Belletristik REZENSIONEN | ||||||
Zwischen Ehrungen und Schmähungen | ||||||
Solomon Wolkow (Hrsg.) | Russe | |||||
Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch | ||||||
Aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth | ||||||
Propyläen Verlag, Berlin/München 2000, 439 S. | ||||||
Bis jetzt kannte ich
Schostakowitschs Ansichten aus Selbstaussagen
(Aufsätze, Erinnerungen, Reden, Diskussionsbeiträge, Interviews, Briefe,
erschienen im Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1983), aus einer
Biographie von N. W. Lukjanowa (Verlag Neue Musik, Berlin 1982) und aus
"Für Sie porträtiert" von Friedbert Streller (herausgegeben vom
Deutschen Verlag für Musik, Leipzig 1982). Nun legt der Propyläen Verlag
die bis heute umstrittene Schostakowitsch-Biographie von Solomon Wolkow
- 1944 in Leningrad
geboren - in einer bearbeiteten Neuausgabe vor.
Finden sich in erstgenannten Werken sowohl sehr interessante persönliche
Beiträge (zum Beispiel Schostakowitschs Erinnerungen an
Marschall Tuchatschewski
von 1965, in den jetzigen Memoiren um viele Fakten bereichert), so
finden sich auch im hölzernen Parteijargon abgefasste Reden, von denen nur den
Eingeweihten bekannt war, dass Schostakowitsch sie in der Regel nicht
selbst verfasst hatte. Er erhielt sie - als Präsident des
Komponistenverbandes - zum Absegnen. Er soll einmal gesagt haben, er
würde das Zeug auch unterschreiben, wenn man es ihm falsch herum hinhielte.
Dmitri Schostakowitsch, einer der großen Komponisten des 20. Jahrhunderts, wurde 1906 in Petersburg geboren, er starb 1975 als "ein engagierter Anhänger des Kommunismus und der Sowjetmacht" - wie die "Londoner Times" schrieb. Das stalinistische Regime hatte den Komponisten mit höchsten Ehrungen bedacht - darunter mit dem Lenin- und dem Stalinpreis -, aber auch mit wildesten Schmähungen. So veröffentlichte die "Prawda" am 28. Januar 1936 ohne Autorennamen den Artikel "Chaos statt Musik", in dem gnadenlos mit Schostakowitschs Oper "Lady Macbeth von Msenzk"* (vertont zwischen 1930 und 1932, uraufgeführt 1934) abgerechnet wurde. Ohne Autorennamen, das bedeutete, dass es die Meinung der Partei war, die Meinung von Stalin! "Der Artikel", schreibt Schostakowitsch, "veränderte ein für allemal meine Existenz." Eine Zeitung kündigte ein Konzert Schostakowitschs so an: "Es spielt der Volksfeind Schostakowitsch." In seinen Memoiren schreibt der große Komponist über seine ständige Angst. Nicht nur um sein Leben ("Wie viel Zeit zu leben habe ich noch?"), sondern auch um das Leben seiner Mutter, seiner Schwestern, seiner Frau, seiner Tochter und später seines Sohnes**. "Ich will nicht verhehlen, dass ich eine schwere Zeit durchlebte." (Schostakowitschs Oper kam 1960 in überarbeiteter Fassung wieder auf die Bühne.) Als 1979 in den USA von einem jungen Emigranten aus Leningrad, dem Musikwissenschaftler Solomon Wolkow, die von ihm aufgezeichneten Memoiren des Dmitri Schostakowitsch erschienen, gab es in der musikalischen Welt einen Aufruhr. Als Betrug wurde dieser "biographische Paukenschlag" gebrandmarkt; denn dieser Schostakowitsch hatte mit jenem angeblich linientreuen Staatskomponisten - wie ihn der Westen auch noch nach seinem Tode sah - nichts gemein. Eilig wurden von sowjetischer Seite Kommentare aus Schostakowitschs Familien- und Freundeskreis lanciert, die seinen Verfasser des Betrugs bezichtigten. Schostakowitschs dritte Frau stellte ebenso wie sein Sohn Maxim das Buch als eine Fälschung dar. Irina Antonowna Schostakowitsch: "Wolkow traf Dmitrich drei- oder viermal. Er war nie ein Freund der Familie, jemand, den man zum Essen einladen würde. Ich sehe keine Möglichkeit, wie er genug Material für ein solch dickes Buch (...) hätte sammeln können." Sie hat ihre Meinung bis heute nicht geändert. Der Sohn Maxim allerdings rückte nach seiner Emigration in den Westen 1981 nach und nach von seinen zuvor gemachten Äußerungen zum Buch Wolkows (das bis heute nicht in russischer Sprache erschien) ab: "Alles, was in dem Buch über die Verfolgung meines Vaters und die politischen Umstände gesagt wird, entspricht voll und ganz der Wahrheit. Die dort gewählte Sprache erkenne ich zum größten Teil als die meines Vaters wieder." Die Sprache ist gnadenlos zynisch, voll beißendem, trockenem Humor, wenn es um die Stalinschen Repressionen geht, voller Zorn gegen Funktionäre, Apparatschiks und katzbuckelnde Kollegen, voller Liebe und Zärtlichkeit gegenüber ihm Nahestehenden, auch gegenüber einigen Schriftstellern und Komponisten. "Grobsein ist sehr leicht", schreibt Schostakowitsch, "Scharfsein ist bedeutend schwerer... Am schwersten ist es aber, die Wahrheit zu sagen und dabei weder grob noch scharf zu werden." Sehr viele Zeitgenossen Schostakowitschs - heute einer der meistgespielten Komponisten der Welt - tauchen in diesem Buch auf, sehr bekannte und weniger bekannte. (Wie angenehm, dass es am Ende des Buches ein Personenregister gibt.) Geradezu erschüttert hat mich, die ich mich seit Jahrzehnten mit der sowjetischen Nationalitätenpolitik und der Literatur der Völker der Ex-UdSSR beschäftige, die "Geburt" des kasachischen Dichters Dshambul Dshabajew. Schostakowitsch schreibt: "Mir erzählte ein Komponist eine Geschichte - eine ungewöhnliche und zugleich ganz gewöhnliche. Gewöhnlich, weil sie wahr ist. Ungewöhnlich, weil es sich hier um geradezu epochale Gaunerei handelt, der Feder eines Gogol oder E. T. A. Hoffmann würdig. Dieser Komponist arbeitete jahrzehntelang in Kasachstan. Er war ein guter Musiker, hatte seine Ausbildung am Leningrader Konservatorium erhalten, in Steinbergs Klasse, aber später als ich. In Kasachstan machte er eine sehr gute Karriere, war so etwas wie ein `Hofkomponist´. Daher wußte er allerlei, was vor normalen Sterblichen verheimlicht wird. Jeder kennt bei uns den Namen Dshambul Dshabajew. Mein Sohn lernte in der Schule seine Gedichte auswendig, meine Enkel ebenfalls, in der aus dem Kasachischen ins Russische übersetzten Fassung. Sie klingen sehr rührend, die Gedichtchen (...). Ausländische Gäste fanden es entzückend, sich mit ihm fotografieren zu lassen (...). Auch ich fiel tatsächlich auf ihn herein, vertonte einige Verse von Dshambul. Dann stellte sich alles als ein großer Bluff heraus. Dshambul Dshabajew existierte zwar als Person, russische Übersetzungen seiner Gedichte gab es auch, nur - es gab keine Originale. Denn Dshambul Dshabajew war vielleicht ein guter Mensch, aber ein Dichter war er nicht (...). Denn die so genannten Übersetzungen seiner nicht existierenden Gedichte hatten russische Poeten verfaßt, ohne unseren großen Volksbarden überhaupt um Erlaubnis zu fragen, ob sie seinen Namen verwenden dürften. Selbst wenn sie ihn hätten um Erlaubnis bitten wollen, hätten sie es gar nicht gekonnt. Denn diese `Übersetzer aus dem Kasachischen kannten nicht ein kasachisches Wort, und Dshambul***verstand kein Wort Russisch (...). Gebraucht wurden prächtige Oden auf Stalin, Verherrlichung in orientalischer Manier. Und das zu jeder beliebigen Gelegenheit: zum Geburtstag des Führers und Lehrers, zur Verkündigung der Stalinschen Verfassung, zu den Wahlen zum Obersten Sowjet, zum Spanischen Bürgerkrieg und so weiter. Für Panegyriken gab es Dutzende von Anlässen, die der alte Mann gar nicht kennen konnte. Wie hätte er von den `asturischen Bergarbeitern´ erfahren sollen? Und was hätten sie ihm bedeuten können? Darum arbeitete eine ganze Brigade russischer Lyriker für ihn, darunter auch sehr berühmte: zum Beispiel Konstantin Simonow." Es sei ihm nicht gelungen, das durchschnittliche Leben seiner Zeitgenossen in seiner Musik auszudrücken, meint Schostakowitsch. Das sei eine Schwäche. Von einer anderen Schwäche aber wisse er sich absolut frei: Nie habe er versucht, mit seiner Musik den Mächtigen zu schmeicheln. Niemals habe er "getändelt". Nie sei er ihr Liebling gewesen. Und: "Wenn ich das Fazit meines Lebens ziehe, kann ich nicht sagen, daß mein Verhalten besonders heroisch war. Gewiß, auch das bißchen, was ich tun konnte, war keineswegs leicht. Es war auch keine leichte Zeit, nicht die beste der möglichen Varianten."**** Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch***** sind "Psychokrimi, Lebensbeichte und musikalisches Geschichtsbuch der Sowjetunion", schreibt Michael Koball in seiner Einleitung. Und das stimmt! | ||||||
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * "Lady Macbeth von Msenzk" ist eine dramatische Novelle von Nikolaj Leskow, erschienen 1865. Nach sechs Jahren einer tristen mit einem um die dreißig Jahre älteren reichen Kaufmann verliebt sich Katerina Lwowna in ihren jungen Hausknecht Sergej. Sie ergibt sich ihrer Leidenschaft in einem Maße, das die kleinbürgerliche Ordnung ihres bisherigen Daseins augenblicklich sprengt und all ihre menschlichen Bindungen zunichte macht. Wer immer sich ihrer Liebe als Hindernis in den Weg stellt, wird beseitigt... Diese wilde Tragödie der Leidenschaft, in der die Liebe mit elementarer, alle Gesetze missachtender, zerstörerischer Gewalt zum Ausdruck kommt, hat in der Literatur des 19. Jahrhunderts nicht ihresgleichen. ** Maxim Schostakowitsch, der Sohn Dmitri Schostakowitschs, dirigierte zum 100. Geburtstag seines Vaters die 15. und letzte Symphonie. Maxim Schostakowitsch leitete am 8. Januar 1972 auch die Uraufführung des Werkes im großen Konzertsaal des Moskauer Konservatoriums. Die 15 Symphonie "ist ganz anders, benutzt eine andere, ganz neue Musiksprache", sagte er über das Werk seines Vaters. Charakteristisch für Schostakowitschs Spätwerk ist die Ergänzung neuer kompositorischer Ideen durch Zitate aus älteren eigenen und fremden Werken. Durch diese Technik schuf er zuweilen harte Brüche innerhalb des Werkes. *** In seinem "Deutschland-Tagebuch" schreibt Wladimir Gelfand unter dem Datum vom 25.6.1945: "Dshambul Dshambajew ist gestorben. Als beinahe Hundertjähriger. Er hat den Sieg noch erleben können und den Ruhmestag, an dem dieser Sieg von unseren Streitkräften errungen wurde, um nur wenige Tage überlebt." Und in der Anmerkung dazu von der Historikerin Elke Scherstjanoi: "Dshambul Dshambajew (28.2.1846-22.6.1945), kasachischer Volkssänger, ein großer Teil seiner Lieder und Hymnen war Stalin gewidmet." So unausrottbar sind Lügen... **** Mehrere tausend wertvolle Dokumente aus dem Nachlass Schostakowitschs (...) könnten ein Licht auf das wirkliche Verhältnis des sowjetischen Komponisten zur kommunistischen Staatsmacht werfen, sagte der Besitzer des Archivs, Mark Matsov, der Agentur epd. Matsovs Vater, der baltendeutsche Dirigent Roman Matsov war ein enger Freund und Vertrauter Schostakowitschs. - Etwa 700 000 Seiten umfassende Handschriften und etwa 1 500 größtenteils bislang unbekannte Tonaufzeichnungen lagern in Matsovs Wohnung in der estnischen Hauptstadt Tallinn. (...) Ein Teil der Unterlagen sei aus Angst vor dem sowjetischen Geheimdienst KGB in einer Art Geheimsprache geschrieben und müsse erst noch dechiffriert werden. - Fest stehe allerdings, dass die Unterlagen ein ganz neues Licht auf das Leben des Komponisten werfen. `Allgemein gilt Schostakowitsch als Konformist und Feigling, aber das stimmt nicht." sagte Matsov. Sein ganzes Leben lang habe Schostakowitsch vielmehr gegen die Zensur im Kulturbereich gekämpft. Dass in der Zeit des KPdSU-Generalsekretärs Leonid Breschnew schließlich die Zensur bei klassischer Musik ganz abgeschafft wurde, sei maßgeblich ein Verdienst von Schostakowitsch. (Nach "Berliner Zeitung" vom 25.09.06) ***** Der mit zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen geehrte Sänger Thomas Quasthoff erhielt 1996 in Moskau den Schostakowitsch-Preis.
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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Dshambul Dshabajew: der angeblich berühmte kasachische Volksbarde. |
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