Belletristik REZENSIONEN

Pawel treibt "ziellos auf dem Meer des Lebens"...

Koreaner in der ehemaligen Sowjetunion
Das Zwiebelfeld
Aus dem Russischen von Walerija Weiser
J&D Dağyeli Verlag, Berlin 2003, 181 S.
 
Eines Tages kommt Pawel in völlig verstaubter Kleidung, ein stotternder Trunkenbold und Vagabund, in eine Sowchose am Rande des Asowschen Meeres und bittet um Saisonarbeit. Man stellt ihn als Wächter des Zwiebelfeldes ein. Er, "mit bodenloser Einsamkeit im Herzen", wirkt wie ein verlorener Mensch, gleichgültig gegenüber sich und der Welt; mit siebzehn Jahren hatte er zu trinken begonnen. "Abgesehen von dem vor Hunger schmerzenden Magen war von dem Menschen, der sich Pawel nannte, wohl nichts übrig geblieben."

Der Krieg hatte ihm die Kindheit geraubt (Er war sechs, als die Deutschen vor Moskau standen.). Die Frau, mit der er zusammen lebte, hatte noch immer einen anderen im Herzen, der kurz vor Kriegsende gefallen war, der blieb ihr "Herr, Zauberer, Hausgeist". Ihr späterer Ehemann, ein Major, betrog sie sofort nach der Eheschließung. Sie ließ sich nach nur einem Jahr gemeinsamen Lebens von ihm scheiden und das (gewollte) Kind abtreiben. Pawel, neun Jahre jünger als sie, war der Dritte dieser inzwischen "finsteren Frau", deren Bestimmung es war, einen Toten zu lieben. "Manchmal betrachtete er sie und fragte sich: Wie konnte das nur passieren? Warum bin ausgerechnet ich mit ihr zusammen?"

Pawels Vater, ein verträumter Büchernarr,  ist ein wunderlicher Philosoph, der die Familie verlässt, um die Menschen zum Guten zu bekehren und - den ein kranker Hund mehr interessiert als sein eigener Sohn. Als Pawel ihn als Erwachsener besucht, können sie nicht mehr zueinander finden. Da Pawel mit dem Bestreben seiner Mitmenschen nach Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung nichts anzufangen weiß, verlässt er, nach einigen Jahren an der Seite der ihm gleichgültigen Frau, Moskau und marschiert "irgendwohin". Unterwegs trifft Pawel Menschen mit "vernarbten Seelen", die auf der Suche nach einem bescheidenen Glück ihr Leben verbrauchen. Da ist "Malvasier" (so etwas wie ein Freund), der ausschließlich mit Salz raffinierte Politur trinkt und daran stirbt; da ist eine kleine Koreanerin, die ihm gefällt; da ist Nina, seiner Wirtin Helferin, die mit ihm schläft ("Ich lebe ja fünf Jahre schon allein und bin nicht tot und auch keine alte Frau."); da ist Shenja aus Tula, die Erntehelferin vom Apfelgarten...

Kims Epos über den ständig umherirrenden Pawel scheint endlos, die lebensfremden Helden sprechen aneinander vorbei und leben, jeder abgekapselt, in einer Welt, in der es keine Hoffnung gibt.

Anatolij Kim wurde 1939 in Kasachstan geboren, bald zogen die Eltern auf die fernöstliche Insel Sachalin, wo er seine Kindheit verbrachte. 1957 ging er nach Moskau, absolvierte 1971 das Moskauer Literaturinstitut "Maxim Gorki"; seit 1973 wird er gedruckt. Er lebt heute in Rjasan. Ich hatte meine erste (unvergessliche) literarische Begegnung mit ihm 1985, als im Ostberliner Verlag Volk und Welt in einer Novitätenkassette Erzählungen von ihm unter dem Titel "Käfig im Fernseher" erschienen. In der Zeitschrift "Sowjetliteratur" 10/1981 schreibt Kim über sich: "Alle meine Vorfahren sind Koreaner, doch lebt bereits die dritte Generation meines Geschlechts in Rußland, wohin es Ende des vorigen Jahrhunderts, also vor mehr als hundert Jahren, übergesiedelt ist. Die russische Sprache, in der ich schreibe, ist für mich die einzige Muttersprache. So hat es sich gefügt." Da ist zu ergänzen, dass es den  Koreanern lange Zeit verboten war, Koreanisch zu sprechen. Gehören seine Eltern zu den 180 000 Koreanern, die (mit Befehl vom 21. August) 1937 aus den an Japan und China angrenzenden Gebieten nach Kasachstan zwangsumgesiedelt worden sind? Die offizielle Begründung für diese Zwangsumsiedlung war die Befürchtung, dass sich japanische Spione unter die koreanisch-stämmige Bevölkerung mischen könnten. Als ich 1988 einige Zeit in Kasachstans Hauptstadt Almaty (damals noch Alma-Ata) weilte, erfuhr ich, dass es den Koreanern erlaubt sei, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren. Doch gleichzeitig hörte ich, dass viele blieben, wo sie waren; die Verschleppten der zweiten Generation hatten sich etabliert. Und zurück nach Korea? Südkorea erlaubt nur Rentnern die Einreise, und nach Nordkorea wollen Kasachstans Koreaner nicht, viele schreckt die wirtschaftliche, wohl auch die politische Lage. Eine Blumenverkäuferin - viele Koreaner haben ein kleines Treibhaus im eigenen Garten - antwortete mir: "Wir sind ja schon mehr Russen als Koreaner."

Anatolij Kim war ursprünglich Maler, der seinen Lebensunterhalt als Bauarbeiter verdiente. Die feine Beobachtungsgabe des bildenden Künstlers prägt das Schaffen des Schriftstellers, auch dieses Buches. Beeindruckend seine Bildhaftigkeit und Exaktheit, die Bedeutsamkeit des geringsten Details, die Farbe, der Geruch. Mich begeistert Kims an Metaphern reiche Sprache, die auch der koreanischen Literatur eigen ist. Aber seine Ornamentalistik hat andererseits auch eine Tradition in der russischen Literatur.

Pawel, der niemals "glücklich gewesen war und (...) sich seit seiner Jugend dafür schämte, wer er war", wird zum unvergesslichen Buchhelden in Anatolij Kims Das Zwiebelfeld.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 13.09.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 22.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Lieber eine Blaumeise in der Hand, als ein Kranich am Himmel.
Sprichwort der Russischen Koreaner

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