständig alkohol- und grasvernebelt -
sind Freunde. Zu dieser Dreier-Clique gehören auch Sascha Zündkerze,
Kakao und andere "durchgedrehte Comic-Helden" mit
No-Future-Stimmung. Sie durchzechen Tag und Nacht, saufen und kotzen
und reden allenfalls über Frauen und Sex.
Zhadans Romandebüt Depesche Mode besteht aus einem
Einführungskapitel über sich selbst, vier Prologen, einem ersten
und zweiten Teil und vier Epilogen - eine sehr ungewöhnliche literarische Form,
sozusagen ein Montage-Roman, absatzweise der ganze Text in
Kleinbuchstaben.
In seiner Einführung erzählt der Autor über sich: dass er sich mit
vierzehn Jahren das erste Mal vollaufen ließ und das Leben in den
folgenden fünfzehn Jahren ätzend und undankbar war: "Hab mich aber
trotzdem nie beschwert, klar, alles okay mit meinem Leben, trotz
seiner krankhaften Arschigkeit. (...) Mir paßte das Land, in dem ich
lebte, paßte die Menge Scheiße, mit der es gefüllt war und die mir
in den kritischsten Momenten meines Daseins (...) bis etwas übers
Knie reichte (...) mit Kotzbrocken an der Macht." Man sollte nicht
alles, was der Autor Zhadan über sich sagt, für bare Münze nehmen, denn
sein Ich ist hier wohl eher fiktiv.
Jedenfalls machen sich die drei trunkenen Freunde auf die Suche
nach ihrem Kumpel Sascha Zündkerze. Schließlich haben sie seinem
Onkel Robert versprochen, Sascha zu informieren, dass sich sein
einbeiniger, meist besoffener Stiefvater erschossen hat; Saschas
Mutter wünscht sich, dass der Sohn zur Beerdigung kommt. Aber wo
treibt er sich rum? Der Roman - deren Form und Inhalt der Autor als
postproletarischen Punk bezeichnet - wird ausschließlich aus der
Perspektive der drei angesäuselten Freunde erzählt.
Zhadans schräge Story spielt in der zweitgrößten Stadt der
Ukraine, im
avantgardistischen Charkow (Charkiv). Zu Lesebeginn treffen sich
(1993) - der Sozialismus ist passé, der
Manchesterkapitalismus beginnt - sowjetische Kriegsveteranen und
neureiche "biznesmeny", um einem amerikanischen Erweckungsprediger
zu lauschen. Das Jugendradio der ostukrainischen Metropole bringt in
Kooperation mit London ein Feature über die irische Musikgruppe
"Depesche Mode"* und die Rolle der Mundharmonika beim Kampf gegen
kapitalistische Unterdrückung. Das ist einer der wenigen amüsanten
Texte in Depesche Mode, nämlich wie eine "Tussie" (diese "fucking Fotze") sehr
frei und nicht immer sinnerhaltend die "Predigerscheiße" des
"grinsenden amerikanischen Arsch-Gesichts" übersetzt. Dann führt die
Suche der drei Freunde (nach Kakao oder nach dem Glück?) sie auf ein verfallendes Fabrikgelände (das
"in Schutt und Scheiße" liegt), wo sie eine Molotow-Büste klauen, ins
Romaviertel zu einem Dealer und schließlich per Nahverkehrszug
(in ihrem Abteil riechen alle "meterweit nach Sperma und Shit") zum
Pionierlager "Chemiker" gelangen, wo Zündkerze als Betreuer
arbeitet. Beschrieben werden nach einem minutengenauen Zeitprotokoll
- mit ausufernden Monologen, absurden Dialogen, melancholischen
Ortsbeschreibungen, slapstickartigen Szenen - vier Tage und Nächte.
Das ganze ein Panorama der Hoffnungslosigkeit: "Ich glaube nicht an
das Gedächtnis, glaube nicht an die Zukunft, glaube nicht an die
Vorsehung, nicht an den Himmel, nicht an Engel, ich glaube nicht an
die Liebe, nicht mal an Sex glaube ich - Sex macht dich einsam und
verletzlich, ich glaube nicht an Freunde, glaube nicht an Politik,
glaube nicht an die Zivilisation, okay, um es weniger global
anzugehen - ich glaube nicht an die Kirche, glaube nicht an soziale
Gerechtigkeit, glaube nicht an die Revolution, glaube nicht an die
Ehe, glaube nicht an Homosexualität, glaube nicht an die Verfassung,
nicht an die Heiligkeit des Papstes, sogar wenn mir jemand die
Heiligkeit des Papstes beweisen würde, ich würde nicht daran glauben
- aus Prinzip nicht." Glücksmomente - so scheint es - sind nur in der
Musik zu finden (was wohl auch den Buchtitel erklärt).
Aus Interviews und durch Lesungen weiß man über Serhij Zhadan - ein
schlanker Mann mit wippendem Pferdeschwanz; 2007 wurde ihm der
Burda-Preis für osteuropäische Lyriker zugesprochen - dass er
fünfunddreißig Jahre alt ist. Nicht einmal seine Freunde wissen, ob er Geschwister
hat, was seine Eltern von Beruf sind. Auch was ihn mit zwanzig
Jahren von zu Hause fortgetrieben hat, darüber schweigt er sich aus
- seine acht Lyrik- und vier Prosabände geben ebenfalls keine
Auskunft. Fest steht, dass Serhij Zhadan - im Gebiet Starobilsk
(Ostukraine) geboren, Studium der Germanistik und Promotion über den
ukrainischen Futurismus - in seiner Heimat ein Star-Autor ist. Wenn
er seine Gedichte oder Geschichten liest, sind Kneipen und Stadien überfüllt (wie einst bei
Jewgeni Jewtuschenko). Sein Name wird in einem Atemzug genannt mit
Ljubko Deresch,
Andrej Kurkow und Juri
Andruschenko, der über ihn sagt: "Zhadans Literatur ist das
alternative Kino, die alternative Musik, das alternative Theater,
das uns fehlt. Überhaupt ist sie eine Alternative zu allem, was als traditionell
ukrainisch gilt."
Für mich liest sich Zhadans innerhalb von fünf Monaten geschriebene
Idylle aus absoluter Trostlosigkeit und reinem Wodka als habe er sie
unter Einwirkung einer großen Portion Hasch geschrieben. Aber
vielleicht sollte ich mich - Jahrgang 1938 - mit meiner Meinung zu
dieser Art Literatur tunlichst zurückhalten --- zumal die von mir
sehr geschätzte Schweizer Literaturwissenschaftlerin,
Schriftstellerin und Literaturübersetzerin
Ilma Rakusa
- Jahrgang 1946 - ergriffen jubelt: "Was für ein Buch!" und den Autor
begeistert einen
"ukrainischen Rimbaud"** nennt. "Das Literaturportal" hingegen -
vielleicht liege ich ja doch nicht ganz falsch - mäkelt, dass "der
Roman sich über weite Strecken kaum unterhaltsamer liest als ein
deutscher Steuerbescheid". So gibt Zhadan zum Beispiel über gefühlte
120 Seiten Hinweise, wie man einen Molotowcocktail bastelt, wozu
Knallvaseline zu gebrauchen ist, wie man eine Gasbombe herstellt,
wie man Plastikbrennstoff fertigt, wie französisches Ammonal,
Tritruol, Amatol, Astrolit, Knallquecksilber, Nitroguanidin,
Thermit, Superthermit und schließlich wie man eine Hausbombe
herstellt, "ohne die Aufmerksamkeit des volksfeindlichen Regimes auf
sich zu ziehen".
Hut ab vor den Übersetzern Juri Durkot
und Sabine Stöhr, die ja schon mit einem anderen
durchgeknallten ukrainischen Autor, mit
Ljubko Deresch,
Übersetzererfahrungen gesammelt haben...
Übrigens: Wenn Serhij Zhadan mit seiner Literatur 100 000 Dollar
verdient haben wird, werde er, so sagte er in einem Interview, "ein
altes Pionierlager bei Charkiv kaufen und dort zweihundert Punks
ansiedeln. Tagsüber werden sie nützliche Arbeit verrichten, zum
Beispiel Rote Rüben sammeln, und abends werden sie `Sex Pistoles´
hören."
Ist Serhij Zhadan wirklich zu wünschen, mit seiner Literatur 100 000 Dollar
zu verdienen?
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