Belletristik REZENSIONEN | |
Einen Schutzbrief für den Autor | |
Iwan Bunin | Russe |
Liebe und andere Unglücksfälle | |
Novellen Aus dem Russischen von Erich Ahrndt, Charlotte Kossuth, Georg Schwarz und Ilse Tschörtner Mit einem Dossier zu Bunins Leben und Werk von Rainer Wieland Einhundertzweiundneunzigster Band der ANDEREN BIBLIOTHEK, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2000, 399 S. | |
Liebe und andere Unglücksfälle enthält dreißig Novellen. In fast jeder Geschichte geht es um Frau und
Mann, mal handelt es sich um glückliche, meist um unglückliche Liebe, oft
um Erotik, manchmal auch um Sex mit Prostituierten. Bunin schrieb
diese Geschichten in der Zeit von 1916 bis 1944 - eine Spanne von achtundzwanzig
Jahren, in denen der Autor ein ereignisreiches Leben führte. 1870 als
Sohn eines Gutsbesitzers geboren, erfolgt ein Jahr nach seinem Austritt aus dem
Gymnasium seine erste literarische Veröffentlichung in der Zeitschrift "Rodina"
(Heimat). 1894 macht Bunin die Bekanntschaft von
Lew Tolstoj und lernt
1899 Maxim Gorki kennen, bei dem die Bunins die Winter der Jahre
1911, 1912 und 1913 auf Capri verbringen. Bunin ist all die Jahre
literarisch tätig, schreibt Gedichte, Prosa und erhält Auszeichnungen.
Vor allem schreibt er Dorfgeschichten, die zur Idylle neigen und ein
lyrisch geschöntes Bild vom Landleben bieten. 1915 erscheint seine
Erzählung "Der Herr aus San Franzisko", die ihn in ganz Europa bekannt
macht. "Der Dichter der Einsamkeit, der Sänger des russischen Dorfes
und des verarmten Adels" (Valentin Katajew) war dabei, zu einem der
größten Prosaisten Russlands zu werden.
Nach seiner Trennung von Anna Zakni (1900) - eine Griechin und Tochter des bekannten Revolutionärs und Emigranten N. P. Zakni - war er mit seiner neuen Lebensgefährtin Vera Nikolajewna Muromzewa in der Welt herumgereist. "Während wir die Sommer unverändert im Dorf verbrachten", schreibt Bunin, "widmeten wir die übrige Zeit fremden Ländern. Mehrmals war ich in der Türkei, an den Ufern Kleinasiens, in Griechenland, in Ägypten, reiste durch Syrien, Palästina, war in Oran, Algier, Constantine, Tunis und am Rande der Sahara, nahm Kurs auf Ceylon, durchquerte fast ganz Europa, besonders Sizilien und Italien (...), war in einigen Städten Rumäniens, Serbiens und kam von überall (...) zu euch zurück, ihr heimatlichen Steppen." Die Oktoberrevolution von 1917 lehnt Bunin entschieden ab, er beginnt ein Tagebuch der Revolutionszeit zu führen mit dem Titel "Verfluchte Tage". Sieben Monate nach Ausbruch der Revolution (1918) flüchten die Bunins von Moskau nach Odessa, das nach dem Frieden von Brest-Litowsk zunächst von deutschen und österreichischen Truppen besetzt war. Wie die anderen Moskauer Flüchtlinge warten sie vergeblich auf den Tag, an dem die Sowjetmacht bankrott machen würde, um wieder nach Hause zurückkehren zu können. Die Bunins sind auch 1919 in Odessa, als die Stadt im Frühling von Truppen der Roten Armee eingenommen wird und dort für einige Monate die Sowjetmacht herrscht. "Damals", schreibt Valentin Katajew, "war Bunin bereits durch seine konterrevolutionären Anschauungen, die er keineswegs verhehlte, so kompromittiert, dass man ihn ohne weiteres hätte an die Wand stellen können und ihn auch erschossen hätte, wäre nicht sein alter Freund, der Odessaer Maler Nilus gewesen, der im gleichen Haus wie die Bunins in einer Dachkammer wohnte." Dieser Nilus telegrafierte nach Moskau an Lunatscharski und flehte den Vorsitzenden des Odessaer Revolutionskomitees (...) an, Bunin zu schützen. Tatsächlich erhielt Nilus einen so genannten Schutzbrief für Leben, Eigentum und Sicherheit Bunins. Doch am 6. Februar 1920 besteigen die Bunins das Schiff "Dmitry", um Russland in Richtung Konstantinopel zu verlassen. In der Novelle "Das Ende" schreibt Bunin 1921: "Plötzlich erwachte ich ganz, plötzlich ging mir ein Licht auf: ja, das ist es, so ist es! Ich bin auf dem Schwarzen Meer, ich bin auf einem fremden Schiff, ich fahre aus einem bestimmten Grund nach Konstantinopel, mit Rußland hat es ein Ende, und alles, mein ganzes bisheriges Leben ist zu Ende, selbst wenn ein Wunder geschieht und wir nicht umkommen, diesem bösen eisigen Abgrund entkommen. Wie war es nur möglich, daß ich das nicht eher gesehen, nicht eher begriffen habe?" Nach einem kurzen Aufenthalt auf dem Balkan lassen sich die Bunins in Paris nieder. Die verbleibenden dreiunddreißig Jahre seines Lebens verbringt Iwan Bunin im Exil in Frankreich, oft bettelarm und zeitweise "unbekannter als Nina Berberova", schreibt Boris Nossik. Er berichtet in seiner Nabokov-Biographie auch davon, dass Konstantin Simonow (von Stalin?) die Mission übertragen bekommen habe, den bettelarmen Bunin zur Rückkehr nach Russland zu bewegen. 1933 wird dem inzwischen bekannten Schriftsteller endlich Anerkennung für sein Lebenswerk zuteil; ihm wird der Nobelpreis für Literatur zuerkannt - als erstem russischem Schriftsteller. Und das erste Mal seit der Stiftung des Nobelpreises wurde der Preis einem Vertriebenen zuerkannt. Bunin: "Gewöhnlich ist die Estrade mit den Fahnen der Staaten geschmückt, zu denen die Preisträger gehören, doch welche ist meine Fahne als Emigrant? Die Unmöglichkeit, für mich die sowjetische Fahne aufzuhängen, zwang die Ausstatter der Feier dazu, sich meinetwegen auf eine einzige Fahne zu beschränken - die schwedische. Ein nobler Gedanke!" Anatoli Rybakow lässt Stalin anlässlich der bevorstehenden Gründung eines Schriftstellerverbandes in seinem "Roman der Erinnerung" sinnieren: "Bunin. Was hatte er erreicht? Hatte den Nobelpreis im Alter von zweiundsechzig Jahren erhalten, aber wer interessierte sich schon für ihn? Wer las Bunin? Er würde unbekannt in seinem Paris sterben; alle würden sie dort sterben und in der russischen Literatur keine Spuren hinterlassen." Doch: Seit 1965 erschien eine auf neun Bände angelegte Ausgabe der Gesammelten Werke Bunins in Moskau; 1993 wurde in Russland1 eine erweiterte Werkausgabe verlegt, 1998 eine Edition der Publizistik Bunins aus der Exilzeit. Neben Vladimir Nabokov gilt Iwan Bunin - einer von Nabokovs Lieblingsschriftstellern - heute als der bedeutendste Autor der russischen Emigration. Bunin starb 1953, dreiundachtzigjährig, Vera Bunina stand ihm all die Jahre treu und hilfreich zur Seite. Von Nossik wird sie als naiv, grundgütig und tolerant charakterisiert. Wusste sie, dass ihr Mann eine Geliebte hatte? Seine Sekretärin Galina Kuznezowa, die ihn später wegen Marga Stepun verließ. Ich wüsste nicht, dass ein solcher untraditioneller Treuebruch in der traditionellen Literatur schon "verarbeitet" wurde; ein solcher Roman wartet noch auf seinen Schöpfer! Die vorliegenden Novellen Bunins von plötzlichen Leidenschaften und unerklärlichen Verbrechen wirken auch noch nach einem Menschenalter frisch und abgründig, sie stammen aus Bunins bester literarischer Zeit. Erfreulich und nicht gerade üblich, dass der Verlag alle Novellen aus Büchern der Gesammelten Werke in Einzelausgaben des Aufbau-Verlages nahm ("Dunkle Alleen" und "Der Kelch des Lebens"), damit auch die Qualität der vier Ostberliner Übersetzer anerkennend. Sechsundzwanzig Novellen schrieb "der bissige Bunin" (Nossik), ein Meister wahrer und tiefster Empfindungen, in der Emigration. Die Novellen in Liebe und andere Unglücksfälle lassen das algerische Constantine, kaukasische Kurorte und die Kajüten von Wolgadampfern in den lebendigsten und sattesten Farben erstrahlen, doch spielen die meisten Geschichten in Russland oder erwecken in irgendeiner Form Erinnerungen an die verlorene Heimat; diesmal ohne Rückkehr zu den heimatlichen Steppen. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de | |
Weitere Rezensionen zum Thema "Exilschriftsteller": | |
| |
Weitere Rezensionen zu "Nobelpreisträger": | |
| |
Weitere Rezensionen zu "Erzählungen, Geschichten, Kurzprosa": | |
Am15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Not lehrt den Schmied, Stiefel zu nähen. | |
Sprichwort der Russen |
[ | zurück | | | | | nach oben | ] |