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Die Liebe zum Wort | |
Tschingis Aitmatow | Kyrgyse |
Kindheit in Kirgisien | |
Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Friedrich Hitzer Unionsverlag, Zürich 1998, 160 S. | |
1956 erschien Aitmatows erste Novelle "Dshamilja", inzwischen in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt,
auch ins Deutsche, sie machte ihn auf einen Schlag berühmt. Seine
gesammelten Werke, die meisten in viele Sprache übertragen, füllen inzwischen ganze Bücherregale.
Sein jüngstes Buch ist Kindheit in Kirgisien. Es erschien bisher
weder in Aitmatows kyrgysischer Muttersprache, noch in Russisch, nur in
Deutsch.
Der Kyrgyse Tschingis Aitmatow (1928 bis 2008) trat 1990 das Amt eines Botschafters der Sowjetunion in Luxemburg an, wurde 1991, nach Auflösung der UdSSR, der Vertreter der Russischen Föderation, 1994 Botschafter der unabhängigen Republik Kyrgysstan bei der Europäischen Union in Brüssel. Je länger sich sein Aufenthalt hinzog, je heftiger erinnerte sich Aitmatow fernab von Europa an seine Kindheit und Jugend. Er hat nicht nur oft in privatem Kreis davon erzählt, sondern auch vor großem Publikum. Da meist sein neuer Übersetzer dabei war, machte der Aitmatow 1996 nach einer Lesung den Vorschlag, ein Buch daraus zu machen. Autor und Übersetzer gingen für einige Tage in Klausur, Aitmatow erzählte, Friedrich Hitzer zeichnete das Erzählte auf. "Seine Erinnerungen", schreibt Hitzer* in seiner Vorbemerkung zum Buch, "waren nirgendwo nachzulesen", nur hier und da fänden sich in Aitmatows Werken autobiographische Motive. Das stimmt so nicht! Bereits 1971 verfasste Aitmatow "einige Bemerkungen über mich", 1974 als Autobiographie (im Ostberliner Verlag Volk und Welt) herausgegeben. 1983 erschien in einem Novellenband des (Verlages Volk und Welt) auch ein fast einhundertfünfzig Seiten umfassendes Kapitel von Aitmatow "Über Literatur" und über sich. Auch Irmtraud Gutschke, die Aitmatow einige Male interviewte und sein kyrgysisches Geburtsdorf Scheker besuchte, zitierte bereits 1986 in ihrem Buch "Menschheitsfragen, Märchen, Mythen. Zum Werk Aitmatows" (Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig) viele Aussagen von Aitmatow, auch über seine Kindheit und Jugend. Allein in diesen drei Veröffentlichungen begegnen uns schon Aitmatows Großvater mit seinem handwerklichen Geschick und sprichwörtlichem Pech, ebenso die prächtige, kluge und schöne Großmutter, die ihm Märchen und Träume erzählte und der er die Liebe zum Wort verdankt, auch über seinen Vater, einem der ersten kyrgysischen Kommunisten, der 1937 den Repressalien Stalins zum Opfer fiel, schreibt er, auch über seine gebildete, kranke, aber tapfere Muter, die danach vier Kinder allein durchbringen musste; Aitmatow erzählt auch bereits, wie er als fünfjähriger Dolmetscher sein erstes Honorar (einen Fleischbrocken) bekam, dass jeder im dörflichen Ail seine Vorfahren bis ins siebente Glied zu kennen hatte, wie er mit vierzehn Jahren Erster Sekretär des Dorfsowjets wurde, dass er die "schwarzen Papiere" - die Todesnachrichten von der Front - austragen (vorlesen und übersetzen) musste, wie er Kriegssteuern eintrieb, wie er Zootechnik studierte und als Oberviehzüchter arbeitete... Manches in Kindheit in Kirgisien ist etwas ausführlicher geschildert (der gewaltsame Tod des Vaters, eines Parteiarbeiters und Hörers am Moskauer Institut der Roten Professur), manches in anderem Licht dargestellt (die Kritik von Partei und Medien an einigen von Aitmatows Werken), das eine oder andere auch merkwürdig anders beschrieben (wie man Aitmatow zum 1. Sekretär des Dorfsowjets machte), einiges ist neu: der Bericht über die Entstehungsgeschichte einiger Werke und das kritische Echo, das sie - meist wegen Verletzung von Tabus - hervorriefen. Und es gibt mehr oder weniger neue bedeutsame Lebensepisoden, derer sich der Siebzigjährige erinnert als seien sie gestern passiert: die dramatische Geschichte, wie ein Schamane ihn von Zahnweh befreite, die Jagd auf Füchse, die Begegnung mit Wölfen, wie zu Sowjetzeiten das islamische Volk der Kirgisen gezwungen wurde, Schweine zu züchten... Zwei Episoden sind besonders bewegend: In der einen ist der fünfzehnjährige Aitmatow in blinder Wut bereit, die Diebe zu ermorden, die seiner Familie die einzige Kuh gestohlen haben. Die andere Geschichte handelt von seiner Begegnung mit einem Landstreicher (Deserteur?) in einsamer Gegend mit Satteltaschen voller Geld - der von Aitmatow eingetriebenen Kriegssteuer. Der heruntergekommene Mann verlangt von Aitmatow die Tasche, weil er darin Essbares vermutet. Aber der Fünfzehnjährige reitet, ohne ein Wort zu sprechen, davon, um das Geld zu retten. Dass er keine Möglichkeit hatte, dem Älteren, dem Hungernden, zu erklären, warum er sich so mitleidslos verhielt, quält ihn noch bis auf den heutigen Tag - über ein halbes Jahrhundert später. Hitzer versucht, den Leser auf das Buch einzustimmen, indem er schreibt, dass es keine geschriebenen, sondern erzählte Geschichten sind, wiedergegeben in der Tonlage, die Aitmatow selbst in der Begegnung mit dem Publikum vorzieht. Bei aller Farbigkeit: Tschingis Aitmatow ist ein besserer Schreiber als Erzähler. An zahlreichen Stellen wirkt der Text (oder die Übersetzung?) recht gestelzt, zum Beispiel wenn es heißt: "Die Jagd war sein Beruf, dank dessen die Familie mehr oder weniger prosperierte." Im Anhang des Buches ganz neu bisher verschollene Rechenschaftsberichte des Oberviehzüchters Aitmatow über Rekordkühe, deren Milchleistung und ihr Futterverhalten aus den fünfziger Jahren, gefunden in der Kirgisischen Akademie der Wissenschaften, und "Beschwörungen" des Gewitters, der Berge, des Neumondes, des Sämanns. "Eine Beschwörung", sagt Aitmatow, "ist Gleichnis und Gelöbnis, Auftrag und Botschaft." Diese Beschwörungen sind ein Geschenk Aitmatows für alle, die Deutsch lesen. Ich will Hitzers Verdienst um Kindheit (und Jugend) in Kirgisien (und Russland) nicht schmälern, aber es hätte doch wenigsten zum guten Ton gehört, wenn sich der Bayer im Ostberliner Verlag Volk und Welt zu gegebener Zeit über bereits Erschienenes zum Thema sachkundig gemacht hätte. | |
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de Friedrich Hitzer, Wolfratshausen, schreibt am 31.12.2000: Leserbrief eines Nicht-Bayern an eine strenge Preussin:
Gisela Reller
schreibt am Ende ihrer Besprechung: "... aber es hätte doch wenigstens
zum guten Ton gehört, wenn sich der Bayer im Ostberliner Verlag Volk und
Welt zu gegebener Zeit über bereits Erschienenes zum Thema sachkundig
gemacht hätte." Ein Bayer, der ich nicht bin, dürfte zu solch einer
strengen Belehrung aus Berlin sagen: hintervotzige Saupreißn!?
Als Sauschwob - so nennen manche Schweizer die Dütsche - frage
ich zweifelnd: Ist die Reller wirklich eine Preußin? Sie lädt scharf und
trifft nicht... - Die Rezensentin hätte sich ihre so penibel
erscheinenden Vergleiche ersparen können. Dass ich sogar in ihrem
Sinne sachkundig bin, ist ihr wohl entgangen. Im Band Karawane des
Gewissens, herausgegeben von Friedrich Hitzer im Unionsverlag, Zürich
1988, ist beim Impressum zu lesen: "Die Übernahme der Übersetzungen von
Charlotte Kossuth erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Volk
und Welt, Berlin / DDR." Die Titelei des Buches führt an: "Aus dem
Russischen von Friedrich Hitzer und Charlotte Kossuth". Diese Ausgabe
von "Autobiographie, Literatur, Politik", von mir besorgt, enthält so
manche Materialien, die ich - nach Auffassung von Gisela Reller -
angeblich nicht kenne. Im Nachwort "Zur Auswahl" gehe ich speziell auf
diese Leistungen ein - erbracht durch feste und freie Mitarbeitende des
Verlags Volk und Welt. Bei den Lesereisen mit Tschingis Aitmatow
(kontinuierlich seit 1985, also nicht erst nach der Wende!) hebe ich in
allen deutschsprachigen Regionen öffentlich hervor, welche Verdienste
die Kolleginnen und Kollegen um diesen bedeutenden Verlag für das Ouevre
Aitmatows in deutscher Sprache haben. Dies gilt auch für die Pflege des
Werkes vor und nach der Wende durch den Unionsverlag. Es ist ein Glück,
dass die Leitung dieses eigenständigen Schweizer Verlags die kleinlichen
Ossi-Wessi-Zänkereien um die Werte der Literatur vor und nach dem Fall
der (physischen) Mauer nicht mitmachte. - Dass Tschingis Aitmatow auf
seine Weise über Leben und Werk Auskünfte erteilt, gilt auch für den
Band Kindheit in Kirgisien. Der Stellenwert von Erinnerungen
ändert sich bei Autoren seiner Generation und Herkunft, nachdem die
UdSSR als Gemeinschaft von nicht souveränen Teilrepubliken und Völkern
1991 inszeniertes Gelage der Slawen-Präsidenten aus Moskau, Minsk und
Kiew in einer Sauna, mitten im Forst von Beloweschsk. Für Tschingis
Aitmatow kam dieses Ende schon in den Tagen des August 1992, als er
erfuhr, wie und wo sein Vater Torekul 1937 als "Feind des Volkes"
ermordet wurde. Aus diesem Grund erweiterte er das Manuskript im Dialog
mit dem Japaner Daisaku Ikeda, das als Buch den Titel
Begegnung am
Fudschijama erhielt (Unionsverlag 1992). Ich zitiere aus dem
Schlusskapitel "Nach dem August-Putsch": "Unmittelbar zuvor haben sich
Verwandte und mir nahestehende Menschen wie auch die Regierung der
Republik Kirgisien an mich gewandt und mir aufgetragen, die Umbestattung
der stalinschen Opfer im Massengrab, unter denen auch die Überreste
meines Vaters entdeckt wurden, öffentlich vorzunehmen." Bekanntlich
kamen die Putschisten nicht durch, Tschings Torekulowitsch konnte von
Westeuropa über Moskau nach Bischkek fliegen und seine Rede der
Erinnerung und Mahnung halten. - Als wir uns 1997 an die Arbeit machten,
die 1998 als Kindheit in Kirgisien erschienen ist, war zunächst
die Rede von einer Neuauflage aller Beiträge im Band Karawane des
Gewissens, freilich ergänzt und überarbeitet. Tschingis Aitmatow
wolle das nicht haben. Mir war aus zahlreichen Publikationen - zumeist
Gesprächen mit dem Autor, ob im östlichen oder westlichen Europa -
bekannt, wie reserviert Aitmatow zu autobiographischen Äußerungen stand
(sie bleiben bis heute räumlich und zeitlich weltweit verstreut). Eine
Überarbeitung des bereits bruchstückhaft Gesagten war ausgeschlossen.
Ich hörte ihm einfach zu, wie er seine Geschichten aus dem Stegreif "wie
zum ersten Mal", älter und freier als zuvor, erzählte. Hier ist
Tschingis Aitmatow wie der kirgisische Akyn, der immer wieder bekannte
Motive aufgreift und mündliche, im Moment entstehende Varianten
wichtiger findet als die zuvor geschriebenen. Bis heute erlebe ich, wie
er bekannte Motive, speziell bei der Vorstellung der Kindheit in
Kirgisien, nuanciert - seine "Lesungen" sind freie Erzählungen, vom
Blatt liest er lediglich die "Beschwörungen" (Übersetzungen Aitmatows
von kirgisischen Vorlagen). Im übrigen hat der Autor die von mir
aufgezeichneten Erzählungen abschreiben lassen und redigiert, bevor ich
sie mir fürs Übersetzen vornahm. Die Anordnung überließ er mir und dem
Lektorat. - Gisela Reller irrt sich also mehrfach, auch wenn sie, eher
ungewollt, ein wichtiges Thema anspricht: Tschingis Aitmatow wird in der
ganzen Welt gelesen und hat sich überall auch autobiographisch geäußert.
Dabei trägt er keine fertige Biographie mit sich, die er so aufsagt, wie
sie in Fragmenten vor über zwanzig Jahren (unter anderem in Berlin/DDR)
ediert wurde. Seine Autobiografica stehen in vielfachen Spannungen zu
einer Zeit von Brüchen und Rissen. Tschingis Aitmatow versuchte im
letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts solche Risse - im Dialog erzählend
- zu kitten. Vielleicht wird das noch klarer, wenn einmal das Buch der
Erinnerungen (Rauan, Almaty 1996) auch auf deutsch vorliegt, das zunächst
als Dialog zwischen den beiden Klassikern der Gegenwartsliteratur in
Zentralasien aufgezeichnet wurde - zwischen dem Kirgisen Tschingis
Aitmatow und dem Kasachen
Muchtar Schachanow, sie unterhielten sich in
ihrer jeweiligen Muttersprache und ließen ihre "Beichte am Ausgang des
Jahrhunderts" (fast 400 bedruckte Seiten) ins Russische übersetzen. Viel
davon wäre vor 1991 kaum zu veröffentlichen gewesen; es enthält einige
völlig neue Autobiografica im Kontext des schon Vertrauten. - Karin
Wieland hat eine "Biographie der literarischen Werke und publizistischen
Arbeiten von Čingiz Ajtmatov" veröffentlicht (Russica Palatina 30,
Heidelberg 1999). Auf über 136 Seiten sind hier die Titel aus dem
Kirgisischen ins Russische angegeben, sowie russische Originale, die
Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche, auch scheinbare
Wiederholungen; die übrigen Titel (veröffentlich im Index Translationum,
Bibliographie der UNESCO) würden jeden Rahmen sprengen, vor allem die
Titel Aitmatows in der turksprachigen Welt, die bis heute in Europa so
gut wie unbekannt sind. Gisela Rellers angestrengter Vergleich zwischen
dem, was bei Volk & Welt, Berlin/DDR, vor der Wende entstanden ist und
sich als autobiographisches Vademecum zum frühen Ouevre und Leben Aitmatows im Buch
Kindheit in Kirgisien fortsetzt, ist also wenig
ergiebig, es sei denn, Ossi will Wessi - leicht abgewandelt: strenge
Preußin dem Bayern - am Zeug flicken.
Friedrich
Hitzer, Wolfratshausen, schreibt am 29.10.2003:
Sie gaben mir Ihre
Visitenkarte - jetzt sah ich mir Ihre Site an. Gratuliere...
Beste Grüße Friedrich Hitzer
* Der Übersetzer Friedrich
Hitzer starb am 15. März 2007.
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Am 10.10.2000 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 17.11.2019. Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. | |
Etwas zu sagen, ohne nachzudenken, heißt sterben, ohne krank gewesen zu sein. | |
Sprichwort der Kyrgysen |
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