Sachbuch REZENSIONEN | |
Gleichbehandlung mit den Juden | |
Ljalja Kuznetsova / Reimar Gilsenbach | Über Zigeuner |
Russlands Zigeuner | |
Ihre Gegenwart und Geschichte BasisDruck Verlag, Berlin 1994, 144 S. | |
Den ersten russischen
Zigeuner lernte ich 1964 in
Kiew kennen: Er
hieß Sascha, war achtunddreißig Jahre alt, immer liebenswürdig, immer hilfsbereit,
immer lustig, immer --- unpünktlich. (Nie mehr hatte ich so gepflegte
Fingernägel wie damals, denn mit der Nagelpflege vertrieb ich mir mein
stetes langes Warten auf Sascha.) Doch ohne Sascha war ich aufgeschmissen, er war
mein Dolmetscher. In Kiew war es auch, als ich vier Jahre später Oleg
kennen lernte, einen ukrainischen Lehrer, der mir zum Abschied eine
Schallplatte mit Liedern russischer Zigeuner schenkte. Seitdem sammle
ich russische Zigeunermusik. "Da singt die Seele, spricht das
Gefühl", so Anton Rubinstein über die Zigeunerlieder. Seit 1964 ging ich, immer wenn ich in
Moskau Aufenthalt hatte, ins 1931
gegründete Theater "Romen", das ab 1940 nur noch in
russischer Sprache spielte. Die Karten besorgte meine Freundin Raissa - es blieb ihr Geheimnis, wie sie die begehrten Eintrittskarten
heranschaffte... Oft begegnete ich Zigeunern in Moskau, einmal ließ ich
mir aus der Hand lesen. Ich erinnere mich, dass mir eine Tochter
geweissagt wurde, die Prophezeiung erfüllte sich. Lange kämpfte ich
darum, in unserer (ostdeutschen) Illustrierten FREIE WELT über
russische Zigeuner schreiben zu dürfen. 1985 endlich traf ich mich mit
der Kelderari-Zigeunerfamilie Demeter, sie lud unseren Fotografen Detlev
Steinberg und mich zu Tisch und Tanz in ihre Wohnung ein. Wir
berichteten über diese Begegnung auf sechs Zeitungsseiten in der Ausgabe
22/85 der Illustrierten FREIE WELT. Wie erstaunt
bin ich, als ich in Russlands Zigeuner gerade den Demeters
wieder begegne (S.25/ S.112/ S.132). Professor Dr. Georgi Demeter ist
Dozent an einer Moskauer Hochschule, sein Bruder Pjotr Demeter ist
Komponist; weiterhin gibt es in dieser Familie einen
Musikwissenschaftler, einige Elektroschweißer, eine Schauspielerin,
einen Geologen, einen Geistlichen, mehrere Lehrer, auch
Modeschöpferinnen.
In Russlands Zigeuner stehen die 58 Fotografien von Ljalja Kuznetsova im Mittelpunkt, aufgenommen in den unendlichen Steppen des Ural, auf dem Basar in Uralsk, auf dem Großen Odessaer Markt, in Kasan, Samara, Moskau... In Schwarz-Weiß zeigen die Fotos das ärmliche Leben der Zigeuner und die üppigen Tafeln zu Festtagen. Es sind gestellte Fotos und Momentaufnahmen, ein Foto wie das andere außerordentlich eindrucksvoll. Um diese hautnahen Aufnahmen machen zu können, zog Ljalja Kuznetsova mit den Zigeunern wochenlang durch die Steppe und lebte deren Leben, schließlich entstammt auch sie als Tatarische Jüdin einem Volk, das ständig vertrieben wurde. Bei der Eröffnung einer Ausstellung mit ihren Fotos in Berlin hörte ich eine deutsche Fotografin sagen: "Ihre Fotografien verbrennen einem das Herz." Der deutsche Schriftsteller Reimar Gilsenbach* wurde 1925 in einer
Siedlung von Öko-Anarchisten geboren; drei Grundanliegen bestimmten
Gilsenbachs Leben (Er verstarb im Herbst 2001.): Seine Plädoyers für die
gefährdete Natur, seine Solidarität mit verfolgten und bedrohten
Menschen, insbesondere mit Sinti und Roma, und sein unbedingtes
Eintreten für Gewaltlosigkeit und Frieden. Er machte das sehr
ansehenswerte Buch Russlands Zigeuner mit seinen fundierten Texten außerdem zu einem sehr
lesenswerten Sachbuch. Er schreibt darüber, wie es den Roma unter den Zaren erging, unter
Stalin und im zerbrochenen russischen Reich. Interessant auch sein
Versuch einer Begriffsbestimmung, wenn er schreibt: "Rom
bedeutet im Romanes Mann, insbesondere Ehemann, Mehrzahl Roma,
weiblich Romni, Adjektiv romani, Adverb romanes.
Diese Begriffe werden jedoch nur für die eigene Ethnie gebraucht, alle
anderen Menschen, alle Nicht-Roma sind Gadsche, Einzahl Gadscho.
- Die Sprache der Roma gehört zu den neuindischen Sprachen, sie wird Romanes genannt oder auch romani tschib, von tschib, ciw,
deutsch Zunge, Sprache. Es gibt viele
ethnisch-soziale Gruppen oder Stämme der Roma, z. B. Kelderari, Lovari,
Lalleri, Manusch, Sinti, die sich wiederum in zahlreiche lokale Gruppen
gliedern. Dementsprechend viele Dialekte des Romanes lassen sich
unterscheiden. In den Ländern der GUS werden mindestens ein Dutzend
Varianten gesprochen oder mehr - je nach Auffassung des jeweiligen Linguisten.- Zigeuner ist eine Fremdbezeichnung für Roma.
Wahrscheinlich leitet sie sich von griechisch athinganoi her (athiggano,
deutsch nicht berühren). Die meisten Roma, wenn auch nicht alle,
lehnen die Bezeichnung Zigeuner ab, sie empfinden sie
als diffamierend, als Schimpfwort.- Von Gadsche wie Ljalja Kuznetsowa wird Zigeuner nicht diskriminierend, nicht verächtlich
gebraucht, eher bewundernd, anerkennend. Zudem hat im Russischen Zygan
keinen so abwertenden Klang wie in der Regel das deutsche Zigeuner." | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de * Von Reimar Gilsenbach erschien 2006 im Westkreuz-Verlag "Wer im Gleichschritt marschiert, geht in die falsche Richtung. Ein biografisches Selbstbildnis", herausgegeben von Hannelore Gilsenbach und Harro Hess.
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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |
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Pflanzenornament - der russischen Luli-Zigeuner. |
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