Belletristik REZENSIONEN |
Von einem, der in der Sowjetunion einschlief und in der
unabhängigen Ukraine aufwachte...
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Andrei Kurkow |
Russe |
Myzelistan
...die globale Erwärmung an einem vereinzelt herausgegriffenen Punkt...
Aus dem Russischen von Judith Merkushew
Katzengraben-Presse, Berlin 2006, 40 S. |
Ich bin hingerissen!!! Sicherlich habe
ich als gelernte Buchhändlerin eine besondere Affinität zu Büchern.
Aber ich bin mir gewiss, Myzelistan* kann niemanden unberührt lassen. Weder der skurril-amüsante Inhalt des
Buches, noch seine ungewöhnliche bibliophile Ausstattung.
Der skurril-amüsante Inhalt: In dieser von Kurkow exklusiv für die
Katzengraben-Presse geschriebenen Geschichte wird Oleg aus der
ukrainischen Stadt
Uzgorod nach einer üppigen Whisky-Cognak-Nacht im besten Striptease-Club der Stadt als
"verdammter Demokrat" und "politischer Extremist" verhaftet und ins
berüchtigte Kiewer Lukjanowski-Gefängnis verbracht; angeblich hatte er
im Suff Wahlplakate von den Zäunen gerissen. Um sich hinter Gittern
sinnvoll zu beschäftigen, leiht er sich in der gut bestückten
Gefängnisbibliothek ein Finnisch-Lehrbuch für den Selbstunterricht aus
und den Band "Wie wird man Millionär?" - der ihn allerdings nichts
Neues lehrt. "Beim Gedankenflug landete Olegs musternder Blick auf
dem Holzfußboden seiner Zelle. Dieser war mit Flecken feinster
grünlichgelber Waldflechte überzogen." Als Oleg entdeckt, dass sich
in der "Nähe der kalten Wand auf moosiger Dielung moosige Pilzköpfe"
emporrecken, hat er die Idee, seine Frau Walja zu bitten, ihm ein paar
Stiegen Champignonmyzelien zu kaufen und sie ihm ins Gefängnis zu
bringen; denn er hatte beschlossen, eine Pilzzucht zu beginnen. (Wir
wissen schon z. B. aus Kurkows Erzählungsband "Herbstfeuer", wie sehr
der Autor Eigeninitiativen seiner Buchhelden zu schätzen weiß.) Oleg,
der im besten Einvernehmen mit dem Gefängniswärter (der eine Rollex am Handgelenk trägt!) lebt, wird ein sehr erfolgreicher
Pilz-Geschäftsmann. Sogar der Gefängnisdirektor, "ein moderner
Zeitgenosse mit aufkommendem Gerechtigkeitssinn", sucht den
erfolgreichen Pilzzüchter höchstpersönlich auf, "erklärte ihm
ausdrücklich, dass er schon immer ein Freund privater
Kleinstunternehmer" gewesen sei und verspricht die Abnahme der
Champignons durch die Gefängnisküche "zu normalen Marktpreisen" -
versteht sich. "Für Oleg zeichnete sich das Bild einer glänzenden
Geschäftsperspektive ab, doch vor den dicken Steinmauern siegte in
diesem Moment die Orangene Revolution." Am nächsten Morgen wird der
vermeintliche politische Häftling frei gelassen. Oleg ist unglücklich,
ihn beunruhigt das Schicksal der im Gefängnis verbliebenen
Champignons. Als die neue Macht in Kiew das Ruder in die Hand nimmt, weht ein neuer Wind.
"Als Erstes befahl der neue Präsident,
alle Zentralheizungen auf volle Arbeitsleistung umzustellen, auf dass
niemand mehr friere in seinem Land." Einige Tage später ruft der Gefängniswärter Oleg zu Hause an, um ihm
mitzuteilen, dass die Myzelien wegen der angekurbelten Heizleistung
allesamt vertrocknet seien, man habe sie wegwerfen müssen. Oleg ist erschüttert. Doch kurz entschlossen,
setzt der lernbesessene Oleg seinen im Gefängnis aufgenommenen
Finnisch-Selbstunterricht fort, schreibt der Finnischen Botschaft
einen Brief in finnischer Sprache und erhält umgehend eine Stelle als
... als was, wird nicht verraten.
Andrei [Andrej] Kurkow ist ein Meister des
grotesken Humors, oft mit bitterbösen Pointen. "Seine Liebe zum
Absurden, diese Gratwanderung zwischen Realismus und Surrealismus",
schreibt der Katzengraben-Verlag, "gleicht einem Wurzelwerk
sowjetischer Vergangenheit." Über den Autor Andrei Kurkow
habe ich in meinen Rezensionen zu Kurkow-Büchern
("Picknick auf dem Eis",
"Petrowitsch",
"Pinguine frieren nicht",
"Ein Freund des Verblichenen",
"Die letzte Liebe des Präsidenten",
"Herbstfeuer") schon einiges
berichtet. Im Buch Myzelistan steht jedoch ein so persönlicher
Text (vom Verleger Christian Ewald), dass ich ihn hier leicht gekürzt
wiedergebe: "Andrei Kurkow, mit russischer Muttersprache 1961 in Leningrad (heute:
St. Petersburg) geboren, nach exzellenter
sowjetischer Ausbildung lebt er als Kosmopolit in Kiew und London,
bereist die Welt und besucht in Paris neben den Cafés am liebsten
seine Zoo-Handlung am Ufer der Seine, die mit den großen Papageien. -
Mit acht Jahren beginnt er mit dem Schreiben - ein Musenkuß nach dem
tragischen Tod seiner freilaufenden Hamster; drei starben an einem
Übermaß an Freiheit, der vierte stürzte sich wohl aus Einsamkeit vom
Balkon des fünften Stockwerkes. - Eine riesige Kakteenzucht von 1 500
Sorten erleichtert ihm das Erlernen von Sprachen - Latein war
die erste -, inzwischen sind es elf. [Ob
auch Finnisch darunter ist?] - Schon mit seinen Büchern im Samisdat
reiste er zu Lesungen, eingeladen in Clubs und Keller, in die weit entfernten Winkel der
Sowjetunion. - Sein erster Roman erschien als
letztes Buch russischer Sprache in einem ukrainischen Staatsverlag,
die beiden folgenden verlegte er unter großen Schwierigkeiten auf
eigene Rechnung [und ließ auf einen Bus, der durch Kiew fuhr, in
großen Lettern die Behauptung aufdrucken, dass Kurkow ein
Bestseller-Autor sei - bevor das erste Buch überhaupt verkauft worden war]. -
1999 schaffte er es als erster postsowjetischer Schriftsteller im
Westen mit "Picknick auf dem Eis" (bei Diogenes) einen Bestseller zu
landen; weitere Bücher (...) folgten."
Der Katzengraben-Verlag
(www.katzengraben-presse.de) ist ein
Kleinstverlag, der seinen Sitz in Berlin-Köpenick in einem 1683
erbauten Haus hat: Katzgraben 14, 12555 Berlin. Zweimal im Jahr -
"wenn die Blätter fallen" - erscheint eine deutsche Erstausgabe, "manchesmal
auch zweisprachig" - wie Myzelistan russisch und deutsch.
Die ungewöhnliche bibliophile
Ausstattung: "Aus
handverlesenen Texten", sagt Christian Ewald, "entstehen handverlesene
Bücher, die - allesamt - noch im Bleisatz gesetzt, im Buchdruck
gedruckt und im Handeinband in japanischer Bindung von einmalig 999
limitierten Exemplaren [meines hat die Nummer 462] in besonderer
Ausstattung" erscheinen. Das erste gedruckte Buch der
Katzengraben-Presse war das ultimativ letzte Buch der DDR und wurde 1990
von der Stiftung Buchkunst in Frankfurt / Main "als eines der
schönsten deutschen Bücher mit dem Preis der Stiftung Buchkunst"
ausgezeichnet. Christian Ewald ist nicht nur der Inhaber und Verleger
der Katzengraben-Presse, sondern auch der Illustrator, Grafiker und
Gestalter der außergewöhnlichen Bücher. Jedes Buch aus
seiner Hand ist eine Überraschung; keine Ausgabe gleicht der
anderen. Bei Myzelistan hat sich Ebert in der oberen
rechten Ecke ein Daumenkino einfallen lassen, das dem Leser - wenn man
die eingeschnittenen Seiten von hintern nach vorne durch die
Finger gleiten lässt - zeigt, wie die Gitter vor dem Fenster einer
Gefängniszelle erst eingezogen und - nach der Orangenen Revolution -
entfernt werden. Myzelistan ist in zwei dicke graue, unbezogene
Pappdeckel eingebunden. Zu den 999 limitierten Buchausgaben kommen
jeweils noch 99 Vorzugs-Exemplare mit einer dreifarbigen
Buchdruck-Grafik "Carruousel" von Christian Ewald nebst einem gültigen
10 Griven-Geldschein aus der Ukraine. Die wertvollen Bücher stecken in
einer genähten und bedruckten Papiertüte mit schwarz-weißer
Illustration und orangefarbener Südfrucht, die in eine Gefängniszelle
gereicht wird. Nichts ist bei Ewalds
Katzengraben-Büchern dem Zufall überlassen, z. B. auch nicht das rote
"M" (zu Myzelistan) dass sowohl ein russischer als auch ein deutscher Buchstabe ist.
Apropos russisch / deutsch. Die sich sehr flüssig lesende Übersetzung
stammt von Judith Merkushew, 1975 in Berlin geboren, in Dresden lebend. Sie
studierte Slawistik und transkulturelle Germanistik (Was iimmer das
ist...). Sie, die seit
einigen Jahren für die Katzengraben-Presse tätig ist, traf den Autor
auf der Frankfurter Buchmesse - "und die Idee zu diesem Buche" (Dank
fürs Dativ-e!) war geboren", schreibt der Verlag. Nicht einmal
die Seitenzahlen werden von Ewalds Phantasie verschont; bei
Myzelistan sind sie in Fünfergruppen gestrichelt... Ich geniere
mich nicht zu gestehen, dass, als ich das einmalig-individuell
ausgestattete Myzelistan in Händen hielt, geradezu gerührt war. Dass es so etwas Schönes (und Kostbares) schwarz
auf weiß heute noch gibt - im Zeitalter von Fernsehen und Computer!
Ich hielt Myzelistan das erste
Mal in Händen zu einer Veranstaltung der Berliner Buchhandlung "Bei Saavedra",
als ich zu einer szenischen Lesung der deutschen
Erst-Ausgabe eingeladen war - gestaltet von und mit Christian Ewald,
der sich, über seine anderen Verlagstätigkeiten hinaus, auch noch als
Schauspieler entpuppte. Ein Multitalent. Als Requisiten hatte er eine
(nicht ganz maßstabgerechte) Gefängniszelle mitgebracht, eine Leiter,
eine gemalte Sonne, einen Stuhl mit herausgenommenem Sitz. In
eineinhalb Stunden las und spielte Ewald ("Ich habe Kurkow oft genug
auf Buchlesungs-Reisen begleitet.") mit Kurkowscher Stimme, seinem
unverkennbaren deutschen Akzent und mit unverwechselbarer Gestik die
absurde Geschichte Myzelistan vor. Da ich Kurkow schon des
öfteren persönlich gesehen und gehört habe, brauchte ich nur die Augen
zu schließen, um fest davon überzeugt zu sein, dass da vorne auf der
Bühne Andrei Kurkow selbst agierte.
Was für ein Autor, der mit seiner
bitterbösen Komik die Zuschauer zu Lachsalven hinreißt, was für ein
Verleger, der einmalig originell-schöne Bücher** macht und sie dann
auch noch in einmaliger Manier selbst vorträgt. |
Gisela Reller /
www.reller-rezensionen.de
* Myzel = Pilz;
Myzelistan = Ort der Pilze[?]
** Die Normalausgabe von Myzelistan
im Format 17,50 x 23 cm kostet 98,00 €, die Vorzugsausgabe 198,99 €.
| Weitere Rezensionen zum Thema "Ukraine":
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- Swetlana Alexijewitsch, Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft.
- Ljubko Deresch, Kult.
- Ljubko Deresch, Die Anbetung der Eidechse oder Wie man Engel
vernichtet.
- Wladimir Jaworiwski, Maria mit der Wermutspflanze. Roman um die
Havarie von Tschernobyl.
- Igor Kostin, Tschernobyl. Nahaufnahme.
- Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
- Wladimir und Olga Kaminer, Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus. Darin: Ukraine.
- Andrej Kurkow, Picknick auf dem Eis.
- Andrej Kurkow, Petrowitsch.
- Andrej Kurkow, Ein Freund des Verblichenen.
- Andrej Kurkow, Herbstfeuer. Erzählungen.
- Marina Lewycka, Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch.
- Alexander Pjatigorski, Erinnerung an einen fremden Mann.
- Reiner Riedler, Ukraine.
- Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
- Hans Thill (Hrsg.), Vorwärts, ihr Kampfschildkröten. Gedichte aus
der Ukraine.
- Semjon S. Umanskij, Jüdisches Glück. Bericht aus der Ukraine 1933-1944.
- Julia Wosnessenskaja, Der Stern Tschernobyl. Schicksal einer
Familie. Ein fast dokumentarischer Roman.
- Serhij Zhadan, Depesche Mode.
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Am 31.03.2008 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am
22.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
Pilze suche im Wald,
Disteln in der Wüste. |
Sprichwort der Ukrainer |
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