"Ach, ich würde noch mehr schreiben, aber auf einmal ist das Tintenfass
verschwunden..." Viele von Charms Geschichten enden pointenlos, viele
mit dem berühmten Schlußsatz "Das ist eigentlich alles." 1937 schrieb
Daniil Charms in sein Tagebuch: "Mich interessiert nur
Quatsch, nur das, was gar keinen praktischen Sinn macht. Mich
interessiert das Leben immer in sehr unsinnigen Erscheinungen." Peter
Urban - verdienstvoller Übersetzer und Herausgeber so interessanter
russischer Autoren wie Tschechow,
Babel,
Gogol, Puschkin,
Turgenjew begegnete
Daniil Charms im November 1964, als die Prager
Literaturzeitschrift "Flamme" zum 50. Jahrestag der
Oktoberrevolution
"ein etwas anderes Bild der russischen Kultur entwarf als das gewohnte:
[es werden Namen genannt] wie Leonid Panteleev,
Anatolij Marienhof, Jurij Lotmann
(...) und eben Daniil Charms". Von der tschechischen Übersetzerin Olga
Mašková erhielt Peter Urban eine
Kopie des Samizdat-Manuskripts, über das er schrieb:" (...) ein
Lachen wie dieses, in Rußlands tiefster
Stalinzeit, in den Jahren der
Schauprozesse - unvorstellbar." Vielleicht ist da sogar die kleine
Geschichte mit dem im weiten Sowjetland nicht erhältlichen (Klo)Papier gemeint:
So tritt denn schließlich alles ein/und es ergibt sich
Folgerichtigkeit./Wie merkwürdig wäre, träten zwei Ereignisse (Auf einmal
gleichzeitig ein./Rätselfrage: Und wenn statt zweier Ereignisse
acht/Seifenblasen einträten?/Antwort: Dann würden wir uns
natürlich hinlegen./Diese Antwort war klar und kurz,/Ein Mensch wurde in
Papier eingewickelt,/Es gibt kein Papier. Der Winter ist da. (13. Januar 1930)
Für wie gefährlich man in der Sowjetunion das Charms´sche
Lachen noch zu Breshnews Zeiten hielt, belegt der Umstand, dass der
Leningrader Literaturwissenschaftler Mejlach, der es gewagt hatte, "diesen
Schandfleck der Sowjetliteratur" im westlichen Ausland auf russisch zu
publizieren, 1985 zu fünf Jahren
Straflager verurteilt wurde.
Alle in Fälle vorgetragenen Texte wurden "für die Schublade
geschrieben, und wir wüßten von der Existenz eines Daniil Charms nichts,
aber auch gar nichts, hätte nicht Jakov Druskin, ein Freund des
Dichters, 1941, während der Blockade Leningrads und nach der zweiten
Verhaftung von Charms, dessen Wohnung aufgesucht, alles Schriftliche in
ein Köfferchen gepackt und dieses Köfferchen nicht mehr aus den Augen
gelassen, unter Lebensgefahr, wie man weiß, und den Nachlaß auf diese
Weise gerettet", schreibt Peter Urban im Booklet zum Hörbuch. 1967
zitierte die Prager "Flamme" Charms Freund Druskin mit diesen Worten:
"In seinen Erzählungen und Gedichten begegnen wir dem, was man das
Absurde, Alogische nennt. Aber absurd und alogisch sind nicht seine
Erzählungen, absurd und alogisch ist das Leben, das er in ihnen
beschreibt... Charms interessierte das Böse, die Wurzel des Bösen im
Menschen. Drei thematische Hauptelemente sind 1. das Leben in seiner
häßlichen Gestalt, 2. die Enthüllung seiner verborgenen,
geheimgehaltenen Seiten, und 3. der selbstgefällige Pseudomensch, der
keine moralischen Grundsätze und Werte kennt - sie durchdringen sich in
seinen Texten manchmal in einem Maße, daß eine Art neuer literarischer
Gattung entsteht, von der man nur schwer sagen kann, ob es sich um eine
Tagebuchnotiz handle, um eine philosophische Betrachtung, um eine
Erzählung oder ein Gedicht. Das Grauen übersteigt hier den Rahmen der
Kunst. Die `Schweinerei´, über die Charms schrieb, war ihm nicht lieb,
sie war für ihn nicht einmal komisch, sie war für ihn nur einfach
grauenhaft." Charms enttäuscht mit seinen Nonsensversen fast jede
Erwartung, die sich auf so genannte Logik gründet. Dr. Angela
Martini-Wonde schreibt in Kasacks "Hauptwerke der russischen Literatur"
vom Widersinn und Un-Sinn in Charms Schaffen, meint aber, dass nicht Sinnlosigkeit und Alogisches entstanden ist.
Der "russische Großmeister des absurden Humors und der Groteskdramatik"
(Rakusa) hieß
ursprünglich Daniil Iwanowitsch Juwatschow. Er wurde 1905 in
Petersburg
geboren, schrieb schon früh Scherzgedichte unter diversen Pseudonymen,
veröffentlichte 1925 seine ersten Texte unter dem Künstlernamen Daniil
Charms und gründete wenige später die Gruppe "Linke Flanke", die 1927 in
"Oberiu" (Objedinenie realnogo Iskusstwa) - Vereinigung der realen Kunst
- umbenannt wurde. Die Auftritte der Gruppe, der auch Alexander
Wwedenskij, Nikolaj Sabolozki und Konstantin Waginow angehörten,
glichen poetischen Aktionen von absurder, dadaistischer Komik. Gemäß
dem Grundsatz, dass die "reale" Kunst weder eine realistische (im Sinne
der einengenden Forderung nach einer allgemeinverständlichen Kunst) noch
eine futuristische (im Sinne der transmentalen Lautexperimente) zu sein
habe, vielmehr Gegenständlichkeit erzeugen müsse durch die Konfrontation
und Kombination der Wortsinne, schufen die Oberiuten die Losung "Die
Kunst ist ein Schrank" und realisierten die Metapher, indem sie Charms
auf einen riesigen Schrank thronend und in absonderlicher Aufmachung -
karierter Gehrock, runde Mütze, ein grünes Hündchen auf die Wange gemalt
- Gedichte vortragen ließen. 1930 wurde diese letzte avantgardistische
Gruppe der Oberiuten verboten "und die Alleinherrschaft des
Sozialistischen Realismus etabliert". (Rakusa) Daniil Charms starb
am 2. Februar 1942 unter ungeklärten Umständen im Gefängnis Kresty in
Leningrad.
Der Zyklus Fälle wird von Peter Urban gelesen. Man spürt:
Hier liest kein Schauspieler, sondern ein Mensch, dem Daniil Charms nahe steht.
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- Jeremej Aipin, Ich höre der Erde zu. Zwei Erzählungen.
- Pjotr Aleschkowski, Stargorod. Stimmen aus einem Chor. Erzählungen.
- Dmitri Bakin, Die Wurzeln des Seins. Erzählungen.
- Nina Berberova, Die Damen aus St. Petersburg. Zwei Erzählungen.
- Iwan Bunin, Liebe und andere Unglücksfälle.
- Anton Čechov, Freiheit von Gewalt und Lüge.
- Anton Čechov, Ein unnötiger Sieg.
- Daniil Charms, Zwischenfälle.
- Irina Denežkina, Komm.
- Andrej Dmitriew, Die Flussbiegung.
- Fjodor Dostojewskij, Meistererzählungen.
- Asar Eppel, Die Straße aus Gras. Erzählungen.
- Anatoli Gawrilow, Zum Besuch von N. Geschichten aus der russischen Provinz.
- Nikolaj Gogol, Petersburger Geschichten.
- Nikolaj Gogol, Meistererzählungen.
- Friedrich Gorenstein, Champagner mit Galle. Erzählungen.
- Maxim Gorki, Meisternovellen.
- Elena Guro, Lieder der Stadt. Prosa und Zeichnungen.
- Alexander Ikonnikow, Taiga Blues.
- Viktor Jerofejew, Männer. Ein Nachruf.
- Wladimir Kaminer, Russendisko.
- Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala.
- Wladimir Kaminer, Mein deutsches Dschungelbuch.
- Christoph Keller, Petersburg erzählt.
- Julia Kissina, Vergiß Tarantino.
- Adelheid Latchinian, Sehnsucht ohne Ende.
Armenische Erzählungen.
- Wladimir Makanin, Der kaukasische Gefangene.
- Maria Marginter/Fyodor Gawrilow, St. Petersburg. Weiße Nächte, kalte Tage.
- Walter Neumann, Eine Handbreit über den Wogen. Baltische Geschichten.
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- Olga Sedakova, Reise nach Brjansk. Zwei Erzählungen.
- Alexander Solschenizyn, Heldenleben. Zwei Erzählungen.
- Stefan Sullivan, Sibirischer Schwindel. Zwei Abenteuerromane.
- Wladimir Tutschkow, Der Retter der Taiga.
- Ljudmila Ulitzkaja, Sonetschka und andere Erzählungen.
Am 03.02.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 27.11.2019.
Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |